Reflexionen zum Ukrainekrieg – Der Krieg fiel nicht vom Himmel
Ein Vortrag von Leo Ensel, gehalten am 30. November im Rahmen des Vereins «Deutsch-Russische Friedenstage Bremen e. V.» in Bremen. Der Vortrag kann jetzt auch ungekürzt als Video gesehen und gehört werden: hier anklicken. – Hier der ganze Vortrag wörtlich zum Nachlesen.
Vorbemerkung: Egal wie man zum Krieg in der Ukraine stehen mag – in meinen Augen ist es ein völkerrechtswidriger Überfall Russlands –, der Krieg hat eine jahrzehntelange Vorgeschichte, die in unseren Leitmedien nahezu völlig ausgeblendet wird und die man sehr unterschiedlich erzählen kann. (Und was dann, wie wir sehen werden, zu sehr unterschiedlichen Konsequenzen auf der Handlungsebene führt.)
Genau das werde ich heute Abend machen. Ich werde Ihnen die Geschichte zweimal erzählen. Einmal so, wie sie in unseren Leitmedien zwar auch nicht explizit erzählt, allerdings permanent dunkel-raunend unterschwellig angedeutet wird. Und einmal so, dass auch das Handeln anderer Akteure ins Blickfeld gerät. – Und dabei wird sich herausstellen: Es gab keinen linearen Weg in diesen Krieg! Der Krieg Russlands gegen die Ukraine fiel nicht nur nicht vom Himmel, es gibt – sehr zurückhaltend formuliert – eine große Mitschuld des Westens, vor allem von USA und NATO.
Vor einiger Zeit konnte man es im Deutschlandfunk mal wieder hören: „Im Sommer 2008 wurde Georgien von Russland überfallen.“
Sie, geschätzte Zuhörerinnen und Zuhörer, werden jetzt vielleicht sagen: „Das stimmt doch gar nicht! Seit über zwölf Jahren ist doch durch eine unabhängige Fact Finding Commission im Auftrag der EU unter Vorsitz der renommierten Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini längst eindeutig geklärt, dass georgisches Militär in der Nacht vom 7. auf den 8. August 2008 eine Großoffensive gegen Südossetien mit Panzern, Kampfjets, Raketenwerfern und Streubomben auf die schlafende Zivilbevölkerung und auf die dort stationierten russischen Friedenstruppen startete. 162 Zivilisten und 14 Angehörige russischer Friedenstruppen sind damals dabei ums Leben gekommen.“
Fake News als ‚Factum‘
Tja, da haben Sie recht. Dennoch ändert das nichts daran, dass bis auf den heutigen Tag selbst in renommierten deutschen Leitmedien wie der ZEIT oder den Tagesthemen unwidersprochen behauptet werden kann, Russland sei der Aggressor gewesen! Eine Fake News, die sich längst als ‚Factum‘ durchgesetzt hat.
Und eine beeindruckende Leistung des mit allen amerikanischen PR-Wassern gewaschenen damaligen georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili, der es fertig brachte, einen Krieg zu beginnen und sich anschließend – mit wohlwollendem Rückenwind aus den westlichen Medien, versteht sich – der Welt auch noch als verfolgte Unschuld zu präsentieren. Für Russland dagegen, das den Krieg mit einem völlig überzogenen Strike Back tief in georgisches Kernland militärisch zwar gewonnen, publizistisch aber haushoch verloren hatte, ein Desaster! Schließlich lautet seitdem die westliche Erzählung – wie kürzlich in einer Sendung bei Arte mit dem bezeichnenden Titel „Die Rückkehr des russischen Bären“ wieder aufgewärmt –, Saakaschwili sei im Sommer 2008 „den Russen in die Falle gelaufen“.
Die Konsequenzen ließen nicht lange auf sich warten: Die USA griffen dem ‚von Russland angegriffenen‘ schuldlosen kleinen Land im Kaukasus mit Militärhilfen großzügig unter die Arme, die Tür zu einer künftigen NATO-Mitgliedschaft bleibt nach wie offen und Russland hat seitdem in der westlichen Öffentlichkeit wieder das Image eines unberechenbaren potenziellen Aggressors.
