Nicht nur für Touristen, die Moskau besuchen, auch für viele Leute in Moskau selbst, gehört eine Fahrt auf einem Schiff auf der Moskwa zu den beliebten Sonntagsvergnügen. (Foto CM)

Paradoxien und Missverständnisse des russischen Lebens

(Red.) Während sich der Herausgeber und Allein-Redakteur von Globalbridge.ch an einem internationalen Kongress – «Mut zur Ethik» – zahlreiche hochinteressante Referate aus verschiedenen Ländern anhörte, hat unser Korrespondent in Moskau, Stefano di Lorenzo, in die Tasten gehauen. Er hat versucht, ein paar seltsame Vorstellungen von Russland zu korrigieren und einige Missverständnisse über Russland auszuräumen. (cm)

Vor einiger Zeit habe ich mit meiner Mutter telefoniert, sie hatte Geburtstag. Meine Mutter lebt am Stadtrand von Mailand, ich lebe seit 15 Jahren im Ausland. Trotz all der Klischees, die über Italiener kursieren, bin ich kein großes Muttersöhnchen und spreche nur zu sehr besonderen Anlässen mit meiner Mutter. Das heißt, im besten Fall, zwei oder drei Mal im Jahr. Und bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen wir uns unterhalten, ist meine Mutter natürlich neugierig und will etwas über das Leben in Russland wissen, so wie es heute viele Menschen tun, wenn sie erfahren, dass ich seit einigen Jahren regelmäßig nach Russland komme und seit über einem Jahr jetzt sogar in Moskau lebe.

Es war ein warmer Abend Mitte Mai. Nur eine Woche zuvor hatte es (aber wirklich nur ein kleines bisschen) geschneit, jetzt aber war das Wetter sehr schön. In Moskau scheint es wirklich, um es mit einer italienischen Redewendung zu sagen, keine Zwischensaison mehr zu geben. Es ist entweder kalt oder heiß und der Übergang erfolgt sehr schnell. An diesem Abend waren die Straßen, wo die ganzen Bars und Cafés sind, überfüllt. Wie viele Europäer weiß auch meine Mutter eigentlich ziemlich wenig über das Leben im heutigen Russland. Sie war noch nie hier und hat auch nicht im Entferntesten daran gedacht, hierher zu reisen, wie eben die meisten Europäer. Dennoch glaubt sie, mehr oder weniger alles über Russland zu wissen, was es zu wissen gibt, weil sie jeden Tag mehrmals täglich die Nachrichten im TV schaut. Das, was man da hört, muss nicht besonders gut sein, denn Russland scheint den meisten Europäer etwas Angst zu machen. 

An jenem Maiabend, als die ganze Stadtbevölkerung auf die Straßen zu strömen schien, um das Leben zu genießen, fragte mich meine Mutter allen Ernstes, ob es möglich sei, in Russland nachts auszugehen. Als ob Russland etwa Nordkorea oder ein anderer despotischer, vollkommen totalitärer Staat wäre, ein Land der ewigen Finsternis, in dem jede Bewegung der Bürger kontrolliert wird. Die Frage wirkte auf mich ziemlich verblüffend. Ich schaute mich um. Ich sah Menschen lachen, trinken, flanieren. Wie soll ich jetzt die Frage beantworten? Würde mir meine Mutter glauben, wenn ich ihr erzählen würde, was ich gerade vor mir sah? Oder würde sie denken, dass ich jetzt ein nützlicher Idiot Putins geworden war, weil ich sagte, dass es hier eigentlich ziemlich schön sein kann? 

Immerhin kann man meiner Mutter diese Art von besorgten Fragen in gewisser Weise verzeihen. Wenn man die westlichen Nachrichten verfolgt und die europäischen Zeitungen liest, hat man den Eindruck, dass in Russland überall eine Atmosphäre der Kriegsdiktatur herrscht, dass die Menschen nichts anderes tun können, als verängstigt in ihren Häusern zu sitzen, dass das Land nur von dem sadistischen Wunsch getrieben wird, gegen die „zivilisierte Welt“ einen Krieg zu führen, nur weil es neidisch auf deren Freiheiten ist. Ich weiß, es klingt unglaublich, aber für viele Menschen in Russland ist es auch im Jahr 2024 noch möglich, zu leben und dabei Freude zu empfinden. Ja, es klingt schockierend für die meisten Europäer, aber es ist möglich, in Russland heute glücklich zu sein!

