Patrik Baab: «2022 konnte Deutschland endlich mal die Russen anklagen.»
Im Zentrum der russischen Hauptstadt, direkt am Fluss Moskwa und nicht weit von der Universität für Schifffahrt, liegt der Buchladen Rupor. Es ist ein kleiner Laden mit Literatur für ein kritisches, intellektuelles Publikum. Auch das Buch des deutschen Journalisten Patrik Baab „Auf beiden Seiten der Front“, das im Dezember 2024 im Moskauer Gnosis-Verlag erschienen ist, kann man hier kaufen. Eben in diesem Buchladen mit angrenzendem Café hielt Patrik Baab am 18. Oktober einen Vortrag vor jungen Russen. Unterstützt von zwei Übersetzern – Wladimir Fomenko und Oleg Nikiforow –, trug der Autor zwölf Thesen zum Krieg in der Ukraine vor. Baab war Mitte Oktober nach Moskau gereist, weil er für seinen neuen Youtube-Kanal „Gegen den Strom“ US-amerikanische Politologen interviewte, die er in Moskau treffen konnte.
In Deutschland wurde Patrik Baab einem breiteren Publikum bekannt, nachdem ihm sowohl von der Christian-Albrecht-Universität in Kiel als auch von der Hochschule für Medien und Kommunikation und Wirtschaft in Berlin Lehraufträge gekündigt wurden. Der Grund: Baab habe 2022 in einer Weise aus dem Donbass berichtet, die „dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine“ nütze.
Doch Baab gab nicht klein bei. Er war als Reporter schon in zahlreichen Kriegsgebieten gewesen und er hatte ein Buch über ein besonders heißes Eisen geschrieben, nämlich über den Tod von Uwe Barschel und Olof Palme. Er setzte seine Aufklärungsarbeit fort und fuhr 2024 nochmals für eine Recherche in die von Russland kontrollierten Gebiete im Donbass, ein Gebiet, in das der deutsche Mainstream fast nie Korrespondenten schickt. Wegen seiner Hartnäckigkeit und seiner offenen Sprache ist Baab heute ein gefragter Interviewpartner für alternative Video-Kanäle, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Schweden und den USA.
Zwölf Thesen zur Lage in Deutschland und Europa
Im Rahmen des Aufenthalts in Moskau trat Baab im Moskauer Buchladen „Rupor“ auf. Knapp 20 junge Leute waren gekommen. Dass nicht mehr kamen, lag wohl daran, dass der Buchladen eine Viertelstunde von der nächsten U-Bahn-Station entfernt liegt. Baab stellte zwölf Thesen zur aktuellen Lage in Europa vor. Anschließend stellten die Zuhörer dem Referenten Fragen. Hier in Kurzform die zwölf Thesen, die es in sich haben:
- Deutschland stehe wirtschaftlich am Rande des Abgrunds. Der „Deal“ zwischen Ursula von der Leyen und Donald Trump im Zoll-Streit gehe „eindeutig zu Lasten Deutschlands.“ Der „deutsche Trittbrettfahrer-Imperialismus“ und das Ziel, Russland in die Knie zu zwingen, seien gescheitert.
- Jetzt räche sich die „politische Selbstversklavung“ der Bundesrepublik gegenüber den USA. Bei dem Treffen mit Trump im August im Weißen Haus seien die EU-Vertreter dagesessen „wie Schuljungen, die etwas ausgefressen hatten. Eine Farce der Unterwerfung.“ Deutschland habe sich in den Ukraine-Krieg hineinziehen lassen, obwohl von vorneherein „auch der Trump- Administration klar war, dass die Ukraine den Krieg nicht gewinnen kann.“ Russland habe sich wirtschaftlich restrukturiert und sich politisch und wirtschaftlich Asien zugewandt. Insgesamt 153 von 193 Nationen in der UNO-Vollversammlung würden weiter mit Russland Handel treiben.
- Militärisch habe Deutschland mit der NATO „den Krieg in der Ukraine verloren.“ Die russischen Truppen rücken auf breiter Front vor. „Mehr als 1,7 Millionen Soldaten der Ukraine“ seien gefallen oder würden vermisst. Das schmälere nicht die russischen Verluste, aber das zeige die Dimensionen. Der Referent erklärte, nach seinen Informationen habe Russland zurzeit 780.000 Mann in den Kriegsgebieten. Trump wolle den Ukraine-Krieg „als Verlustgeschäft abschreiben und den Krieg europäisieren.“ Trump schiebe die Verantwortung für eine Niederlage seinen Vasallen in Europa zu. Die Annäherung von Russland und den USA dränge Europa in die Peripherie.
