Russen nur noch in Unterwäsche und Schlittschuhen in die EU? – oder: Warum die DDR so viel liberaler und weltoffener war …
Shampoo, Seife, Kosmetika und Zahnpasta – was westliche Besucher auch zu Zeiten des Kältesten Krieges in die DDR mitnehmen durften, will die Europäische Kommission nun Russen verbieten. Bei der Einreise in die EU kann sogar der PKW umgehend beschlagnahmt werden.
In den Siebziger Jahren reiste der Verfasser dieser Zeilen, damals ein junger Mann, nahezu jedes Jahr für ein bis zwei Wochen nach Thüringen in die DDR – während seine Klassenkameraden in den Sommerferien mit ihren Eltern Urlaub in Österreich, Italien, Spanien, einige Gutbetuchte sogar in Griechenland machten. Die Reise in das so ferne nahe Land hinter Mauer und Stacheldraht hatte stets etwas Unheimliches, ja, ihr wohnte eine Dramaturgie eigner Art inne! Im Zentrum stand das Übergangsritual an der penibelst bewachten deutsch-deutschen Grenze. Peinlich genau wurden Passfoto und aktuelles Aussehen abgeglichen. (Ich habe mir mehrfach die langen Haare abgeschnitten und den Bart rasiert, um dem längst veralteten Foto in meinem Pass wieder ähnlicher zu werden. Meine Eltern hatten das bei mir nicht fertig gebracht …)
Verbotsliste DDR …
Und danach ging‘s ans Eingemachte, sprich: Mitgebrachte. Die Liste der Dinge aus dem Westen, die verboten oder unerwünscht waren, war endlos. Ich zitiere aus dem damaligen offiziellen Papier „Hinweise über einige zoll- und devisenrechtliche Bestimmungen der DDR für Personen mit ständigem Wohnsitz in Berlin (West)“. Nicht gestattet war es, u.a. folgendes in den ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat mitzunehmen:
- Zeitungen und andere periodisch erscheinende Presseerzeugnisse, soweit sie nicht in der Postzeitungsliste der DDR enthalten sind; Kalender, Almanache, Jahrbücher; Briefmarken und Briefmarkenkataloge, ungültige Zahlungsmittel und Münzen;
- Literatur und sonstige Druckerzeugnisse, deren Inhalt gegen die Erhaltung des Friedens gerichtet ist oder deren Einfuhr in anderer Weise den Interessen des sozialistischen Staates und seiner Bürger widerspricht;
- Schmutz- und Schundliteratur;
- Schußwaffen, patronierte Munition, Sprengmittel einschließlich pyrotechnische Erzeugnisse, Kartuschen, Schußgeräte (darunter Luftdruckwaffen, Start- und Gaspistolen), Hieb- und Stichwaffen;
- Fernsehgeräte sowie Ersatz- und Zubehörteile dazu;
- Rauschgift, Betäubungsmittel und andere Gifte;
- Kinderspielzeug militärischen Charakters;
- gebrauchte Gegenstände als Geschenk (ausgenommen davon sind gebrauchte Textilien und Schuhe, wenn diese nach der letzten Benutzung gewaschen oder gereinigt wurden);
- Arzneimittel (ausgenommen davon ist der persönliche Reisebedarf);
- Fotopapier sowie Filme, Fotoplatten (unbelichtete, belichtete und entwickelte) und Diapositive, wenn deren Inhalt bzw. deren Einfuhr den Interessen des sozialistischen Staates und seiner Bürger widerspricht;
- Schallplatten, soweit sie nicht Werke des kulturellen Erbes oder des wirklich kulturellen Gegenwartsschaffens betreffen; Magnettonbänder und andere Tonträger.
(By the way: Unter „Schmutz- und Schundliteratur“ fielen u.a. Zeichentrickbändchen wie „Mickey Mouse“ und „Fix und Foxy“ sowie Groschenhefte um die Helden „Jerry Cotton“ und „Perry Rhodan“, von Arzt-, Heimat-, Frauenromanen und Landserheftchen ganz zu schweigen.)
… und Verbotsliste EU
Wie liberal und weltoffen, ja menschlich muss einem allerdings heute, Anno 2023, diese Liste vorkommen! Waren doch immerhin Schuhe, Damenbekleidung, Kosmetika, Shampoo, Seife, Zahnpasta, Toilettenpapier sowie – fürs Reisen das Allerwichtigste – Koffer und Taschen erlaubt!! Und wer so tollkühn war, gar mit seinem Westauto ins Land der Trabis und Wartburgs einzureisen, musste keineswegs damit rechnen, von neidischen Grenzern oder VoPos dieses leuchtenden Symbols westlicher Überlegenheit beraubt oder gar prompt sozialistisch enteignet zu werden. Nein, er konnte völlig unbeschadet in seinem Opel, Fiat, Volkswagen oder Mercedes wieder zum Klassenfeind nach Siegen, Erlangen oder Claustal-Zellerfeld zurückfahren.
