Putin erinnert Washington daran, dass er auch Waffen hat, die bis nach Washington reichen
(Redaktion) Unser in Brüssel ansässiger Beobachter der geopolitischen Situation, Gilbert Doctorow, macht darauf aufmerksam, dass Russland jetzt auf die neuen Provokationen aus Ramstein reagiert hat, und zwar mit einer weiteren Eskalation, die auch in Washington ernst genommen werden sollte. «Von der ‹besonderen Militäroperation› zum offenen Krieg: die Bedeutung der Referenden im Donbass, in Cherson und in Saporoschje». (cm)
Die Fernsehansprache von Wladimir Putin gestern Mittwoch Morgen und die anschließenden Äußerungen seines Verteidigungsministers Schoigu, in denen er die teilweise Mobilmachung der russischen Armeereserven ankündigte, um insgesamt 300.000 Mann für die Militäroperation in der Ukraine bereitzustellen, wurden in den westlichen Medien ausführlich behandelt. Die westliche Presse berichtete auch von den Plänen, am kommenden Wochenende in den beiden Donbass-Republiken und in naher Zukunft auch in den Oblasten Cherson und Saporoschje Referenden über den Beitritt zur Russischen Föderation abzuhalten. Wie so oft wurde jedoch der Zusammenhang zwischen diesen beiden Entwicklungen nicht erkannt oder, falls doch, der breiten Öffentlichkeit bewusst vorenthalten. Da genau dieser Zusammenhang in den letzten beiden Tagen in den Talkshows des russischen Staatsfernsehens hervorgehoben wurde, nutze ich die Gelegenheit, meiner Leserschaft die wichtigsten Fakten darüber zu vermitteln, welche Wendung der laufende Konflikt in der Ukraine nun nehmen wird, und einen aktuellen Ausblick darauf zu wagen, wann er enden wird und mit welchen Ergebnissen.
Die Idee eines Referendums im Donbass ist von den Mainstream-Medien in den USA und in Europa ins Lächerliche gezogen worden. Sie werden als „Scheinreferenden“ bezeichnet und man sagt uns, dass deren Ergebnisse eh nicht anerkannt werden. In Wirklichkeit ist es dem Kreml aber völlig egal, ob die Ergebnisse im Westen als gültig anerkannt werden. Die Logik liegt woanders. Was die russische Öffentlichkeit anbelangt, so wurde lediglich der Zeitpunkt der Referenden kritisiert, wobei einige patriotische Bürger sogar offen sagten, dass es für die Abstimmung zu früh sei, da die Volksrepublik Donezk, die Oblaste Saporoschje und Cherson noch nicht vollständig „befreit“ worden seien. Auch hier liegt die Logik dieser Abstimmungen woanders.
Es ist eine ausgemachte Sache, dass die Donbass-Republiken und andere Gebiete der Ukraine, die jetzt unter russischer Besatzung stehen, für den Beitritt zur Russischen Föderation stimmen werden. Im Falle von Donezk und Lugansk ging es bei den Referenden von 2014 auf Druck Moskaus nur um die Erklärung der Souveränität und noch nicht um den Beitritt zu Russland. Eine solche Annexion oder Fusion wurde vom Kreml damals noch nicht begrüßt, weil Russland nicht bereit war, sich dem zu erwartenden massiven wirtschaftlichen, politischen und militärischen Angriff des Westens zu stellen, der daraufhin erfolgt wäre. Heute ist Moskau mehr als bereit: Es hat alle Wirtschaftssanktionen, die der Westen bereits vor dem 24. Februar 2022 verhängt hat und auch die immer umfangreicheren Lieferungen von militärischem Material inklusive „Beratern“ aus den NATO-Ländern an die Ukraine nach dem 24. Februar sehr gut überstanden.
So wird es in den nächsten Tagen und Wochen weitergehen
Die Abstimmung über den Beitritt zu Russland wird wohl mit 90 Prozent oder mehr Ja-Stimmen ausfallen. Was auf russischer Seite unmittelbar folgen wird, ist ebenfalls völlig klar: Innerhalb weniger Stunden nach der Verkündung des Referendumsergebnisses wird die russische Staatsduma einen Gesetzesentwurf über die „Wiedervereinigung“ dieser Gebiete mit Russland verabschieden und innerhalb von etwa einem Tag wird er vom Oberhaus des Parlaments gebilligt und unmittelbar danach von Präsident Putin als gültiges Gesetz unterzeichnet werden.