- Deutschland erlebe einen Prozess „des kulturellen Niedergangs“ und „der moralischen Verwahrlosung“. Gegenüber der Ukraine vertrete Europa den Standpunkt, „wir liefern die Waffen, ihr liefert die Leichen.“ In Deutschland seien Sätze gefallen wie die Russen seien „eigentlich keine Europäer“. Russen hätten „eine andere Beziehung zum Tod“, sie seien „Tiere“ und „Schweine.“ Es gebe eine Renaissance des Rassismus. Das alles widerstrebe „dem Friedensgedanken der deutschen Verfassung.“
- Die deutsche Wirtschaft befinde sich in einem Prozess der Selbstzerstörung. Mit der Reformpolitik der Regierung Schröder seien 2002 die Veräußerungsgewinne von Unternehmen und Banken steuerlich freigestellt worden. Die Verkaufserlöse seien in „toxischen Wertpapieren“ angelegt worden. Das habe zur Folge gehabt, dass sich US-Finanzinvestoren in alle großen deutschen Konzerne einkauften. Deutschland sei auf diese Weise in den Strudel der Finanzkrise geraten. Um die Banken zu retten, wurden ihre Schulden vom Staat übernommen. Die Refinanzierung des deutschen Staats liege jetzt „in den Händen jener US-Finanzinvestoren, die am Krieg Milliarden verdienen.“ Unternehmen wie BlackRock und J.P. Morgan könnten „gegen die Kriegsanleihen jedes Staates spekulieren, der aus dem Kriegskurs ausschert.“
- Die deutsche Politik folge dem Primat der Finanzindustrie und zerstöre damit ihre industriellen Grundlagen. In allen westlichen Staaten falle die Profitrate. Dem Fall der Profitrate könne entgegengewirkt werden durch die Erschließung neuer Absatzmärkte, durch billigere Rohstoffe und die Senkung des Arbeitslohnes. Alles dies biete die Ukraine.
- Die NATO-Osterweiterung sei der Hauptgrund des Krieges in der Ukraine. Bei dem Staatstreich in der Ukraine im Februar 2014 hätten EU-Diplomaten „wie auf dem Basar“ mit ukrainischen Faschisten über die Zahl der Morde verhandelt, die man für erforderlich hielt, um den gewählten ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch aus dem Amt zu drängen. Die Morde seien ausgeführt worden von „galizischen Nazis“ sowie acht Scharfschützentruppen von jeweils zehn Mann aus der Westukraine, Polen, Litauen und Georgien. Das US-Portal The Grayzone habe ein Papier des Institute for Statecraft – einem Ableger der NATO – aus dem Jahre 2014 veröffentlicht, indem detailliert dargelegt wird, wie man Russland in die Ukraine lockt, um Russland dort eine Niederlage zu bereiten.
- Der Ukraine-Krieg werde begleitet „von der größten Lügenpropaganda, die den Deutschen seit 1945 vorgesetzt wurde“. Die deutsche Bevölkerung wird von der Mainstream-Medien über die Ursachen des Krieges nicht informiert und „willentlich hinters Licht geführt.“ Propaganda wird in Deutschland nicht mehr als Zwang empfunden. Die „friedenspolitische Vorstellungkraft“ verkümmere.
- Deutschland und Europa ständen „wirtschaftlich vor dem Kollaps.“ In den letzten Jahren habe Europa Hunderte Milliarden Euro in den Ukraine-Krieg gesteckt, davon kämen allein 50 Milliarden aus Deutschland. Wenn Trump die EU zwinge, die Ukraine aufzunehmen, müsse die EU 800 Milliarden für den Wiederaufbau der Ukraine zahlen.