Man versteht, warum der Kampf um die Deutung genauso erbittert geführt wird wie militärische Schlachten: Die Deutung, die sich heute durchsetzt – bzw. mit der geballten Macht der Leitmedien, oft mit Unterstützung professioneller Propaganda-Think-Tanks, durchgesetzt wird –, bestimmt die Handlungen von morgen.
Die konstruierte Kausalität
Womit wir beim russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine angelangt wären.
Auf der Ebene der Fakten ist unbestreitbar: Russland hat am 24. Februar völkerrechtswidrig die Ukraine angegriffen; es hat zahlreiche Militäranlagen im ganzen Land zerstört; russische Truppenverbände rückten zeitweise gegen Städte wie Mykolajiw, Charkiw, Sumy, Tschernihiw und die Hauptstadt Kiew vor; Städte wie Cherson und Melitopol im Süden sowie der gesamte Oblast Lugansk wurden eingenommen; zivile Einrichtungen wurden und werden beschossen und modernste Waffensysteme wie die Hyperschallrakete „Kinschal“ erlebten in einem zynischen „realen Feldversuch“ ihre Feuertaufe.
Russland attackiert seit dem ukrainischen Attentat auf die Krim-Brücke – die ihrerseits die kriegs- und lebenswichtige Verbindung zwischen der Halbinsel und dem russischem Festland darstellt – systematisch in zahlreichen ukrainischen Städten die Elektrizitäts- und Heizungskraftwerke und versucht so, massiven Druck auf die Zivilbevölkerung auszuüben. Die Zahl der getöteten ukrainischen Zivilisten geht mittlerweile vermutlich in die Tausende, Millionen Menschen sind auf der Flucht, die Hafenstadt Mariupol und andere ukrainische Städte liegen zu großen Teilen in Trümmern.
Ende September annektierte Russland die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk im Donbass sowie die Oblaste Cherson und Saporischschja (Saporoschje) im Südosten der Ukraine, von denen übrigens außer dem Oblast Lugansk drei Gebiete noch nicht einmal in Gänze unter russischer Kontrolle stehen. Zuvor hatte Präsident Putin am 21. September im Rahmen einer Teilmobilmachung die Einberufung von 300.000 Reservisten angekündigt.
Die Frage ist: Wie deuten, wie interpretieren wir diese Fakten? In welche Geschichte ordnen wir sie ein? Genauer: Welche Geschichte konstruieren wir um sie herum? Noch genauer: Nach welcher – tatsächlichen oder vorgeblichen – Kausalität ordnen wir welche Ereignisse aus der Vergangenheit zu einer (zumindest logisch stringend aussehenden) Vorgeschichte der aktuellen Kriegshandlungen und welche mögliche Folgerungen ziehen wir daraus für ‚Putins‘ mutmaßliches morgiges Verhalten und die übermorgigen westlichen Konsequenzen? Mit anderen Worten: Nach welchen Kriterien konstruieren wir die sogenannten Narrative?
Diese Fragen sind entscheidend, denn die Folgen der jeweiligen Narrative auf der Handlungsebene werden sich – wie die mit publizistischer Gewalt durchgesetzte (Fake)-Interpretation des Georgienkrieges ja gezeigt hat – gravierend unterscheiden und die künftige Politik des Westens vermutlich auf Jahrzehnte bestimmen.
Bezogen auf Russlands Aggression gegen die Ukraine bieten sich aus westlicher Perspektive im Prinzip zwei höchst unterschiedliche Deutungen an. Die erste, die die westliche Berichterstattung aktuell erdrückend dominiert, möchte ich „Highway to War“ nennen. Ihr liegt implizit eine eine ganze Reihe unbewiesener Unterstellungen zugrunde, die ich hier als Frage formuliere.
„Highway to War“ …
Hat Präsident Putin von Beginn seiner ‚Herrschaft‘ an – also seit über zwei Jahrzehnten – auf diesen Moment hingearbeitet? Zeigt er jetzt sein wahres Gesicht? Will er die Sowjetunion wiederherstellen? Sind als nächstes das Baltikum, Polen und Moldau dran? Stehen russische Truppen übermorgen wieder vorm Brandenburger Tor?