Natürlich verstehe ich das sehr gut, dass meine Entscheidung, in Russland zu leben, ziemlich ungewöhnlich war, vor allem, wenn man sie aus der Perspektive der europäischen Rationalität betrachtet. Was hat man heute als guter, respektabler europäischer Bürger in Russland zu suchen? Als ich Anfang Februar 2022 zum ersten Mal seit fast 14 Jahren wieder in Moskau ankam, hatte ich mir sicherlich etwas anderes vorgestellt. Nach zwei Pandemiejahren war ich vielleicht zu leicht begeistert von der Aussicht, in eine neue Stadt zu ziehen. Ich dachte bereits über den Artikel nach, den ich schreiben würde, „Frühling in Moskau“, das würde der Titel sein. In jenen Wochen gab es viel Gerede über die bevorstehende russische Invasion in der Ukraine. Die Russen leugneten alles. Selbst in der Ukraine lud man zur Skepsis ein. All die Schreckgespenster über einen drohenden Krieg zwischen Russland und der Ukraine würden sich als bloße Schauergeschichten herausstellen. Ich war auf dem Weg nach Moskau durch Charkiw in der Ukraine gefahren, und selbst einige prominente ukrainische Experten schienen mir, anhand dessen, was ich in der örtlichen Presse gelesen hatte, zuzustimmen: Es würde keine Invasion geben, das sei alles Unsinn, um die Gesellschaft unter Kontrolle zu halten, alles würde gut enden. Nun, dieses „gut“ kam etwas anders als erwartet.

Als im Februar 2022 die letzte Phase des Krieges in der Ukraine begann, verließen viele in Russland lebende Europäer aus Angst vor den plötzlichen Entwicklungen das Land. Früher war es so schön, es gab hier viel mehr Ausländer, habe ich in den letzten zwei Jahren oft von den Leuten in Moskau gehört. Ich hingegen war gerade erst angekommen und wollte nicht so einfach wieder in ein anderes Land ziehen, auch wenn alles ziemlich schwierig werden könnte. Ich will jetzt hier nicht auf die praktischen Schwierigkeiten eingehen, die jemand wie ich hat, der versucht, als freier Journalist in einem Land über die Runden zu kommen, dessen Bankensystem vom Rest der Welt abgeschnitten ist. Aber ok, wenn ich einen guten Job gewollt hätte, hätte ich mich definitiv nicht für den Beruf des freien Journalisten entschieden. Selber schuld. (Siehe redaktionelle Anmerkung am Ende des Beitrages. Red.)

Doch trotz aller Schwierigkeiten, der Sanktionen und des Kriegs gibt es heute nur sehr wenige Russen, die etwas gegen Europäer haben. Europa befindet sich praktisch im Krieg mit Russland — man muss sich nur die Reaktion der EU auf die Friedensmission des ungarischen Ministerpräsidenten Orban ansehen, um das zu erkennen —, aber selbst bei den eifrigsten Unterstützern der so genannten militärischen Sonderoperation habe ich selten eine persönliche Feindseligkeit gegen mich erlebt, wenn sie erfahren, dass ich aus einem „feindlichen Land“ komme. Es hätte natürlich schlimmer sein können, ich hätte aus den USA stammen können, aber selbst gegenüber den Amerikanern in Moskau habe ich keine Antipathie verspürt, zumindest ist das, was mir Amerikaner in Moskau gesagt haben. 

In Russland habe ich für zwei Wochenzeitungen, Literaturnaja Gazeta („Die literarische Zeitung“) und Argumenty Nedeli („Die Wochenargumente“), geschrieben. Beide haben meine Artikel gerne veröffentlicht. Aber ich habe keinen einzigen Cent dafür bekommen. In Russland finde ich es wirklich super, dass Zeitungen sehr billig sind und dass man mit ein paar Euro vier oder fünf davon kaufen kann. Für jemanden wie mich, der Zeitungen liebt, ist das wirklich eine sehr angenehme Sache. Die Kehrseite der Erschwinglichkeit von Zeitungen ist jedoch, dass es den Printjournalisten finanziell und in Bezug auf die Stabilität ihres Arbeitsplatzes nicht gerade gut geht. Im Westen kursiert ja seit einigen Jahren der Mythos, dass jeder, der sich kritisch über die westliche Politik äußert, zwangsläufig im Sold der allmächtigen Propagandamaschine des Kremls stehen müsse. Dabei handle es sich um einen Frankenstein, der über schier unendliche finanzielle Mittel verfüge und bereit sei, jeden, der einen westkritischen Kommentar ins Netz stelle, mit Geld zu überschütten. Denn wer sonst als eine von Putin bezahlte Person käme auf die Idee, die europäische und amerikanische Politik gegenüber der Ukraine und Russland zu kritisieren? Was mich betrifft, so hat mir meine Kritik am Westen finanziell nicht viel gebracht. Der Kreml hat offensichtlich seine eigenen vertrauenswürdigen Leute, die für die Propaganda zuständig sind, und er ist nicht so großzügig mit seinen Mitteln, wie es der Ruf vermuten lässt …