- Die Gefahr einer Staatsschuldenkrise und der drohende Zusammenbruch des europäischen Finanzsystems zwinge die europäischen Regierungschefs, „mit dem Krieg weiterzumachen.“ In fünf bis zehn Jahren sollen europäische Truppen in der Ukraine Russland die Stirn bieten können. Man will Russland das Lithium wieder entreißen. Bei zwei Millionen Kriegstoten könnten die europäischen Eliten nicht mehr zurück. Eine Niederlage führe „unweigerlich dazu, dass abgerechnet wird.“ Dann gäbe es Rücktritte und strafrechtliche Ermittlungen. Ohne die USA könne Europa Russland aber „nicht niederringen“, deshalb wollten die europäischen Politiker „die USA unbedingt dabeihaben.“
- Der Krieg in der Ukraine sei „ein Krieg gegen die deutsche Bevölkerung und die Demokratie“. Die Demokratie solle abgeschafft und durch eine neue Form der Diktatur ersetzt werden. Das Militär solle so hochgerüstet werden, dass man „innere Unruhen niederschlagen kann.“
- Deutschland sei ein Land ohne Opposition. Die Bevölkerung zeige keinen Mut und keine Gegenwehr. „Zivilcourage und demokratischer Kampfgeist“ seien „völlig erlahmt.“ Die Bevölkerung werde durch kostenlose Internet-Angebote zahm gehalten. Das Ergebnis sei ein blockierter Konflikt. Man vertraue den Autoritäten. Die Geschichte werde gegen Russland umgeschrieben. Das ermögliche eine „Schuldumkehr“. Anstatt sich an die eigene Schuld, den Mord von 27 Millionen Sowjetbürgern beim deutschen Überfall auf die UdSSR zu erinnern, werde das verdrängte Schuldgefühl als Aggression gegen Russland gelenkt.
Deutschland stehe unter den Völkern der Welt wieder besudelt da. Die Völker des Südens würden den Genozid in Gaza und im Donbass und die mehr als 20.000 Sanktionen gegen Russland „niemals verzeihen“.
Nur noch Fundamentalopposition könne eine Wende bringen. Vielleicht werden die Sozialkürzungen zu Protesten führen. Nötig sei ein „Bündnis für Frieden und Sozialstaat“.
Wer sich an stürzende Imperien klammere, werde „mit in den Abgrund gerissen.“
Fragen der Zuschauer
Nach dem Vortrag fragte eine junge Frau, ob Sarah Wagenknecht und die AfD „keine richtige Alternative“ seien? Baab antwortete, eigentlich hätten in diesem Jahr in Deutschland, einem Land mit 85 Millionen Einwohnern, drei Millionen Menschen auf die Straße gehen müssen. Aber es seien Mitte September/Anfang Oktober nur jeweils 15.000 zu Friedensdemonstrationen in Berlin gekommen. Sarah Wagenknecht und die Berliner Friedenskoordination hätten sich nicht auf eine gemeinsame Demonstration einigen können.
Die Friedensbewegung sei an der Frage gespalten, ob Russland als „Alleinverantwortlicher“ für den Ukraine-Krieg hingestellt werden soll. Die Friedenskundgebungen würden dadurch geschwächt, dass sie keine Redner der AfD auf den Bühnen zulassen, obwohl die AfD für Frieden mit Russland ist. Für die Friedensbewegung gelte weiter die „Brandmauer“, obwohl diese Brandmauer „die Lebensversicherung des herrschenden Parteienkartells“ sei. Eben dieses Kartell habe Deutschland „in den Krieg hineingeführt“. Das BSW habe sich durch das Eingehen auf Koalitionen in Brandenburg und Thüringen selbst geschwächt.
Die AfD sei in zwei Flügel gespalten. Ein Flügel sei für Frieden mit Russland, doch die Transatlantiker in der Bundestagsfraktion würden immer stärker. Nach den nächsten Bundestagswahlen werde es wahrscheinlich zu Koalitionsverhandlungen zwischen CDU und AfD kommen.
Auch die zweite Frage kam von einer jungen Frau. Sie wollte wissen, was der Referent von der These des französischen Präsidenten Macron halte, der Krieg in der Ukraine werde zehn Jahre dauern. Baab antwortete, Macron habe wie Bundeskanzler Scholz seine Position zum Krieg verändert. Die Äußerung von Macron sei „ein Anflug von Realismus“.
Der Autor erzählte dann von seinem Besuch auf der Buchmesse in Frankfurt am Main. Dort habe er einen Vizepräsidenten des deutschen Bundestages getroffen. Der habe ihm frank und frei erklärt, man werde die russischen Öl- und Gasförderanlagen mit Tomahawks zerschießen. So werde man die Russen „kleinkriegen“.
Baab meinte, ähnliche Worte habe er in Hitlers „Mein Kampf“ von 1926 gelesen. Dort heiße es auf Seite 750 „wir treten Stalin die Tür ein.“ Der Autor erklärte, die deutschen Eliten seien „verblödet und infantilisiert.“ Aber er könne die Deutschen von der Verantwortung für die politische Entwicklung nicht freisprechen.
Der Autor dieser Zeilen fragte, warum es in Deutschland keinen Trump gibt und ob es vorstellbar sei, dass sich in Deutschland eine faschistische Bewegung entwickelt, die auch gegen die USA auftritt. Darauf antwortete der Referent, „die Vasallen machen alles mit. Merz ist Mitglied der Atlantik-Brücke.“ Die Kumpanei Deutschlands mit ukrainischen Faschisten und das Söldnerunwesen stärke europaweit die faschistischen Kräfte. Eine Massenbewegung sei das aber bisher nicht.
