Russland und Afrika, Russland in Afrika
(Red.) Während mehr und mehr afrikanische Länder versuchen, sich von ihren ehemaligen europäischen Kolonialherren zu emanzipieren, versucht Russland seinerseits, davon zu profitieren, dass es in Afrika nie als Kolonialmacht aufgetreten ist. Bereits gehören ja zwei vor allem auch wirtschaftlich wichtige afrikanische Länder, Südafrika und Ägypten, zur Organisation BRICS. Unser Korrespondent in Moskau, Stefano di Lorenzo, wirft einen Blick auf die Beziehungen Russland-Afrika. (cm)
Auf der uns vertrauten Weltkarte, der sogenannten Mercator-Projektion, sieht der gesamte afrikanische Kontinent in der Mitte der Karte aus, als ob er kleiner als Russland, das größte Land der Welt, wäre. Diese Projektion scheint aber dem Norden der Welt einen zu großen Vorteil zu geben. Wenn man die notwendigen Korrekturen an der Karte vornimmt, stellt sich heraus, dass die tatsächliche Ausdehnung Russlands ungefähr der Größe Nordafrikas entspricht, also des Teils Afrikas nördlich des Äquators, der sich vom Roten Meer bis zum Atlantischen Ozean erstreckt. Dies verdeutlicht noch mal das bekannte Problem der Karte und des Territoriums. Der Schein trügt, wie fast immer.
Genau vor einem Jahr, Ende Juli, fand in Sankt Petersburg der Russland-Afrika-Gipfel statt, das zweite Treffen dieser Art. Das erste war im Jahr 2019 gewesen. 2024 hingegen wird es ein Partnerschaftsforum Russland-Afrika im November geben. An dieser Veranstaltung werden die Außenminister aller von den Vereinten Nationen anerkannten afrikanischen Staaten teilnehmen.
Russland stellte bis vor einigen Jahren eine Macht dar, die während der 1990er Jahren stark geschwächt zu sein schien, ja fast dem Untergang geweiht war. Heute schafft es Russland aber, eine wahrhaft globale Politik zu betreiben, wie nur wenige andere Nationen in der Welt, die sich unabhängig bewegen und durch den weiten Ozean der globalen Geopolitik navigieren können.
Wirtschaftlich gesehen kann Afrika nur ein geringes Gewicht haben. Es ist der ärmste aller Kontinente und viele könnten alleine aus diesem Grund dazu geneigt sein, auf Afrika herabzuschauen. Der gesamte afrikanische Kontinent hat ein Bruttoinlandsprodukt von knapp 3 Billionen Dollar, was etwa dem von Frankreich entspricht. Ein Wert, der sich auf 8 Billionen erhöht, wenn man ihn an die Kaufkraftparität anpasst. Wäre ganz Afrika ein vereinigtes Land, würde es in der Liste der Länder nach BIP an vierter Stelle zwischen Indien und Japan stehen. Doch in der internationalen Politik geht es nicht nur um Geschäfte und Wirtschaft. Mit 54 verschiedenen Ländern ist Afrika nach wie vor der Kontinent mit den meisten Ländern, verglichen mit 47 in Asien und 43 in Europa. Afrika bleibt ein wichtiger Ort.
Viele europäische Länder haben ihre Kolonialreiche in Afrika gehabt, manche mehr, manche weniger. Nicht so Russland, dessen Versuche, im späten 19. Jahrhundert eine Kolonie in Afrika zu gründen, ausgesprochen kurzlebig waren. Heute will sich Russland in Afrika deshalb als antikoloniale und antiimperialistische Macht präsentieren. Eine Rolle, die Russland schon in den Jahren des revolutionären Kommunismus sowjetischer Prägung zu übernehmen begann. „Die Partnerschaft unseres Landes mit Afrika hat starke und tiefe Wurzeln und war immer von Stabilität, Vertrauen und gutem Willen geprägt. Wir haben die afrikanischen Völker in ihrem Kampf um die Befreiung von kolonialer Unterdrückung stets unterstützt, bei der Schaffung eines Staates geholfen und ihre Souveränität und Verteidigungsfähigkeit gestärkt“, so schrieb der russische Präsident Wladimir Putin in einem Artikel, der letztes Jahr anlässlich des Russland-Afrika-Forums veröffentlicht wurde.
Russland und Afrika scheinen zwei sehr weit voneinander entfernte und in vielerlei Hinsicht absolut gegensätzliche Welten zu sein. Doch eine Ironie der Geschichte ist, dass Russlands größter Dichter, Alexander Sergejewitsch Puschkin, zum Teil afrikanischer Herkunft war, sein Urgroßvater stammte aus Afrika. Abraham Petrowitsch Hannibal (1696-1781) war von einem Mitglied der großen Adelsfamilie Tolstoi in Konstantinopel als Sklave gekauft worden, wurde dann Pagen von Zar Peter dem Großen. Später machte er Karriere und stieg bis zum Gouverneur von Reval (Tallinn), dem heutigen Estland, auf. Nicht so schlecht für einen schwarzen Mann im achtzehnten Jahrhundert, der nach Russland als Sklave gekommen war.