Eine weitere Auswirkung der finanziellen Misere der gedruckten Presse ist, dass die legendäre russische Zensur nicht so total zu sein scheint, was die Zeitungen angeht. In Europa kennt doch jeder die Nowaja Gazeta, deren Chefredakteur Dmitri Muratow 2021 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Im April 2022 beschloss Nowaja Gazeta, die Veröffentlichung bis zum Ende der russischen Invasion in der Ukraine einzustellen, nahm sie aber einige Wochen später in einem neuen Format wieder auf. Die im Ausland verlegte und gedruckte Zeitung war jetzt nicht mehr in Zeitungskiosken zu finden, konnte aber bis vor einigen Monaten in einer der zentralsten Buchhandlungen Moskaus in der Twerskaja-Straße, direkt gegenüber dem Gebäude der Stadtverwaltung, durchaus gekauft werden. In den Zeitungskiosken kann man auch heute noch jede Woche die Zeitung „Sobesednik“ („Der Gesprächspartner“) kaufen, eine Zeitung mit einem äußerst kritischen Ton gegenüber dem Vorgehen der Regierung, die nur als radikale Opposition bezeichnet werden kann. Obwohl die Website in Russland gesperrt ist, wird die Zeitung weiterhin an Kiosken verkauft. Sie ist mit 70 Rubel, etwa 70 Cent, eine der teuersten Zeitungen. Opposition zu machen kostet offensichtlich Geld. 

In Europa sagt man mir, ich sei pro-russisch, weil ich den Westen kritisiere. In Russland sagt man mir, ich sei pro-westlich, weil ich nicht an Russland glaube („Verstehen kann man Russland nicht, nur glauben kann man an das Land“, hatte ein berühmter russischer Dichter im Jahr 1866 geschrieben). Ich bin kein Befürworter des Krieges in der Ukraine und habe daraus auch nie einen Hehl gemacht. Wegen des Kriegs ist man heute in Russland gegenüber Europa gewiss nicht immer ganz wohlgesonnen, aber die meisten Menschen in Russland sind gegenüber Europa nach wie vor viel wohlgesonnener, als die Europäer jemals gegenüber Russland sein könnten. In meinen in Russland veröffentlichten Artikeln für zwei Zeitungen, die man definitiv als ziemlich „patriotisch“ bezeichnen kann, durfte ich sogar argumentieren, dass Russland ein europäisches Land ist. Eine Meinung, die im Moment wahrscheinlich nicht gerade sehr populär ist, weil sich die russische Identität oft im Gegensatz zur europäischen und westlichen Identität definiert hat und in den letzten Jahren die Spannungen zwischen Russland und dem Westen nur zugenommen haben. Die Russen haben die europäische Verachtung gegen sie gespürt und waren darüber nicht besonders erfreut. Die Zeit der Minderwertigkeitskomplexe ist vorbei. 

Es stimmt zwar, dass viele „liberal“ eingestellte Russen Russland nach Beginn der letzten Phase des Krieges in der Ukraine verlassen haben. Aber es gibt auch viele Russen, die bis vor kurzem ziemlich oppositionell gesinnt waren, sich aber nach dem Februar 2022 mit Putin irgendwie innerlich versöhnt haben. Sie erkannten die wahre Haltung des Westens gegenüber Russland, und das war keine angenehme Entdeckung. Sie mögen den Krieg nicht unbedingt unterstützen, aber sie können sich nicht dazu bringen, ihr Land und ihre Kultur dermaßen zu verachten, dass sie sich eine Niederlage für Russland oder sogar seine Zerschlagung wünschen könnten.