Abgesehen von seiner Tätigkeit als KGB-Geheimdienstler, über die westliche „Russland-Spezialisten“ in ihren Artikeln und Büchern endlos zu schreiben pflegen, sollten wir uns auch an Wladimir Putins Jura-Studium erinnern. Als Präsident hat er sich immer systematisch an das nationale und internationale Recht gehalten. Das wird er auch jetzt tun. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Boris Jelzin hat Wladimir Putin nie per Präsidialdekret regiert, sondern immer auf der Grundlage von Gesetzen, die von einem aus mehreren Parteien zusammengesetzten Zweikammer-Parlament erlassen wurden. Er hat stets im Einklang mit dem von den Vereinten Nationen verkündeten Völkerrecht regiert. Das UN-Recht spricht für die Unantastbarkeit der territorialen Integrität der Mitgliedstaaten; das UN-Recht spricht aber auch für die Unantastbarkeit der Selbstbestimmung der Völker.
Was folgt aus dem formellen Zusammenschluss dieser Gebiete mit Russland? Auch das ist völlig klar. Als integraler Bestandteil Russlands ist jeder Angriff auf diese Gebiete, und es wird sicherlich solche Angriffe von den ukrainischen Streitkräften auch in Zukunft geben, ein „casus belli“. Aber schon vor den Referenden wurde die Teilmobilmachung angekündigt, was direkt darauf hindeutet, was Russland weiter tun wird, wenn die Entwicklungen auf dem Schlachtfeld es erfordern. Die fortschreitenden Phasen der Mobilmachung werden gegenüber der russischen Öffentlichkeit als notwendig für die Verteidigung der Grenzen der Russischen Föderation gegen einen Angriff der NATO gerechtfertigt.
Von der besonderen Militäroperation zum offenen Krieg
Der Zusammenschluss der von Russland besetzten ukrainischen Gebiete mit der Russischen Föderation wird das Ende der „besonderen militärischen Operation“ markieren. Eine SMO, wie das abgekürzt heisst, ist nichts, was man auf dem eigenen Territorium durchführt, wie die Diskussionsteilnehmer in der „Talkshow am Abend“ mit dem dem Kreml nahestehenden Moderator Wladimir Solowjow vor ein paar Tagen bemerkten. Sie markiert den Beginn eines offenen Krieges gegen die Ukraine mit dem Ziel der bedingungslosen Kapitulation des Feindes. Dies wird wahrscheinlich die Absetzung der zivilen und militärischen Führung und sehr wahrscheinlich die territoriale Aufteilung der Ukraine zur Folge haben. Schließlich hat der Kreml schon vor mehr als einem Jahr gewarnt, dass der von den USA diktierte Kurs der NATO-Mitgliedschaft der Ukraine zum Verlust ihrer Eigenstaatlichkeit führen wird. Diese konkreten Ziele wurden jedoch bisher nicht genannt; bei der SMO ging es um die Verteidigung des Donbass gegen den Völkermord und um die Entnazifizierung der Ukraine, was an sich ein eher vages Konzept ist.
Die Aufstockung der von Russland in der Ukraine stationierten Streitkräfte um weitere 300.000 Mann unter Waffen stellt nahezu eine Verdoppelung dar und wird mit Sicherheit den Mangel an Infanteristen beheben, der Russlands Fähigkeit, die Ukraine zu „erobern“, bisher eingeschränkt hat. Gerade der Mangel an Bodentruppen erklärt den für Russland schmerzhaften und etwas peinlichen Rückzug aus der Region Charkow in den vergangenen zwei Wochen. Die russischen Soldaten konnten der massiven Konzentration der ukrainischen Streitkräfte gegen ihre eigene, nur dünn bewachte Stellung in der Region nicht standhalten. Der strategische Wert des ukrainischen Sieges ist fraglich, aber er hat die Moral der ukrainischen Truppen erheblich gestärkt, was ein wichtiger Faktor für den Ausgang eines jeden Krieges ist. Der Kreml seinerseits konnte dies nicht einfach ignorieren.
Auf der Pressekonferenz in Samarkand letzte Woche nach dem Ende des jährlichen Treffens der Staatsoberhäupter der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit SOZ wurde Wladimir Putin gefragt, warum er angesichts der ukrainischen Gegenoffensive so viel Zurückhaltung zeige. Er antwortete, dass die russischen Angriffe auf ukrainische Elektrizitätswerke, die auf den Verlust des Gebiets von Charkow folgten, nur „Warnschüsse“ waren und dass weitere deutlich „wirkungsvollere“ Maßnahmen folgen werden. Dementsprechend müssen wir in dem Maße, in dem Russland von der SMO zum offenen Krieg übergeht, mit einer massiven Zerstörung der ukrainischen zivilen und militärischen Infrastruktur rechnen, um alle Bewegungen der vom Westen gelieferten Waffen von den Lieferpunkten in der Region Lwów und an anderen Grenzstellen hin zur militärischen Front vollständig zu blockieren. Schließlich ist auch mit der Bombardierung und Zerstörung der ukrainischen Entscheidungszentren in Kiew zu rechnen.