Anders als ganz normale russische Bürger, die sich heute zu Kriegs- und Sanktionszeiten noch in die EU trauen!
Sie glauben, nicht richtig gelesen zu haben?
Leider ist mit Ihnen alles in Ordnung!
Am 8. September hat nämlich die Europäische Kommission eine Empfehlung erlassen, die Russen die Einreise in EU-Länder in Privatfahrzeugen sowie die Einfuhr persönlicher Gegenstände wie Mobiltelefone, Laptops, Kameras, Leder- und Pelzwaren, Halbedelsteine, Mäntel, Damenbekleidung, Koffer, Brillenetuis, Shampoo, Kosmetika, Parfums, „zubereitete Rasiermittel (einschließlich Vor- und Nachbehandlungsmittel)“, Zahnpasta, Zahnseide, Papierservietten, Toilettenpapier, Steppdecken, Kopfkissen, Betttücher, Unterröcke, Latzhosen, Putzlappen sowie lebende und tote „Krebstiere (mit und ohne Panzer)“ und vieles andere verbietet. Die ganze Liste der verbotenen Waren umfasst mehr als 160 Artikel.
„Wer sich streng an die Vorschriften hält, muss die Grenze zur EU mit ungeputzten Zähnen und in Unterwäsche überqueren – und mit Schlittschuhen. Schlittschuhe sind im Gegensatz zu Schuhen nicht verboten“, so Tatjana Rybakowa von der oppositionellen russischen Plattform Republic. Sie hat allerdings vergessen zu warnen, dass man sein Auto gefälligst zu Hause lassen sollte. In Russland zugelassene PKW, ob gewerblich oder privat, mit denen russische Staatsbürger die Grenze zur EU überqueren, können umgehend beschlagnahmt werden – und wurden das in Deutschland auch schon –, da dies unter das Einfuhrverbot fällt.
Von einem solchen Himalaya an schikanöser Kompetenz hätten weiland Erich (Honecker) & Erich (Mielke) sowie ihre gesamten Stasi-Mannschaft nur träumen können!
Russische Kollektivschuld
Wohlgemerkt: Dies gilt nicht etwa ausschließlich für korrupte Oligarchen, Spitzenpolitiker und -militärs oder nachweisliche Kriegsverbrecher, sondern für ‚ordinary Russians‘! Also auch für Frauen, Rentner, Kriegsdienstverweigerer und Deserteure (ja, die gibt es auch!), Menschen mit Behinderung, Schwule, Lesben, Transmenschen, Bi- und Asexuelle, Kinder, Bürgerrechtler und Oppositionelle – alle.
„Wir können nicht zulassen, dass die Bürger eines Aggressorstaates die Vorteile von Freiheit und Demokratie genießen, während Russland seinen Völkermord in der Ukraine fortsetzt“, dröhnte Estlands Außenminister Margus Tsahkna.
Sind ja alles Russen! Und haben Putin immer noch nicht gestürzt.
Das reicht.
Kollektivschuldvorwurf à la EU. Die westlichen Werte lassen grüßen!
PS:
Einziger Lichtblick: Da die Europäische Kommission nur Empfehlungen aussprechen kann, sind die EU-Länder nicht gezwungen, einreisende russische PKW samt Inhalt zu konfiszieren. Während Estland und Litauen sofort frohgemut zur Tat schritten, versicherte die finnische Außenministerin, russische Autos könnten einreisen, ohne dass Beschlagnahmungen drohten. Deutschland – wie immer gerne regelfromm – will „die Beschlagnahme von nicht zugelassenem Eigentum von einreisenden Russen“ zumindest nicht ausschließen …
PPS:
Zwischenzeitlich hat die EU-Kommission – offenbar unter dem Druck der hohen Wellen, die die Empfehlungen vom 8. September vor allem in Russland schlugen – das Papier etwas modifiziert. Die vier Tage später eilends nachgeschobene Version vom 12. September betont nochmals das Verbot des ‚Imports‘ (gemeint ist die Einreise) russischer Autos, empfiehlt aber nun, das Verbot bei Waren, die „im Hinblick auf die Umgehung von Sanktionen geringfügige Bedenken aufwerfen“ – persönliche Hygieneartikel oder Kleidung – in „verhältnismäßiger und angemessener Weise“ anzuwenden. Ob darunter auch Handys und Laptops fallen, bleibt unklar.
Siehe dazu auch den Bericht zum gleichen Thema auf der Plattform «German Foreign Policy»