Risse in der NATO – obwohl immer das Gegenteil behauptet wird
Polen und die baltischen Staaten dringen auf NATO-Beitrittszusage an Kiew auf dem Gipfel im Juli in Vilnius und ziehen die Entsendung von eigenen Truppen in die Ukraine in Betracht. Berlin will Sicherheitsgarantien zusagen.
BERLIN/WASHINGTON/KIEW (Eigener Bericht) Vor dem NATO-Gipfel am 11./12. Juli in Vilnius spitzt sich der Streit um einen Beitritt der Ukraine zum westlichen Bündnis und um mögliche Sicherheitsgarantien für Kiew zu. Während Polen und die baltischen Staaten nach wie vor auf einer ukrainischen NATO-Mitgliedschaft beharren, die in Vilnius konkret in Aussicht genommen werden soll, hat US-Präsident Joe Biden Berichten zufolge im Februar seinem polnischen Amtskollegen Andrzej Duda mitgeteilt, Washington lasse einen Beitritt der Ukraine nicht zu; dies sei eine „rote Linie“. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron dringt darauf, auf dem NATO-Gipfel ersatzweise „greifbare und glaubwürdige Sicherheitsgarantien“ zu beschließen. Bundeskanzler Olaf Scholz stimmt dem im Kern zu. Bleibe in Vilnius ein entsprechender Schritt aus, dann könnten einige „Hardcore“-Verbündete zu einem Alleingang übergehen, warnt der ehemalige NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen, der als Berater des ukrainischen Präsidenten zur künftigen europäischen Sicherheitsarchitektur tätig ist. Ein solcher Alleingang könne auch – in nationalem Rahmen – eine Stationierung von Truppen von NATO-Mitgliedern in der Ukraine umfassen
Die Forderung, die Ukraine solle NATO-Mitglied werden – wenn auch erst nach Kriegsende, weil das westliche Militärbündnis sonst unmittelbar in den Krieg einträte –, wird unverändert von Ländern in Osteuropa vertreten, vor allem von Polen und den baltischen Staaten. Das Parlament Litauens etwa hat am 6. April eine Resolution verabschiedet, die fordert, Kiew schon auf dem NATO-Gipfel am 11./12. Juli in Vilnius die Mitgliedschaft anzubieten.[1] Der Präsident Polens, Andrzej Duda, hat am Montag vor Gesprächen in Paris mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz geäußert, die Ukraine wünsche „eine sehr konkrete Perspektive … des Beitritts zur Nordatlantischen Allianz“; er hoffe, der NATO-Gipfel in Vilnius werde „eine gute Botschaft nach Kiew tragen …, dass die zukünftige Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO klar sichtbar ist“.[2] Bereits am 4. Mai hatten die Sprecher der Parlamente Lettlands und Estlands, Edvards Smiltēns und Lauri Hussar, mitgeteilt, die baltischen Länder und Polen wollten eine gemeinsame Erklärung vorbereiten, die den NATO-Beitritt der Ukraine unterstützen solle, und zwar konkret mit Blick auf den bevorstehenden NATO-Gipfel in Vilnius.[3]
Nur formal einig
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat mehrfach den Eindruck erweckt, die Aufnahme der Ukraine sei im Bündnis Konsens. „Ich kann Ihnen nicht genau sagen, wann die Ukraine Mitglied wird“, erklärte er kürzlich etwa im Interview mit dem ZDF; „aber was ich sagen kann: Dass alle Mitgliedstaaten sich einig sind, dass sie beitreten wird.“[4] Dies ist insofern zutreffend, als die NATO auf ihrem Gipfel im April 2008 in Bukarest Kiew prinzipiell die Beitrittsperspektive eröffnet und diesen Beschluss nie wiederrufen, ihn vielmehr immer wieder bekräftigt hat.[5] Das bedeutet freilich nicht, dass der ukrainische Beitritt in näherer Zukunft erfolgen wird oder auch nur annähernd absehbar ist; er kann beliebig verzögert werden, die NATO könnte zudem ihre Beschlusslage ändern. Ablehnend gegenüber einem konkreten NATO-Beitritt der Ukraine hat sich nicht nur Ungarn geäußert, das bereits den Beitritt Finnlands und Schwedens gebremst hat und mit Kiew in einem schweren Konflikt bezüglich der ungarischsprachigen Minderheit in der Südwestukraine steckt. Die bislang offenste Stellungnahme gegen eine Aufnahme der Ukraine in die NATO haben, wenn auch nicht in der Öffentlichkeit, die Vereinigten Staaten abgegeben.