In Europa hingegen wurde es fast zu einem Klischee, in Anlehnung an eine bestimmte polnische und angelsächsische historiographische Tradition, zu sagen, dass Russland nie europäisch gewesen sei und im Gegenteil die Antithese aller europäischen Werte verkörpere. Als ob Diktatur und expansionistische Aggression das genetische Schicksal seien, das in Russlands historischer DNA verankert sei. Manche in Europa sprechen sogar von einem wiederauflebenden Stalinkult im heutigen Russland. Putin sei Stalins wahrer Nachfolger und schaue auf Stalin mit Bewunderung. Natürlich ist das heutige Russland ein relativ autoritäres Land, und es gibt keinen Mangel an Stalin-Sympathisanten im heutigen Russland. Aber die Wahrheit liegt in den Proportionen. Stalin hat Millionen von Menschen terrorisiert und getötet. Kann man wirklich dasselbe vom heutigen Russland sagen? Ich denke nicht. Und so sehr ich mich in den letzten zwei Jahren in Russland auch bemüht habe zu suchen, ich habe nicht viele Spuren dieses angeblich wiederauflebenden Stalinkults gefunden. Sicher, in ein paar Provinzstädten — insgesamt in zwei, wenn ich mich nicht irre — wurden in den letzten zwei Jahren Stalin-Statuen aufgestellt. Aber kann man von einem neuen Kult um den sowjetischen Diktator sprechen? Ich verstehe, dass viele eine ungesunde Vorliebe für Horrorgeschichten haben, vor allem aus fernen Ländern. Es ist eine Art morbide Faszination mit dem Bösen. Aber sollte man nicht versuchen, nüchterner zu sein, wenn man die Welt verstehen will, wie sie wirklich ist? Das einzige, was ich in den letzten Jahren mit meinen Augen gesehen habe, das von einem neuen Stalin-Kult zeugen könnte, war ein Porträt von Stalin, das in einem georgischen Stand auf einer Moskauer Markthalle zum Verkauf stand. Ich schaue in Russland nicht so viel TV, als guter Europäer war auch ich mit meinem riesigen Gepäck an Vorurteilen nach Russland gekommen und hatte mir einreden lassen, dass der Kontakt mit dem russischen Fernsehen, sei es auch nur minimal, gefährlich sei und wie eine Gehirnwäsche wirke. Aber nach all dem, was ich gesehen habe, besteht das Fernsehprogramm heute keineswegs aus hagiographischen Filmen über Stalin.

Am Ende aber etwas Erstaunliches: Für viele Russen, die es gewohnt sind, im Privatleben über alles extrem offen und ohne allzu große Komplexe zu diskutieren, wirken die heutigen Europäer im Allgemeinen wie ein Haufen Spießer, die den Geschmack an der Freiheit verloren haben und geistig von allen Normen der neuen politischen Korrektheit gefangen gehalten werden. Oder wie brave Kinder, die sich von den bösen Russen so leicht erschrecken lassen. Nur, für all diese schönen überfrömmlerischen woke Trends, die im europäischen politischen und gesellschaftlichen Diskurs in den letzten 10-15 Jahren unentbehrlich geworden sind, haben die Russen null Zeit und Interesse. Es mag für die meisten lächerlich klingen, aber viele in Russland halten sich heute wirklich für geistig viel freier als im Westen. Russland mag heute nicht das freieste Land der Welt sein, aber es ist definitiv viel freier und deutlich weniger fürchterlich als man im Westen denkt.

Anmerkung der Redaktion: Globalbridge.ch zahlt Stefano di Lorenzo selbstverständlich ein faires Honorar. Es ist allerdings extrem schwierig geworden, dieses Honorar nach Russland zu überweisen, weil die Banken Zahlungen nach Russland verweigern. Es muss immer zuerst jemand gefunden werden, der in einem Land lebt, aus dem Zahlungen nach Russland noch möglich sind. – Globalbridge.ch ist auch für kleine Spenden sehr dankbar, denn die freiberuflichen Journalisten, die nicht bereit sind, nur zu schreiben, was die Verlage von ihnen verlangen, leben zur Zeit in einer extrem schwierigen Situation. Mehrere der auf Globalbridge.ch publizierten Autoren sind deshalb auf ein Honorar absolut angewiesen! Siehe dazu rechts oben: Globalbridge.ch unterstützen. (cm)