Aus welchen Motiven handelt er? Machtgier? Unstillbarer Hass auf den Westen und seine Werte? Will er als „Wladimir der Große“ in die Geschichte eingehen? Kriegt er den Hals nicht voll? Ist er etwa krank? Realitätsblind? Narzisstisch? Größenwahnsinnig? Am Ende gar verrückt?
Verteidigt die Ukraine unter Wolodimir Selenski nicht nur das eigene Land, sondern vielmehr heldenhaft unsere westlichen Werte? Die Freiheit Europas? Uns?
Stehen EU und NATO im Allgemeinen und Deutschland im Speziellen – natürlich wegen Krieg und Holocaust – der Ukraine gegenüber in einer besonderen moralischen Verantwortung, Pflicht, gar Bringschuld? (Eine Klaviatur, die der ukrainische Präsident und sein endlich abgezogener forscher Botschafter in Deutschland virtuos bespielten und bespielen.)
Folgt man dieser in groben Strichen skizzierten Erzählung, dass Putin nun endlich das realisiert, was er (angeblich) bereits seit Jahren oder Jahrzehnten anstrebte, so liegen die Konsequenzen auf der Hand. Es sind exakt diejenigen, die gerade ohne den geringsten innergesellschaftlichen Widerstand in den EU- und NATO-Staaten flächendeckend durchgesetzt werden: Astronomische Aufrüstungsprogramme und nahezu selbstmörderische Sanktionsorgien – die angesichts rapide ansteigender Inflation und Energiepreise in erster Linie auf Kosten immer größerer Kreise der eigenen Bevölkerung gehen; eine Remilitarisierung des Denkens und Handelns; Abbruch nahezu sämtlicher politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und humanitären Kontakte mit der Russischen Föderation und ihren Menschen sowie eine die Grenze des Absurden überschreitende Ächtung und Exklusion von allem, was nur noch im Entferntesten etwas mit Russland zu tun hat. Dazu einige Stichworte: Ausladung russischer Fachärzte von internationalen Fachkonferenzen, Entlassung oder Ausladung politisch unliebsamer prominenter Kulturschaffender – zumindest wenn sie den geforderten Distanzierungserklärungen nicht nachkommen sollten –, Verbannung russischer Waren aus den Supermärkten und die Ächtung russischer Namen auch bei etablierten Produkten des täglichen Lebens (ist Ihnen schon aufgefallen, dass die berühmten Buchstaben-Kekse „Russisches Brot“ seit Neuestem „Bahlsen ABC“ heißen?) bis hin zu einem weltweiten Importverbot russischer Katzen durch die International Federation of Felines und zum Ausschluss russischer Katzen von den Wettbewerben der International Cat Federation …
Zugleich verlangt die „Highway to War“-Erzählung aber auch gebieterisch eine Neubewertung der Vergangenheit: Wenn nämlich Putin schon immer auf den Krieg gegen die Ukraine und womöglich noch Schlimmeres abzielte, dann erweisen sich natürlich all diejenigen, die bis vor Kurzem noch dafür geworben hatten, die russische Perspektive zumindest mal zur Kenntnis zu nehmen, als „geistige Brandstifter“, bestenfalls als „nützliche Idioten“, die nun öffentlich Abbitte und Buße zu leisten haben. Die ehemalige ARD-Moskaukorrespondentin Gabriele Krone-Schmalz – die gerade mal wieder massiv unter Beschuss geraten ist –, der von seinem Posten als Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums zurückgetretene Matthias Platzeck, der Ex-Vorsitzende des NATO-Militärausschusses General Harald Kujat, der langjährige SPD-Politiker Klaus von Dohnanyi, die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot oder Sarah Wagenknecht von der ‚Linken‘ können von diesen Anschuldigungen ein Lied singen.
Soweit der aktuell nahezu unangefochten herrschende mediale Narrativ eines „Highway to War“, der in der Retrospektive eine Linearität konstruiert, die geradewegs in den gegenwärtigen Krieg hineinführt.
… or „Road with many Crossroads“?