Russland und Afrika heute
In diesen Tagen findet in der Bibliothek für Ausländische Literatur, einer der wichtigsten in Moskau, das Festival der Kulturen afrikanischer Länder statt. Zwei Wochen sind Afrika gewidmet, mit zahlreichen Präsentationen, Ausstellungen und Vorträgen wie „Puschkins Nachkommen in Südafrika“, „Libyen – ein Zeuge der Zivilisation“ und „Beziehungen, Ehe und Familie im Verständnis von Afrikanern und Russen“, um nur einige zu nennen.
Heute besteht die afrikanische Gemeinschaft in Russland hauptsächlich aus Studenten. Es gibt fast 35.000 Studenten aus den verschiedensten afrikanischen Ländern, ihre Zahl steigt weiter. Die meisten von ihnen, etwa 15.000, kommen aus Ägypten, einem Land, das von vielen — oft auch von den Ägyptern selbst — nicht mal als „echtes“ Afrika angesehen wird. Es folgen Marokko (etwa 3.000 Studenten) und dann in abnehmender Zahl Nigeria, Algerien und Simbabwe. Studenten aus anderen Ländern kommen in geringeren Zahlen.
Zum Vergleich: In Deutschland gibt es heute etwa 650.000 Menschen, die in Afrika geboren sind.
„Uns geht es gut, wir mögen es hier in Russland“, sagen drei Medizinstudenten, ein Junge und zwei Mädchen aus Senegal, die seit einigen Monaten in Moskau sind.
„Wir lernen immer noch Russisch, wir haben noch keine echten russischen Freunde. Aber im Allgemeinen scheinen die Leute nett zu sein und behandeln uns mit Respekt.“
Besondere Beziehungen
Der Beginn der offiziellen diplomatischen Beziehungen zwischen Russland und Ägypten liegt 80 Jahre zurück. Die Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern hat sich in den letzten Jahren intensiviert. Ägypten ist nach wie vor das bei weitem bevölkerungsreichste unter den arabischen Ländern, mit einer Bevölkerung von 116 Millionen Menschen. Viele davon sind sehr jung. Noch 2010, vor 14 Jahren, betrug die Bevölkerung Ägyptens nur 87 Millionen Menschen, also fast 30 Millionen weniger als heute, was für einen rasanten demographischen Aufschwung spricht.
Im Januar dieses Jahres wurde in Ägypten die letzte Phase des Baus eines Kernkraftwerks in der Nähe von der Stadt El Dabaa gestartet. Das Kraftwerk wurde mit russischem Know-how errichtet und es wird das erste Kernkraftwerk in Ägypten sein. Gebaut wurde es unter maßgeblicher Beteiligung von ROSATOM, dem staatlichen russischen Kernenergiekonzern. Der größte Teil der Kosten für den Bau des Kernkraftwerks wurde direkt von Russland finanziert, und mit einem Darlehen, dessen Rückzahlung Ägypten über die nächsten 22 Jahre tätigen wird.
Der russische Präsident Putin pflegte herzliche Beziehungen zu seinem ägyptischen Amtskollegen Abdel Fattah el-Sisi, noch bevor der ehemalige Verteidigungsminister und Oberbefehlshaber der ägyptischen Streitkräfte nach einem Staatsstreich vor einem Jahrzehnt an die Macht kam.
Seit dem 1. Januar 2024 ist Ägypten offiziell Mitglied der BRICS-Organisation. BRICS ist mittlerweile zu einer Abkürzung geworden, die nicht mehr alle Länder umfassen kann, die der Organisation angehören, da diese immer mehr werden.
Ein weiteres wichtiges Land ist natürlich Südafrika, eines der Gründungsmitglieder der BRICS-Organisation, dem Club der wirtschaftlich aufstrebenden Länder, deren Gewicht in der Welt von Jahr zu Jahr zunimmt. Das BRICS-Forum, das in diesem Jahr in Kasan (Russland) stattfindet, wurde im vergangenen Jahr von Südafrika ausgerichtet. Es ist das afrikanische Land mit der größten Volkswirtschaft, gemessen am reinen BIP. Die Beziehungen zwischen Russland und Südafrika sind heute eng. Historisch hat es sich so ergeben. Die Sowjetunion hatte den Afrikanischen Nationalkongress (ANC) unterstützt, der als Befreiungsbewegung während der Apartheidjahre begann, danach wurde der ANC zur Regierungspartei, sie regiert das Land seit 1994.
„Südafrika gilt als einer der wichtigsten internationalen Akteure weltweit. Moskau ist sich darüber im Klaren, dass Pretoria vielfältige und vielschichtige Interessen hat, so dass Russland nicht erwarten kann, dass sich Südafrika einem antiwestlichen Bündnis anschließt. Aber als eine Nation, die ihre unabhängige Linie behauptet, trägt Südafrika zur allgemeinen Überholung des internationalen Systems in Richtung Polizentrismus bei“, sagt Fyodor A. Lukyanov, Professor und Chefredakteur der russischen Zeitschrift «Russia in Global Affairs».
