Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban und Russlands Präsident Wladimir Putin im von der EU hart kritisierten Gespräch in Moskau am 5. Juli 2024. (Bild TASS / Valery Sharifulin)

Orban und die europäische Vorstellung von Frieden

(Red.) Während die Reise des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban nach Moskau von „Brüssel“ als Verstoss gegen die EU kritisiert wurde und wird, hat Russland diese Reise begrüsst – trotz aller Meinungsverschiedenheiten in der Sache: Begrüsst wurden der Mut und die Bereitschaft eines Politikers aus der EU, das offene Gespräch zu suchen, statt nur alle möglichen Kontakte zu verbarrikadieren, wie es die offizielle EU tut. Stefano di Lorenzo aus Moskau hat sich zu den westlichen Kommentaren aus Politik und Medien seine Gedanken gemacht. (cm)

Viele in Europa mögen den ungarischen Regierungschef Viktor Orban gar nicht. Das ist seit Jahren kein Geheimnis. Selten liest man in der europäischen Presse, vor allem in der Presse, die von den „gebildeten Schichten“ gelesen wird, also die, die den Ton angibt, Worte des Lobes für Orban. Die Kritik an Orban ist so allgegenwärtig, dass es für die meisten fast unmöglich ist, auch nur im Entferntesten daran zu denken, dass man etwas Positives über ihn sagen könnte. 

Orban wird vorgeworfen, ein Diktator zu sein, die Demokratie zu verachten — und die Demokratie gilt ja heute als der universelle Wert überhaupt. Orban wird vorgeworfen, die europäischen Werte zu verleugnen, jene europäischen Werte, die die Grundlage für die moralische Überlegenheit des europäischen Zivilisationsmodells bilden sollten. Und eine Auseinandersetzung oder eine Diskussion außerhalb des Rahmens der sogenannten europäischen Werte sei ja nicht denkbar. All die Freiheiten, die Vielfalt der Meinungen, die Toleranz und all die schönen Dinge, auf die wir so unendlich stolz sind, seien nur im Rahmen dieser europäischen Werte möglich.

Orbans jüngste überraschende diplomatische Mission, die ihn zunächst in die Ukraine, dann nach Russland und China und nun auch in die USA führte, hat für viel Aufregung gesorgt und wurde von der Europäischen Union und vielen Medien heftig kritisiert. Viele waren schon vor dieser Reise einfach entsetzt darüber, dass ein Staatschef, der ihrer Meinung nach die europäische Einigkeit und die Rechtsstaatlichkeit untergrabe, nun (vorübergehend, für nur sechs Monate) einer der wichtigsten Vertreter der Union sein würde. Orbans jüngste Initiative hat die Dinge nur noch schlimmer gemacht.

Die Europäische Union legt, wie ihr Name schon sagt, seit Jahren großen Wert darauf, bei ihren diplomatischen (und nicht nur diplomatischen) Aktionen in der Welt Einigkeit zu demonstrieren. Einigkeit wäre also das oberste Gebot. Aber wer legt die Normen dieser Einigkeit fest? Die EU ist ein politisches Konstrukt, das aus 27 Ländern besteht, die zwar alle europäisch sind, sich aber in vielerlei Hinsicht stark voneinander unterscheiden. Sind wir wirklich sicher, dass in einer Gesellschaft, die offen sein will, auch intellektuell offen, um verschiedene Möglichkeiten zur Lösung konkreter Probleme zu konzipieren, Einigkeit das Wichtigste sein soll? War nicht bis gestern Vielfalt die höchste Tugend des 21. Jahrhunderts? Gewiss, die Brüsseler Aristokratie liebt die Einigkeit, und die Einigkeit wird gegen einen Feind gefestigt, die Projektion eines Feindes hilft immer zu vereinen. Aber sind wir sicher, dass diese Einigkeit die vernünftigste Wahl ist, wenn es darum geht, sehr heikle Probleme und Fragen zu lösen? Wäre es nicht vernünftiger, unterschiedliche Argumente vorzubringen, mit unterschiedlichen Ansätzen zu versuchen? 

Heute scheinen die Beweggründe und Anreize der Machthaber und der Bevölkerung der Regierten leider sehr unterschiedlich zu sein. Die Machthaber wollen ihre Macht erhalten und festigen und scheinen nicht unbedingt durch öffentliche Angelegenheiten motiviert zu sein. In gewisser Weise war dies schon immer so. Aber zumindest in früheren Epochen hatten die Herrscher den Anstand, sich nicht ständig mit tränenreichen Lobreden auf die Demokratie zu legitimieren. Die Regierten scheinen hingegen sich mit der Tatsache abgefunden zu haben, dass sie wenig Einfluss auf die Entscheidungen einer Kaste selbstgewählter Experten und Sachverständiger haben.