Eine mögliche andere Erzählung der Vorgeschichte dieses Krieges, der ich folgen würde – die aktuell allerdings postwendend mit dem Totschlagvorwurf der Russland- und damit Angriffskriegsverteidigung kaltgestellt wird –, nenne ich „Road with many Crossroads“. Sie würde in folgende Richtung gehen: Auf der endlos langen Straße bis zu dem Punkt, an dem wir heute stehen, hat es zahllose Kreuzungen, viele potenzielle Abbiegungen gegeben, bei denen die Geschichte einen ganz anderen Verlauf genommen hätte, hätte der Westen rechtzeitig russische Sicherheitsbedürfnisse respektiert.
Diese Erzählung ginge zurück bis ins Frühjahr 1990 in die Zeit der Verhandlungen mit Michail Gorbatschow, als es um die künftige Bündniszugehörigkeit eines wiedervereinten Deutschland ging und in denen der damalige amerikanische Außenminister James Baker im Februar 1990 Gorbatschow zusicherte, die NATO würde sich im Falle eines Beitritts des wiedervereinten Deutschlands „keinen Inch weit nach Osten ausdehnen“. Diese Erzählung würde als Referenzrahmen für die folgende Zeit die „Charta von Paris“ zugrundelegen, die im November 1990 den Kalten Krieg für beendet erklärte, mit ihrem epochalen Satz: „Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden“.
Sie würde dann an den nassforsch-triumphalistischen Satz des damaligen US-Präsidenten George H.W. Bush vom 28. Januar 1992 – also einen Monat nach dem Untergang der Sowjetunion – erinnern: „By the grace of God America won the Cold War!“ (Ein Satz, mit dem Sie bis auf den heutigen Tag jeden – jeden! – Russen auf die Palme bringen können …) Sie würde die Bedenken, berücksichtigen, die Boris Jelzin in den Neunziger Jahren wiederholt gegenüber dem damaligen US-Präsidenten Bill Clinton im Vorfeld der ersten NATO-Osterweiterung 1999 äußerte: Schon 1994 hatte Jelzin für diesen Fall vor einem „Kalten Frieden“ gewarnt und im März 1997 dann gedroht, spätestens mit einem NATO-Beitritt der Ukraine würde für Russland eine rote Linie überschritten. (By the way: Sie sehen hier, (1) wie alt diese Option für den Westen bereits ist und (2) wie alt die russischen Ängste vor dieser Option sind. Geäußert vom Westfreund Jelzin – Jahre bevor Wladimir Putin in Moskau an die Macht kam!)
Die andere Erzählung würde die Bedeutung der trotzdem realisierten insgesamt fünf NATO-Ost-Erweiterungen mit 14 neuen Mitgliedern für das russische Sicherheitsbedürfnis herausarbeiten: 1999 (Polen, Tschechien, Ungarn; hier wurde zur Beruhigung Russlands die NATO-Russland-Grundakte unterzeichnet; übrigens durften diese Staaten wenige Tage nach ihrem NATO-Beitritt gleich beim völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der NATO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien mitmachen …); 2004 (die drei Baltischen Staaten, die Slowakei, Rumänien, Bulgarien und Slowenien; hier wurde Russland erst gar nicht mehr gefragt), 2009 (Kroatien und Albanien), 2017 (Montenegro) und 2020 (Nord-Mazedonien). (Die geplante NATO-Nord-Erweiterung um Schweden und Finnland ist dagegen eine direkte Folge des russischen Überfalles auf die Ukraine. Man sieht hier deutlich, wie kontraproduktiv dieser Überfall für die russischen Sicherheitsinteressen selbst ist!)
Die „Road with many Crossroads“-Erzählung würde sich mit dem Bruch der „Charta von Paris“ (und damit auch von der vielzitierten „Regelbasierten Weltordnung“) durch den Angriffskrieg der NATO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien im Frühjahr 1999 – keine zwei Wochen nach der ersten NATO-Ost-Erweiterung – beschäftigen. (Kein Bild bringt den dadurch provozierten Beginn der Abkehr Russlands vom Westen deutlicher auf den Punkt als die 180-Grad-Kehrtwende des Flugzeugs des damaligen russischen Ministerpräsidenten Primakow, der – über dem Atlantik, auf dem Wege nach Washington – seiner Crew die Rückkehr nach Moskau befahl, als er von der Bombardierung Belgrads durch die NATO erfuhr.) Das Gleiche würde für die völkerrechtswidrige Aggression der von den USA und Großbritannien angeführten „Koalition der Willigen“ gegen den Irak im März 2003 – die Zahl der Toten geht in die Hundertausende – gelten.