Washingtons rote Linien
Dies hat kürzlich die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» berichtet – unter Berufung auf nicht namentlich genannte „einflussreiche Personen“ aus Osteuropa, die offenkundig intime Kenntnis über den Verlauf des Treffens von US-Präsident Joe Biden mit seinem polnischen Amtskollegen Duda am 21. Februar in Warschau haben. Demnach hat Biden „im direkten Gespräch“ mit Duda damals „zwei rote Linien gezogen“: Zum einen würden die Vereinigten Staaten „nicht noch mehr Truppen an die Ostflanke schicken“; zum anderen dürfe die Ukraine „nicht der Allianz beitreten“. Washingtons „klare Festlegung“, so berichtet es die Frankfurter Allgemeine, habe in Osteuropa „Entsetzen und Unmut“ ausgelöst.[6] Allerdings entspricht sie der sich immer deutlicher abzeichnenden Absicht der Biden-Administration, den US-Wahlkampf nicht mit unpopulär werdenden neuen Milliardenzusagen für die ukrainischen Streitkräfte zu belasten, sondern nach dem Ende der mittlerweile gestarteten ukrainischen Offensive zu Verhandlungen mit Moskau und einem baldigen Waffenstillstand überzuleiten (german-foreign-policy.com berichtete [7]). Eine NATO-Zusage, die Ukraine nach einem Ende des Krieges rasch aufzunehmen, würde den US-Plan scheitern lassen: Russland wäre dann kaum zu Verhandlungen bereit.
Sicherheitsgarantien für Kiew
Ersatzweise soll die Ukraine von den westlichen Staaten Sicherheitsgarantien erhalten. Wie diese genau aussehen sollen, ist unsicher und war unter anderem Gegenstand der Gespräche, die Macron, Duda und Scholz am Montagabend in Paris führten. Verschiedene Modelle stehen zur Debatte. Eines haben der frühere NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen und Selenskyjs Kabinettschef Andrij Jermak Mitte September vorgelegt („The Kyiv Security Compact“ [8]). Demnach soll die Ukraine einerseits in die Lage versetzt werden, sich im Falle eines erneuten russischen Angriffs mit modernstem Kriegsgerät und speziell trainierten Streitkräften selbst zu verteidigen. Dazu müssten NATO-Mitglieder sie nicht nur mit Waffen beliefern, ihre Soldaten ausbilden sowie deren Fähigkeiten in gemeinsamen Kriegsübungen perfektionieren. Sie müssten ihr auch zu einer äußerst effizienten rüstungsindustriellen Basis verhelfen, die es ihr erlaubt, die benötigten Waffen zumindest zum Teil eigenständig zu produzieren. Beim Aufbau einer rüstungsindustriellen Basis würde der deutsche Rheinmetall-Konzern gern eine Schlüsselrolle einnehmen (german-foreign-policy.com berichtete [9]). Gleichzeitig sollen möglichst viele westliche Staaten bindende Beistandsgarantien abgeben.
Truppen entsenden
Dass die Ukraine Sicherheitsgarantien erhalten soll, ist offenbar Konsens; Kanzler Scholz erklärte dazu vor seinem Treffen mit Macron und Duda am Montagabend in Paris: „Klar ist: Wir brauchen so etwas, und wir brauchen es in sehr konkreter Form.“[10] Der Druck, derlei Zusagen bereits auf dem NATO-Gipfel in Vilnius zu tätigen, nimmt zu; Präsident Macron fordert eine schnelle Einigung auf „greifbare und glaubwürdige Sicherheitsgarantien“.[11] Ex-NATO-Generalsekretär Rasmussen, der Selenskyj bezüglich der Stellung der Ukraine in der künftigen europäischen Sicherheitsstruktur berät, warnt jetzt, blieben die Garantien in Vilnius aus, dann werde eine Gruppe von „Hardcore“-Verbündeten – gemeint sind Polen und die baltischen Staaten – eigenständig handeln, bei ihrer Unterstützung für Kiew mit einer „Koalition der Willigen“ noch weiter vorpreschen und womöglich gar eine Stationierung von Truppen in der Ukraine in nationalem Rahmen in Betracht ziehen.[12] Ohnehin seien sie entschlossen, in Vilnius wenigstens „einen klaren Weg für die Ukraine zur Mitgliedschaft in der NATO“ durchzusetzen. Ob es Macron und Scholz am Montagabend gelungen ist, Duda davon abzubringen oder ihn zumindest zum Verzicht auf die Entsendung der polnischen Streitkräfte in die Ukraine zu veranlassen, ist unklar. Rasmussen urteilt, der Konflikt bringe die bislang noch gewahrte Geschlossenheit der NATO in Gefahr.
