Die Ankündigung des neuen deutschen Bundeskanzlers Friedrich Merz, die deutsche Bundeswehr müsse wieder die stärkste Armee Europas werden, ist mit ein Grund Russlands, die Ziele in der Ukraine – kein NATO-Beitritt der Ukraine und militärische Neutralität – zu erreichen, bei dieser Haltung Deutschlands nun eben mit militärischem Durchhaltewillen. (Screenshot)

Russland ist nach wie vor entschlossen, in der Ukraine zu gewinnen

(Red.) Die USA haben seit 1823 ihre Monroe-Doktrin, sie dulden keine Einmischung in ihre Politik. Mit Verweis auf diese Monroe-Doktrin hat Kennedy 1962 die Sowjetunion gezwungen, ihre Raketenbasen in Cuba abzubauen. Russland aber wird eine ähnliche Abwehr-Haltung nicht zugestanden, es darf sich gegen US-Raketenbasen nahe seinen Grenzen und gegen zunehmende NATO-Interoperability in der Ukraine nicht wehren. Im Gegenteil, Russland sollte zerstückelt und zerstört werden, so die Politik des Westens. Das stärkt nun aber den inneren Zusammenhalt in Russland. Unser Korrespondent in Russland, Stefano di Lorenzo, zeigt auf, wie im Innern Russlands argumentiert wird. (cm)

Der Krieg in der Ukraine hat alle Prognosen überdauert. Donald Trumps Versprechen, „den Krieg innerhalb von 24 Stunden zu beenden“ und ein Abkommen mit Moskau zu schließen, wurde nie umgesetzt. Russland war nicht bereit, einen Waffenstillstand zu akzeptieren, der die Probleme — vor allem die Frage der Neutralität der Ukraine —, die überhaupt erst zum Krieg geführt hatten, nicht lösen würde. Europa hingegen lehnte alle Gespräche mit Russland grundsätzlich ab und entschied sich für die Strategie, „Russland an den Verhandlungstisch zu zwingen“, indem es weitere Waffen in die Ukraine lieferte, ohne bereit zu sein, über irgendetwas Substanzielles mit Russland zu verhandeln. Wenn das Jahr 2025 mit einem Funken Optimismus begann, dass der Konflikt bald beendet sein könnte, dann erscheinen jetzt im Herbst diese Hoffnungen naiv und sind fast vollständig verschwunden. Und in Russland gibt es kaum Anzeichen für eine Kriegsmüdigkeit: Das Land scheint entschlossen wie eh und je, weiterzukämpfen und zu gewinnen.

Ein Kampf ums Überleben

Woher kommt diese Entschlossenheit? Im Laufe der Jahre haben viele Analysten innerhalb und außerhalb Russlands versucht, die Haltung Moskaus zu erklären. Mehrere wiederkehrende Themen dominieren den russischen Diskurs: die existenzielle Bedrohung von außen, Russland als einzigartige Zivilisation, die Forderung, individuelle Belange dem kollektiven Ziel unterzuordnen, das Bild des Präsidenten als Verkörperung des nationalen Willens und die Vorstellung, dass abweichende Meinungen in Zeiten der Gefahr nur innerhalb enger Grenzen toleriert werden dürfen.

Die Vorstellung, dass Russland nicht um Territorium, sondern um seine bloße Existenz kämpft, prägt fast jeden Aspekt der nationalen Debatte. Um zu verstehen, wie tief diese Vorstellung verwurzelt ist, reicht es, sich ein wenig in der russischen Presse umzuschauen.

In einem Artikel mit dem Titel „Sonst wird Russland nicht überleben: Warum unser persönliches ‚Ich‘ sich im gemeinsamen ‚Wir‘ auflösen muss“ erklärt der Schriftsteller Ilja Ignin: „Der Westen hat uns den Krieg erklärt — einen Vernichtungskrieg. Es ist ein Krieg um den Machtwechsel, um die Auslöschung unserer Erinnerung, unseres Glaubens, unseres Landes von der Weltkarte.“ Seine Schlussfolgerung ist eindeutig: „Nur ein Monolith wird überleben — ein Volk, das sich als Ganzes versteht.“ Und weiter: „In einem solchen Krieg kann man sich nicht hinter dem Rücken eines anderen verstecken. Man kann ihn nicht aussitzen.“

Es geht nicht mehr nur um die Ukraine, sondern um den Erhalt der russischen Nation gegen einen kollektiven Westen, der entschlossen ist, die russische Nation auszulöschen. Aus russischer Sicht wäre daher ein Ende des Krieges ohne das Erreichen der 2022 festgelegten strategischen Ziele eine Niederlage für Russlands. 

Deutschland als historischer Feind

Innerhalb dieser zivilisatorischen Interpretation des Konflikts nimmt Deutschland einen zentralen und emotional aufgeladenen Platz ein. Im russischen politischen Diskurs ist Deutschland zum symbolischen Kern der westlichen Bedrohung geworden — sowohl aufgrund seiner materiellen Kapazitäten als auch aufgrund seiner historischen Resonanz.

In einem Artikel in der Zeitung Argumenty Nedeli mit dem Titel „Wer ist als Nächstes dran, aus dem Berliner Führerbunker in die Hölle zu fahren?“ ist der Vergleich eindeutig: Der Autor stellt die heutigen deutschen Politiker den Geistern des nationalsozialistischen Deutschlands gegenüber. Die Wiederaufrüstung Deutschlands, sein Bestreben, die stärkste Armee Europas wieder aufzubauen, wird durch das Prisma der Vergangenheit interpretiert: die Wehrmacht, die Operation Barbarossa, das Trauma von 1941. Aus russischer Sicht wird die Remilitarisierung Deutschlands als Rückkehr derselben alten Gefahr angesehen.