Die alternative Erzählung würde in Erinnerung rufen, dass sich Putin trotz allem noch im März des Jahres 2000 in einem Interview mit der BBC einen Beitritt Russlands zur NATO durchaus vorstellen konnte, „solange Russlands Interessen Berücksichtigung finden und es ein gleichberechtigter Partner ist.“ Sie würde auch daran erinnern, dass Russland beim Krieg des Westens in Afghanistan, zeitweise logistische Unterstützung leistete und den US-Truppen in Zentralasien für ihren Kampf gegen die Taliban und Al Quaida Nachschublinien durch russisches Territorium, ja sogar einen amerikanischen Militärstützpunkt in Russland gestattete: ausgerechnet in Lenins Geburtsstadt Uljanowsk!
Diese Erzählung würde auch endlich mal die Tatsache in den Vordergrund rücken, dass die USA bereits seit Mitte der Neunziger Jahre unter dem Etikett „Rapid Trident“ (früher: „Peace Shield“) jährlich auf dem Gebiet der Westukraine Manöver mit ukrainischen Truppen durchführen, zuletzt vom 20. September – 1. Oktober letzten Jahres zusammen mit Soldaten aus Ländern wie Bulgarien, Kanada, Georgien, Deutschland, Großbritannien, Italien, Jordanien, Moldawien, Pakistan und Polen. Dasselbe gilt für die Marinemanöver „Sea Breeze“ der USA seit 1997 vor der Küste der Ukraine im Schwarzen Meer. Marineinfanteristen übten damals – zwei Jahre, bevor Putin an die Macht kam und genau anderthalb Jahrzehnte vor dem Euro-Maidan – in den Regionen Odessa und Mykolajiw Landeoperationen unter Einsatz von Schiffen, Flugzeugen und Panzern. Im Sommer 2021 waren mittlerweile Einheiten aus nicht weniger als 32 Staaten beteiligt. (Bitte stellen Sie sich einmal kurz vor, was im Westen los wäre, wenn Russland jährlich zusammen mit Soldaten aus Belarus, Serbien, China, Kuba, Venezuela, dem Iran und anderen Staaten Truppenübungen in Mexiko oder Marinemanöver im gleichnamigen Golf vor der Küste Floridas unternehmen würde!)
Diese Geschichte würde die von den USA nicht unterzeichneten bzw. gekündigten Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge unter die Lupe nehmen: Und zwar vom A-KSE-Vertrag über die Abrüstung konventioneller Streitkräfte in Europa (der von Russland, Weißrussland, der Ukraine und Kasachstan ratifiziert wurde, aber nicht von den westeuropäischen Staaten und den USA), dem ABM-Vertrag zur Begrenzung strategischer Raketenabwehrsysteme (Juni 2002), dem INF-Vertrag über die Vernichtung landgestützter Kurz- und Mittelstreckenraketen (August 2019) bis hin zur Kündigung des Open-Skies-Treaty (November 2020). Sie würde die Bedeutung des globalen amerikanischen Raketen‚abwehr‘systems Aegis mit seinen angriffsfähigen Modulen unmittelbar vor der russischen Haustür in Rumänien und Polen würdigen. (Es ist in der Öffentlichkeit übrigens immer noch zu wenig bekannt, dass die beiden genannten Module nur die Spitze eines Eisberges sind: eines in Wirklichkeit weltumspannenden, im Wesentlichen auf Kriegsschiffen stationierten amerikanischen Raketenabwehrschilds, an dem sich auch Länder wie Norwegen, Dänemark, Spanien, Australien, Japan, Südkorea und Kanada beteiligen.)