Es gebe jedoch noch eine zweite Tendenz: Ein italienischer Schriftsteller habe gesagt, der neue Faschismus werde nicht als Faschismus daherkommen. Faschismus sei heute nicht mehr erforderlich, denn durch den Digital Services Act der EU „gegen Desinformation“ sei die Pressefreiheit massiv bedroht. Ein Foto, auf dem Frank-Walter Steinmeier und der ukrainische Faschistenführer Oleh Tjagnibok 2014 gemeinsam zu sehen sind, sei aus dem Internet komplett verschwunden.
Ein junger Mann fragte, ob nur noch das Vorgehen der russischen Armee in der Ukraine die Voraussetzung dafür schaffe, dass sich die Lage in Deutschland verändere. Der Referent antwortete, wenn Teile der Bevölkerung in Wolkenkuckucksheimen lebten, werde der Aufprall in der Realität umso schmerzhafter sein.
Für Putin gehe es um alles. Für Russland sei es ein „Entscheidungskampf“. Russland werde keinen Schritt zurückgehen. Doch das komme im Westen „nicht an“. Die USA sagten einfach, wenn ihr für uns in der Ukraine Krieg führen wollt, „dann macht doch“. Wenn Mitteleuropa dann irgendwann zerstört ist, werden die westlichen Politiker mit Kinderaugen davorstehen und erklären, „das haben wir nicht gewollt und nicht gewusst.“ Aus diesen Gründen sei es an der Zeit, dass sich die Bevölkerung in Europa „wie in der russischen Revolution 1917 und in der deutschen Novemberrevolution zur Wehr setzt.“
Eine Frau – Ende 40 – fragte, wohin „der deutsche Pragmatismus“ verschwunden sei? Ob die Deutschen sich jetzt für etwas rächen wollten?
Der Referent antwortete, es falle schon auf, „wie schnell es gelungen ist, die deutsche Bevölkerung wieder in den Russenhass zu führen. Das ist nicht nur Propaganda.“ In den Geschichtsbüchern, „die ich in den 1960er- und 1970er Jahren genossen habe, waren die Juden die Opfer, nicht die Russen.“ Für viele Deutsche sei es „schwierig“, die Verantwortung für die 27 Millionen toten Bürger der Sowjetunion zu übernehmen. „Im Jahr 2022 hatte ich den Eindruck, dass man nun endlich mal die Russen anklagen kann.“
Ein junger Mann fragte, warum Russland nicht in die NATO aufgenommen wurde. Der Referent: „Weil die Amis das nicht wollten.“ Als Jeffrey Sachs Anfang der 1990er Jahre vorgeschlagen habe, dass der Weltwährungsfond Russland – wie vorher schon Polen – bei der Währungsumstellung helfe, war die Antwort, ‚die lassen wir hängen‘.
Angesichts der massiven Kritik, die Patrick Baab an den Zuständen in Deutschland äußerte, könnte man den Eindruck gewinnen, er habe sein Heimatland abgeschrieben. Aber das Gegenteil ist der Fall. Baab meint offensichtlich, man könne Deutschland nur retten, wenn man Wahrheiten in aller Deutlichkeit ausspreche.
Auf die Zuhörer in Moskau wirkte der Vortrag zumindest anregend. Sie liefen nach der Veranstaltung nicht gleich auseinander. Beim Bier wurden noch weitere Gespräche geführt. Man kann nur hoffen, dass die Werbung für das nächste Treffen mit dem Autor aus Deutschland besser läuft und eine Universität oder Bibliothek ihre Türen öffnet.
Texte und Videos zum Thema:
Patrik Baab: „Nach einem neuen Krieg gegen Russland wird es Deutschland nicht mehr geben“
Quo vadis Deutschland? Runder Tisch von Deutschen und Russen im Moskauer Europa-Institut
Welchen Weg geht Deutschland? – Europa-Institut Moskau Runder Tisch, Patrik Baab, Ulrike Guerot u.a.
Nachdenken über Deutschland und die Welt auf der Moskauer Buchmesse “non/fictioN”
Moskau: Patrik Baab liest aus „Auf beiden Seiten der Front“ Teil 1 Немецкий журналист Бааб в Москве
Teil 2 / Moskau: Russen befragen deutschen Buchautor Patrik Baab / Немецкий журналист Бааб в МосквеBuchautor Patrik Baab über die Eindrücke seiner neuen Reise in das Kriegsgebiet Donbass