Der Autor des Artikels schreibt: „[Putin] schenkte Deutschland [in seiner Valdai-Rede] große Aufmerksamkeit, denn ohne Deutschland mit seiner geografischen Lage, seiner Bevölkerung, seiner Wirtschaft und seinen Finanzen ist keine Invasion Russlands, keine militärische Aktion möglich.“

Als der russische Präsident Putin Anfang Oktober 2025 vor dem Valdai-Diskussionsclub sprach, griff er diese Themen auf. In seiner fast dreistündigen Rede hob er Deutschland mit ungewöhnlicher Betonung hervor: „Deshalb beobachten wir die zunehmende Militarisierung Europas sehr genau. Wir hören, dass die Bundesrepublik Deutschland sagt, ihre Armee müsse wieder die stärkste in Europa werden. Wir hören aufmerksam zu und verfolgen alles, um zu sehen, was genau damit gemeint ist. Niemand zweifelt daran, dass Russlands Antwort nicht lange auf sich warten lassen wird.“

Ein Konflikt der Zivilisationen?

In Valdai beschrieb Putin, wie so oft, Russland als eine eigenständige Zivilisation, die ihre Werte verteidigt. Er sprach von einer neuen Weltordnung, die auf Souveränität, Gleichwertigkeit und kultureller Vielfalt basiert – einem multipolaren System, in dem der westliche Liberalismus seinen universellen Status verliert.

Die Idee eines Kampfes zwischen den Zivilisationen – das spirituelle Russland gegenüber dem mechanistischen Europa – ist nicht neu. Sie hat tiefe Wurzeln in der russischen Philosophie, von Nikolai Danilevsky im 19. Jahrhundert bis hin zu zeitgenössischen konservativen Denkern. Doch der Krieg in der Ukraine hat ihr neue politische Dringlichkeit verliehen. Ein kürzlich unter der Überschrift„‚Europäismus‘: Die Geschichte einer Krankheit“ veröffentlichtes Interview mit dem Philosophen Wladimir Warawa greift Danilewskijs Begriff „evropeichanye“, „Europäismus“, wieder auf, der die chronische Tendenz der russischen Elite bezeichnet, den Westen nachzuahmen. Warawa schreibt, dass diese „Krankheit“ regelmäßig wiederkehrt, insbesondere in der gebildeten Schicht, und dass sie „die nationale Identität bedroht“, indem sie das Vertrauen in den eigenen Weg Russlands untergräbt. „Was derzeit in der Außenpolitik geschieht, ist eine exakte Kopie dessen, was im gesamten 19. Jahrhundert geschah. Russland existiert außerhalb der Logik der westlichen Zivilisation mit ihren machiavellistischen Gesetzen und ihrem Krieg aller gegen alle“, so der russische Philosoph.

Um die Einheit zu bewahren, soll Russland westliche Modelle nicht nur in der Politik, sondern auch in Kultur, Bildung und im Denken selbst ablehnen. Patriotismus wird so nicht einfach zur Liebe zum eigenen Land, sondern zu einem Akt des Widerstands gegen die Kontamination. 

Dissens in Kriegszeiten

Ein weiterer Artikel, „Kann man ein dissidenter Patriot sein?“, wirft die Frage auf: Kann man Russland lieben und es dennoch kritisieren? Der Text gibt eine eindeutige Antwort — ja, aber nur innerhalb bestimmter Grenzen, solange die Kritik nicht die Grundlagen der bestehenden Ordnung in Frage stellt. Die moralische Mobilisierung soll Zusammenhalt und Ausdauer erzeugen: Die Bevölkerung sieht sich als Teil eines heiligen Kampfes.

Was den innenpolitischen und den außenpolitischen Diskurs verbindet, ist ein einziges rhetorisches Muster: die Verschmelzung von Erinnerung, Moral und Sicherheit. Jede gegenwärtige Bedrohung wird durch die Linse der Vergangenheit projiziert. Wenn Deutschland wieder aufrüstet, ist das der Schatten Hitlers; wenn die NATO expandiert, sind es die Geister Napoleons oder der Kreuzritter; wenn Liberale protestieren, sind sie die Erben derer, die 1917 oder 1991 „Russland verraten“ haben. Die Geschichte ist kein Studienfach mehr, sondern wird zu einer moralischen Waffe.

Jede Zivilisation ist besonders

Innerhalb Russlands hat die Erzählung des Zivilisationskampfes die politischen Kosten des Krieges erfolgreich begrenzt. Das Ausbleiben von Massenprotesten, die zurückhaltende Kritik und die anhaltend hohe Zustimmung der Bevölkerung für den Präsidenten spiegeln nicht Unterdrückung wider, sondern Überzeugung. Viele Russen haben die Vorstellung verinnerlicht, dass sie heute ihre historische Heimat verteidigen. Die Wirtschaftssanktionen und Verluste auf dem Schlachtfeld werden durch denselben Rahmen interpretiert: als Beweis dafür, wie weit der Westen zu gehen bereit ist, um Russland zu zerstören, und damit als Beweis dafür, dass Russland Widerstand leisten muss.

Dieser Glaube hat es Russland ermöglicht, schwere Verluste und wirtschaftliche Schwierigkeiten ohne sichtbaren Zusammenbruch zu verkraften. Je länger der Krieg dauert, desto mehr werden seine ursprünglichen Ursachen durch die Logik des Überlebens selbst ersetzt. Und so geht der Krieg weiter — weniger als Eroberungsfeldzug denn als Ausdauertest. Und Russland ist entschlossen, wie eh und je, den Krieg zu gewinnen.

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