Und diese Erzählung würde die diversen vom Westen offen oder clandestin unterstützten Regime-Change-Versuche in Osteuropa und im postsowjetischen Raum von Serbien, Georgien, Kirgistan bis hin zum Euromaidan 2013/14 in Kiew – laut Victoria Nuland investierten die USA fünf Milliarden Dollar für einen Stimmungsumschung in der Ukraine – nicht vergessen.
Sie würde auch die beiden großen Reden Putins in Deutschland nochmals genauer studieren: 2001, zwei Wochen nach 9/11 vor dem Deutschen Bundestag – damals ein wahres Liebeswerben um eine intensive deutsch-russische Zusammenarbeit – und im Februar 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz, nun eine deutliche, aber sachlich begründete Warnung vor dem amerikanischen Unilateralismus und einem neuen Wettrüsten. Das Gleiche würde für die russischen Vorschläge eines Gemeinsamen Sicherheitsraumes von Vancouver bis Wladiwostok (der damalige Präsident Medwedew im Juni 2008; der Vorschlag wurde westlicherseits noch nicht mal ignoriert) und einer Freihandelszone zwischen der EU und Russland (Wladimir Putin in einem Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung am 25. November 2010) gelten.
Diese Erzählung würde schließlich ins Gedächtnis rufen, dass Kiew seit über acht Jahren den Donbass belagert und beschießt, bislang um die 14.000 Tote – für die die Kiewer Propaganda übrigens ausschließlich Russland verantwortlich macht – und systematisch die Infrastruktur zerstört (Wasserversorgung, Heiz- und Elektrizitätswerke, Krankenhäuser, Sportanlagen etc. – also genau das, was Russland nun seit dem Angriff auf die Krimbrücke jetzt in der Ukraine macht). Und dass Kiew über sechseinhalb Jahre lang seinen zentralen Verpflichtungen aus dem Minsk II-Abkommen – Verabschiedung einer Verfassungsreform bis Ende 2015 (!) im Sinne einer Dezentralisierung unter Berücksichtigung der Besonderheiten der Gebiete Donezk und Lugansk („Südtirol-Lösung“) – nicht nachkam und dies vom Westen offensichtlich geduldet, wenn nicht gefördert wurde! (‚Böse Zungen‘ behaupteten ja schon länger, was Ex-Bundeskanzlerin Merkel kürzlich offiziell einräumte: Es ging darum, Zeit zu gewinnen, um die ukrainische Armee in der Zwischenzeit fit zu machen.)
Die „Highway to War“-Erzählung würde schließlich daran erinnern, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am 24. März 2021 – also genau elf Monate vor dem russischen Überfall – das Dekret Nr. 117 unterzeichnete, das die „Strategie zur De-Okkupation und Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Gebiets der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol“ des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine vom 11. März in Kraft setzte. In dem Dekret wurde die Vorbereitung von Maßnahmen angekündigt, um „die vorübergehende Besetzung“ der Krim und des Donbass zu beenden; die ukrainische Regierung erhielt den Auftrag, einen entsprechenden „Aktionsplan“ zu entwickeln. – Die Erzählung würde ebenfalls daran erinnern, dass die USA und die Ukraine am 30. August 2021 einen Vertrag über militärische Zusammenarbeit und am 10. November 2021 einen Vertrag über „Strategische Partnerschaft“ unterzeichneten. Hier hieß es u.a. wörtlich: „Die Vereinigten Staaten beabsichtigen, die Bemühungen der Ukraine zur Bekämpfung der bewaffneten Aggression Russlands zu unterstützen, unter anderem durch die Aufrechterhaltung von Sanktionen und die Anwendung anderer relevanter Maßnahmen bis zur Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen.“
Und schließlich würde die Erzählung ins Gedächtnis rufen, dass wenige Tage vor Kriegsbeginn Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) verstärkte Angriffe Kiewer Truppen auf die Rebellengebiete im Donbass verzeichneten.
Man sieht: Russlands Krieg gegen die Ukraine, der starke Züge eines Stellvertreterkrieges zwischen Russland und den USA auf dem Territorium der Ukraine trägt, fiel nicht vom Himmel! Überall an dieser endlos langen Straße gab es über drei Jahrzehnte lang Kreuzungen. Es hat keinen linearen Highway in diesen russischen Angriffskrieg gegeben, auch wenn die westlichen Leitmedien uns das seit über neun Monaten tagtäglich einhämmern!