Was ein weiteres Eingreifen des Westens angeht, so haben die westlichen Medien die kaum verhüllte nukleare Drohung Präsident Putins an potenzielle westliche Kriegsteilnehmer aufgegriffen. Russland hat ausdrücklich erklärt, dass jede Aggression gegen seine eigene Sicherheit und territoriale Integrität, wie sie in den USA von Generälen im Ruhestand in den letzten Wochen in Fernsehbeiträgen über den Zerfall Russlands geäußert wurde, mit einer nuklearen Antwort beantwortet werden wird. Wenn sich die nukleare Drohung aus Russland nun aber direkt gegen Washington richtet, wie es jetzt der Fall ist, und nicht mehr, wie bisher von den USA angenommen, nur gegen Kiew oder Brüssel, ist es unwahrscheinlich, dass die politischen Entscheidungsträger auf dem Capitol Hill gegenüber dem militärischen Potenzial Russlands noch lange gleichgültig bleiben und weiter auf eine Eskalation des Krieges setzen.
Eine Präzisierung
In Anbetracht all dieser Entwicklungen sehe ich mich veranlasst, meine Einschätzung der Ereignisse auf dem Treffen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit SOZ etwas zu revidieren. Die westlichen Medien haben ihre ganze Aufmerksamkeit auf ein einziges Thema gerichtet: die angeblichen Reibereien zwischen Russland und seinen wichtigsten globalen Freunden, Indien und China, wegen des Krieges in der Ukraine. Das schien mir stark übertrieben zu sein. Jetzt scheint es gar richtiger Unsinn zu sein. Es ist unvorstellbar, dass Putin mit Xi und Modi nicht eingehend besprochen hat, was er in der Ukraine zu tun gedenkt. Denn wenn Russland nun tatsächlich einen weitaus größeren Teil seines militärischen Potenzials für seine Kriegsanstrengungen in der Ukraine bereitstellt, dann ist es durchaus vernünftig zu erwarten, dass der Krieg bis zum 31. Dezember dieses Jahres mit einem russischen Sieg enden wird, wie es der Kreml seinen treuen Anhängern versprochen zu haben scheint.
Fazit
Abgesehen vom möglichen Verlust der ukrainischen Eigenstaatlichkeit wird ein russischer Sieg für Washington dann mehr bedeuten als nur eine blutige Nase wie in Afghanistan. Ein russischer Sieg wird den geringen Wert des militärischen Schutzschirms der USA für die EU-Mitgliedstaaten offenlegen und zwangsläufig zu einer Neubewertung der europäischen Sicherheitsarchitektur führen, was die Russen bekanntlich schon vor ihrem Einmarsch in die Ukraine im Februar von den USA und der NATO ausdrücklich gefordert hatten.
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Meinungen in Beiträgen auf Globalbridge.ch entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Zum Originalartikel von Gilbert Doctorow hier anklicken. Die Übersetzung besorgte Christian Müller.
Zum Autor Gilbert Doctorow: «Gilbert Doctorow is an independent political analyst based in Brussels. He is a magna cum laude graduate of Harvard College and holds a doctorate in Russian history from Columbia University. From a position as postdoctoral fellow at Harvard’s Russian Research Center in 1975 he transitioned to corporate business, serving major U.S. corporations in their ambition to establish industrial projects in the USSR under conditions of detente. His twenty-five year business career culminated in the position of Managing Director, Russia during the years 1995-2000. Since 2010, Doctorow has published collections of his weekly essays on US-EU-Russian relations and most recently brought out a two volume edition of his diaries and reminiscences. Volume I of „Memoirs of a Russianist,“ bears the subtitle „From the Ground Up“ and sets out the background to his analytic mindset on Russia, on the United States that we see in his present-day essays. Volume II – „Russia in the Roaring 1990s“ is one of the first monographs devoted to the life and times of the foreign community of corporate managers in Moscow and St Petersburg that numbered 50,000 families in the capital alone in 1995. It documents in diary entries and newspaper clippings how the Russian market was won by foreign interests in the 1990s, only to be lost in the spring of 2022 by the sanctions and „cancel Russia“ policies of the Collective West. A Russian language edition in a single 780 page volume was published by Liki Rossii in St Petersburg in November 2021. – Zu Gilbert Doctorows Website hier anklicken.