Das „Volk“ ist sich irgendwie bewusst, dass es den Kurs der großen Politik nur begrenzt bestimmen kann, trotz aller pompösen, unaufhörlichen und süßlichen Fanfaren über die Wichtigkeit der Demokratie. So setzt das „Volk“ sein naives Vertrauen in eine mögliche bessere Welt, die morgen oder übermorgen vielleicht kommen wird, delegiert dabei seine Entscheidungsfunktionen an eine sehr kleine Kaste von Menschen und dann wartet dann mit einem gewissen gutmütigen fatalistischen und ohnmächtigen Optimismus darauf, dass sich früher oder später alles zum Besten wenden wird. Dies sind keine aus der Luft gegriffenen Theorien. Das Konzept der Postdemokratie ist nicht besonders neu oder originell, es ist keine Verschwörungstheorie; im Gegenteil, es hat eine akademische Legitimation.

Sehen wir uns nun einige Beispiele für die Reaktionen an, die Orbans diplomatische Friedensmission hervorgerufen hat. Theoretisch sollte der Journalismus zumindest den Anschein von Objektivität und nüchterner Neutralität wahren, wenn er über Fakten und Ereignisse spricht. Zumindest ist dies das Bild, das der Journalismus von sich selbst pflegen möchte. Doch bei allem Respekt vor der (manchmal grenzenlosen) Eitelkeit so mancher Journalisten muss man leider feststellen, dass viele Beispiele dieser Orban-Kritik eine Bösartigkeit, Niedertracht und Manipulationskraft an den Tag legen, die an schamlose Unanständigkeit grenzt. 

Deutschlandfunk: FRIEDENSTAUBE ORBÁN: UNTERWEGS IM INTERESSE DES KREML

„Viktor Orbán ist auf einer ›Friedensmission‹ – rund um den Globus wirbt er für einen Waffenstillstand, vor Friedensverhandlungen. Also genau das, was Russland brauchen kann: mehr Zeit, um sich aufzurüsten.“

Ein Frieden oder zumindest ein Waffenstillstand wären also „im Interesse des Kremls“.

Neue Zürcher Zeitung: VIKTOR ORBAN REIZT MIT SEINEM CHINA-BESUCH DIE EU, ERREICHT DAMIT ABER NICHTS FÜR DEN FRIEDEN

„Der ungarische Ministerpräsident geriert sich als Friedenstaube, verfolgt aber tatsächlich bloss nationale und persönliche Interessen.“ 

„Dafür drängt Orban Kiew zur Kapitulation, was genau den Kriegszielen Putins entspricht. Er geriert sich als Putins Lakai, der dafür reichlich belohnt wird.“ 

„Stattdessen hat die EU durchaus Instrumente, um Orbans Sondertouren ins Leere laufen zu lassen. Diese setzt sie zunehmend routiniert ein. Auf ihre Ukraine-Politik hat Orban bis jetzt kaum spürbaren Einfluss. Rund 22 Milliarden Euro an Transferzahlungen wurden wegen rechtsstaatlicher Bedenken eingefroren. Die EU muss diesen Weg weitergehen und sich so weit wie möglich Orbans Doppelspiel entziehen.“

Die EU sollte Ungarn also bestrafen, weil Ungarn die harmonische und idyllische Einigkeit der EU zerstöre.

Aber es ist nicht nur der Journalismus. Starke Kritik an Orban kam auch von der Politik.

So kommentierte zum Beispiel die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula Von der Leyen auf der Online-Plattform X: „Appeasement wird Putin nicht aufhalten. Nur Einigkeit und Entschlossenheit werden den Weg zu einem umfassenden, gerechten und dauerhaften Frieden in der Ukraine ebnen.“ 

Irgendwie immer dasselbe alte Lied, das wir schon seit zwei Jahren hören.

Oder Josep Borrell, Hoher Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik:

„Ministerpräsident Orbán hat vom EU-Rat kein Mandat für einen Besuch in Moskau erhalten. Die Position der EU zu Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine findet sich in vielen Schlussfolgerungen des Europäischen Rates wieder. Diese Position schließt offizielle Kontakte zwischen der EU und Präsident Putin aus. Der ungarische Ministerpräsident vertritt also in keiner Weise die EU.

Außerdem sei daran erinnert, dass gegen den russischen Präsidenten Putin vom Internationalen Strafgerichtshof Anklage erhoben und ein Haftbefehl wegen seiner Rolle im Zusammenhang mit der Zwangsdeportation von Kindern aus der Ukraine nach Russland erlassen worden ist.“

Auch der polnische Ministerpräsident Donald Tusk – konnte man etwas anderes erwarten? – schloss sich an. Mit Blick auf Orban, der gesagt hatte, seine Reise sei ein „wichtiges Instrument für den ersten Schritt zum Frieden“, kommentierte der polnische Ministerpräsident sarkastisch: „Die eigentliche Frage ist: In wessen Händen liegt dieses Instrument?“

Die Europäische Union hat im Laufe der Jahre ein Image als Friedensbringerin, als Garantin des Friedens kultiviert. Ein vereintes Europa sollte der Faktor gewesen sein, der den Frieden in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg gesichert hat. Der Zweite Weltkrieg und die Erinnerung an diese Schrecken sind bis heute das historische Grundereignis in unserem Bewusstsein, die wahre epochale Zäsur. Vor allem für Deutschland, für das das Jahr 1945 zu einer echten Stunde Null wurde.