P.S. der Redaktion Globalbridge.ch: Auch wenn gesagt wird, die neusten gigantischen Manöver der NATO seien nicht gegen Russland gerichtet, gegen wen dann? Die NATO braucht zur Selbstlegitimierung einen Feind, und schon aus geografischen Gründen kann das ja eigentlich nur Russland sein. Aber Russland sollte sich trotzdem nicht bedroht fühlen? (cm)
Und siehe hier die neusten Infos von «German Foreign Policy»:
(Eigener Bericht) – Anhaltende Proteste begleiten Air Defender 23, die größte Verlegeübung von Luftstreitkräften aus den USA nach Europa in der Geschichte der NATO. Auf erste Kundgebungen gegen die Kriegsübung am Samstag in Wunstorf und Spangdahlem folgten weitere unter anderem in Münster und in Jagel. Für den morgigen Samstag ist die nächste in Brandenburg an der Havel angekündigt. Air Defender 23 trainiert faktisch, wie das offizielle Übungsszenario bestätigt, einen Krieg gegen Russland auf deutschem Boden. Mit der Verlegeübung erweitert die NATO ihre mit der Defender Europe-Manöverserie bereits entwickelte Fähigkeit, große Truppenverbände in Richtung Osten zu verlegen. Anders als die Defender Europe-Übungen findet Air Defender 23 allerdings unter deutscher Führung statt. Räumlicher Fokus ist der deutsche Luftraum. Die Bundesrepublik markiert damit ihre Rolle als „logistische Drehscheibe“ der NATO im Konflikt mit Russland. Am heutigen Freitag geht die erste Woche des Großmanövers zu Ende. Die NATO-Staaten üben unter anderem die Herstellung von Luftüberlegenheit, um vorrückende Bodentruppen schützen zu können.
Weiterlesen hier.
Siehe auch: «Weltkrieg durch Zufall; Gefahren durch NATO-Manöver Air Defender 23» auf den heutigen NachDenkSeiten.
Fussnoten zum obigen Bericht:
[1] Lithuania To Seek Invite For Ukraine To Join NATO At July Summit. rferl.org 06.04.2023.
[2] Pressekonferenz von Bundeskanzler Scholz, Präsident Macron und Präsident Duda anlässlich des Treffens der Staats- und Regierungschefs im Format „Weimarer Dreieck“ am 12. Juni 2023 in Paris.
[3] Baltics and Poland to Back Ukraine’s membership of NATO. eng.lsm.lv 04.05.2023.
[4] Stoltenberg: Alle einig – auch Deutschland. zdf.de 01.06.2023.
[5] Nikolas Busse: Rote Linie der NATO. Frankfurter Allgemeine Zeitung 02.06.2023.
[6] Thomas Gutschker: Suche nach Sicherheitsgarantien. Frankfurter Allgemeine Zeitung 06.06.2023.
[7] S. dazu „Untragbare Opfer“ und Nach der Offensive.
[8] Anders Fogh Rasmussen, Andrii Yermak: The Kyiv Security Compact. International Security Guarantees for Ukraine: Recommendations. Kyiv, 13 September 2022.
[9] S. dazu Eine rüstungsindustrielle Basis für die Ukraine.
[10] Pressekonferenz von Bundeskanzler Scholz, Präsident Macron und Präsident Duda anlässlich des Treffens der Staats- und Regierungschefs im Format „Weimarer Dreieck“ am 12. Juni 2023 in Paris.
[11] Michaela Wiegel, Gerhard Gnauck: Plötzlich ist das Weimarer Dreieck wieder wichtig. Frankfurter Allgemeine Zeitung 13.06.2023.
[12] Patrick Wintour: Nato members may send troops to Ukraine, warns former alliance chief. theguardian.com 07.06.2023.