Auch Putin sprach von der „traditionell [engen] Zusammenarbeit auf der Weltbühne und [der entschlossenen] und [konsequenten] Verteidigung der Interessen afrikanischer Länder auf internationalen Plattformen durch die UdSSR und dann Russland“.
Aber es geht um mehr als nur Diplomatie…
Der arabische Frühling 2011 schien einen neuen Kurs für die Geschichte der nordafrikanischen Länder vorgegeben zu haben. Die Ergebnisse blieben jedoch weit entfernt von den Erwartungen. Die in Europa so romantisch verklärten revolutionären Aufstände, die zum Sturz der autokratischen Regime in Tunesien, Ägypten und Libyen geführt hatten, setzten nicht den lang ersehnten Demokratisierungsprozess in Gang, auf den viele gehofft hatten.
Angeblich soll die gewaltsame Beseitigung und anschließende Ermordung des ehemaligen libyschen Staatschefs Muammar Gaddafi Putin und seine Sicht auf die internationale Politik tiefgreifend beeinflusst haben. Gegen Ende des Jahres 2011 sah sich die russische politische Elite sogar mit einem Revolutionsversuch im Vorfeld der Wahlen 2012 konfrontiert. Es handelte sich um eine potentielle Revolution, in der die russische Führung — zu Recht oder zu Unrecht — die Hand des Westens sah, genau wie beim arabischen Frühling. Die begeisterte Reaktion des Westens auf den arabischen Frühling hatte Russland die Grenzen der Diplomatie, des Dialogs und der friedlichen Koexistenz mit dem Westen aufgezeigt.
Das Scheitern des arabischen Frühlings in den arabischen Ländern steht nicht in direktem Zusammenhang mit der Instabilität so vieler afrikanischer Länder südlich der Sahara. Doch die Hoffnung auf eine schnelle Demokratisierung der arabischen Gesellschaften in Nordafrika, die zum Vorbild für den Rest des Kontinents werden sollten, erwies sich als illusorisch. Und der Bürgerkrieg in Libyen und das daraus resultierende Machtvakuum führten unmittelbar zu einem starken Anstieg der Migrationsströme aus Afrika. Der libysche Staatschef Gaddafi hatte mit Europa Vereinbarungen zur Eindämmung der Migration über die Mittelmeerroute getroffen. Die libyschen Nachfolgeregierungen, die vom Chaos des Krieges überwältigt waren, erwiesen sich als unfähig, dasselbe zu tun.
Zwischen 2019 und 2023 kam es in vielen Ländern der Sahelzone, der Region südlich der Sahara vom Sudan bis Senegal, zu zahlreichen Staatsstreichen. Darauf folgten oft innerhalb weniger Monate weitere Gegenputsche und gescheiterte Putsche, wie zum Beispiel in Burkina Faso. In vielen dieser Länder, insbesondere in Mali und Niger, ist die Präsenz der russischen paramilitärischen Miliz Wagner bedeutend und wichtig geworden.
Wagner wurde nach dem gescheiterten Aufstand im vergangenen Juni von Russland praktisch verbannt. Viele Wagner-Kämpfer wurden vom russischen Verteidigungsministerium übernommen, andere hingegen verlagerten ihre Aktivitäten nach Afrika. Dort nahmen sie in einer Art Rebranding den Namen Afrika-Korps an.
Nach den Putschen wurde der Präsenz amerikanischer und französischer Soldaten in Mali, Niger und Burkina Faso ein Ende gesetzt. An ihre Stelle traten die sogenannten Afrika-Korps. Heute bilden die Afrika-Korps eine wichtige Präsenz in den drei oben genannten afrikanischen Staaten, die im September 2023 die sogenannte „Allianz der Sahelstaaten“ gegründet haben.
Russland mag derzeit kein riesiger Akteur in Afrika sein, sein Einfluss ist nicht vergleichbar mit dem (vor allem kommerziellen) Einfluss Chinas, eines Staates mit weitaus größeren wirtschaftlichen Mitteln als Russland. Oder mit dem Einfluss, den Frankreich, die ehemalige Kolonialmacht, bis vor kurzem in Afrika hatte. Aber alles deutet darauf hin, dass Russlands Macht in Afrika in den kommenden Jahren zunehmen wird.
„Die Sahelzone ist ein Gebiet, in dem sich die meisten Veränderungen vollziehen, wenn es darum geht, ein neues afrikanisches Design zu entwerfen – was positive und negative Seiten hat. Russland wird plötzlich um Hilfe und Unterstützung gebeten, was schon lange nicht mehr der Fall war. Die Veränderungen in der geopolitischen Landschaft bieten Russland neue Möglichkeiten. Diese werden politisch mehr erkundet als in wirtschaftlicher Hinsicht, die Risiken sind offensichtlich. Aber das russische Streben nach einem anderen internationalen System zeigt sich dort am deutlichsten, da die Länder der Region versuchen, ihr Schicksal selbst zu ändern“, so Fyodor A. Lukyanov.