Doch es stellt sich die Frage: Was hat heute die Europäische Union zu bieten, wenn nicht die übliche abgedroschene und recycelte Rhetorik? Die Reden der großen Repräsentanten der Union sind so langweilig und unoriginell, dass sie jedes Jahr mit wenigen Änderungen wiederverwendet werden könnten. Es sind Allzweckreden, mit den üblichen schönen Worten über Demokratie und Freiheit, die zu jedem Anlass passen, ein bisschen wie Reden bei Geburtstagen und Hochzeiten, wie Sonntagspredigten über die grenzenlose Liebe des lieben Gottes in irgendeiner Provinzkirche. 

Die europäische Kaste feiert sich heute für ihre moralischen Tugenden, aber sie laufen Gefahr, damit alle in den Untergang zu treiben. Doch das scheint sie nicht zu kümmern, denn für sie sind Prestige, Anerkennung und ein tiefes Gefühl der moralischen Überlegenheit wichtiger. Und dieses tiefe Gefühl der moralischen Überlegenheit hat nie wirklich mit wahrer Moral und dem echten Wunsch, menschliches Leid zu verringern, zusammengepasst. 

Ein bescheidener Vorschlag

Es gäbe eine sehr einfache Möglichkeit, den Krieg in der Ukraine schnell zu beenden. Natürlich leben wir heute in hochtechnologischen Zeiten, Kriege werden nicht mehr nur mit Schwert und Gewehr geführt. Kriege werden von denjenigen geführt, die am wenigsten riskieren, dabei umzukommen. Dabei gibt es zahlreiche Menschen an der Front, die jeden Tag ihr Leben opfern. 

Angeblich sollte heute der Konsens, also die Position der Einigkeit, die Europa vermitteln will, darin bestehen, die Militärhilfe für die Ukraine beizubehalten. Dies wäre die Politik, die von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wird: Die Ukrainer wollen weiter für ihr Land und ihre Freiheit kämpfen, die Europäer würden die Ukrainer daher in diesem Kampf unterstützen, selbst wenn dieser noch viele Jahre dauern sollte. Wer dem nicht zustimmt, ist entweder eine Marionette des Kremls oder zumindest ein nützlicher Idiot Putins, ein Putinversteher, um dieses schon vor einigen Jahren in Mode gekommene hässliche Wort zu verwenden. 

Hier ist der bescheidene Vorschlag, der den Krieg in wenigen Tagen beenden könnte: Jeder, der glaubt, dass die Ukraine und Russland bis zum bitteren Ende kämpfen sollten, jeder, der glaubt, dass Russland besiegt werden sollte, also wirklich jeder, egal welchen Beruf er oder sie ausübt, jeder, der fest davon überzeugt ist, dass dies die einzig mögliche Lösung ist und jede andere Lösung eine Schande wäre, sollte bereit sein, sein Leben für den Sieg der Ukraine zu geben. Wenn Sie wollen, dass die Ukraine gewinnt, weil Sie sich von der Ukraine repräsentiert fühlen, dann sollten Sie bereit sein, an der Front für die Ukraine zu sterben, womöglich schon morgen. Ja, ja, Sie haben richtig gelesen: Sie wollen, dass die Ukraine gewinnt, dann müssen Sie bereit sein, dafür zu sterben. Das müssen Sie. 

Irgendwie hat man aber das Gefühl, dass in so einem Fall die vielen Tastatur- und Fernsehkrieger sowie die vielen tapferen pro-ukrainischen Demonstranten, die die Plätze in den europäischen Städten füllten, oder die Priester, die in ihren Kirchen die ukrainische Flagge entrollt hatten – ohne wahrscheinlich zu verstehen, worum es bei dem „Projekt Ukraine“ geht – innerhalb weniger Stunden verschwinden würden. Das Gleiche würde für verschiedene Baerbock, Kallas, Borrell und andere gelten. Diese sagen, sie kämpfen für unsere Freiheit und unseren Wohlstand, aber natürlich nicht um den Preis, ihre eigene Haut zu riskieren. Ehrgeiz ist manchmal sehr schädlich, vor allem, wenn man als Held dastehen will, obwohl man es nicht ist, und dabei ist man mehr als bereit, das Leben so vieler anderer Leute zu riskieren, aber nicht sein einiges.

Deshalb verdient Orban ein Lob. Die Reaktion auf Orbans Friedensmission zeigt das wahre Gesicht der Europäischen Union und der so genannten „liberalen“ Weltordnung.

„Es gibt nur einen europäischen Politiker, dem kurzfristig die Türen von Kiew bis Moskau, von Peking bis Washington geöffnet werden, und das ist nicht einer der Unbestechlichen aus Berlin oder Paris, sondern der viel geschmähte ungarische Ministerpräsident. Sie sind irrelevant geworden“, so Daniel Deme, Chefredakteur von Ungarn Heute.

Trotz der billigen und rührenden Rhetorik, an die die EU uns Europäer im Laufe der Jahre gewöhnt hat, hat die EU heute nichts mit Friedensordnung zu tun.