Sehr wahrscheinlich war die allerletzte Chance eines noch rechtzeitigen Abbiegens Mitte Dezember letzten Jahres, als Russland seine Sicherheitsinteressen – zugegebenermaßen in gereiztem ultimativen Ton und diplomatisch höchst contraproduktiv als Paket verschnürt – in Briefen gegenüber der NATO und den USA unmissverständlich formulierte. Niemand weiß, wann genau Putin definitiv die Entscheidung zum Angriff auf die Ukraine, d.h. zur Verwandlung der als Drohkulisse aufmarschierten russischen Truppen in eine Aggressionsarmee, getroffen hat. Es spricht – ich drücke mich jetzt sehr vorsichtig aus – vieles dafür aus, dass dieser Krieg heute nicht stattfinden würde, wenn der Westen spätestens auf die Briefe vom 17. Dezember flexibler reagiert hätte!
Die Alternativen
Die Konsequenzen der jeweiligen Deutungen liegen auf der Hand und diejenige, die sich durchsetzt, wird die westliche Politik der nächsten Jahrzehnte bestimmen.
Setzt sich die „Highway to War“-Geschichte durch – wofür zur Zeit so gut wie alles spricht –, dann stehen wir unmittelbar vor einer erneuten Spaltung des europäischen Kontinents, inclusive eines neuen, diesmal rund tausend Kilometer weiter östlichen Eisernen Vorhanges, der Neuauflage des atomaren Wettrüstens mit immer zielgenaueren Trägersystemen bei immer kürzeren Vorwarnzeiten, kurz: vor einem Kalten Krieg 2.0, der angesichts der höchst instabilen geo-politischen Rahmenbedingungen und der Tatsache, dass sich kaum noch ein relevanter Akteur an Regeln hält, erheblich gefährlicher sein wird als der erste. Den Worst Case mag man sich nicht ausmalen!
Würde sich jedoch allen Erwartungen zum Trotz doch noch die Erkenntnis durchsetzen, dass ohne die Berücksichtigung auch russischer Sicherheitsinteressen eine friedliche Zukunft auf unserem Kontinent nicht möglich ist; dass alle Akteure also verpflichtet sind, die aktuell völlig verfahrene Lage nun als Ausgangspunkt für einen kompletten Restart im Sinne einer neuen Europäischen Sicherheitskonferenz, eines „Helsinki 2.0“, zu nutzen, mit dem Ziel einer neuen europäischen Sicherheitsstruktur auf der Basis des Prinzips der Gemeinsamen Sicherheit – sollte sich also diese Erkenntnis wider alle Wahrscheinlichkeit doch noch durchsetzen, dann hätte die Welt vielleicht noch eine Chance.
Wir haben die Wahl.
Vorher allerdings wird es erst einmal darum gehen, das Kämpfen, das Zerstören, das Töten, das Morden so schnell wie möglich zu stoppen und in sich auf einen Waffenstillstand ohne Vorbedingungen zu einigen. Militärs sagen ja, dass in Kriegen die Chancen auf Verhandlungen immer dann steigen, wenn beide Seiten sich in eine Patt-Situation hineinmanövriert haben. Hoffen wir also, dass es möglichst bald wieder in der Ukraine zu einer militärischen Pattsituation kommen wird! Und spätestens bei den möglichst bald darauf folgenden Friedensverhandlungen werden alle Seiten Federn lassen müssen. Getreu dem Motto eines berühmten, mittlerweile sehr alten außenpolitischen Experten und ehemaligen Diplomaten: „Es geht nicht um Gerechtigkeit für eine Seite, sondern um ausgewogene Ungerechtigkeit für alle!“ Dieser Satz stammt von – gehen Sie bitte in Deckung! – Henry Kissinger.
Das mag sich hart anhören, aber – und ich zitiere nochmals einen bekannten Mann mit jahrzehntelanger politischer Erfahrung: „Die Lage ist so, wie sie ist. Wir haben keine andere!“ Das war – bitte gehen Sie nochmals in Deckung! – von Konrad Adenauer.
Ich danke Ihnen.