Wolodymyr Selenskyj, am 23. Februar 2022 zum letzten Mal mit Krawatte, damals noch legaler Präsident der Ukraine, magels von ihm selbst abgesagten Wahlen jetzt nur noch "Präsident" in Anführungszeichen. Wie immer auch der Krieg in der Ukraine weitergeht oder beendet wird, im Rückblick ist Selenskyj der Verlierer ... (Photo ua.gov)

Kommentar | Oh, Du lieber Augustin

In den Tagen um den 8. Mai – nach westlicher Lesart des Victory Europe Day – und dem 9. Mai, dem Tag des Sieges in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, haben die Beteiligten deutlich gezeigt, worum es ihnen im Krieg im Osten der Ukraine wirklich geht. – Eine Einschätzung der Motive der Protagonisten rund um allfällige Waffenstillstandsverhandlungen in Istanbul.

Während die Regierungschefs des Vereinigten Königreichs, Frankreichs, Polens und Deutschlands bei Wolodymyr Selenskyj in Kiew weilten, lancierte dieser mit einer Welle von über 500 Drohnen einen der heftigsten Luftangriffe auf Russland seit Kriegsbeginn. Kurz danach versuchten ukrainische Bodentruppen erneut, russisches Territorium unter ihre Kontrolle zu bringen: In Tetkino im äußersten Südwesten der russischen Oblast Kursk wurden sie aber wenige hundert Meter hinter der russisch-ukrainischen Landesgrenze gestoppt und vermochten offenbar nicht einmal temporär, die Siedlung unter ihre Kontrolle zu bringen. Das lässt darauf schließen, dass die Russen die ukrainischen Angriffsvorbereitungen erkannten und rechtzeitig den bedrohten Abschnitt verstärkten. Die ukrainischen Drohnen vermochten aber offenbar in Saransk, 650 km vom nächstgelegenen ukrainischen Territorium entfernt, Schaden unbekannten Ausmaßes anzurichten. Insgesamt haben die Ukrainer damit gezeigt, wozu sie militärisch noch imstande sind. Den Kreml wird es wenig beeindruckt haben. Gleichzeitig hat Selenskyj gezeigt, was er will: Er will keinen kurzen Waffenstillstand von wenigen Tagen Dauer, sondern eine echte militärische Verschnaufpause. Einen kürzeren wird er eh nicht einhalten. Die Frage ist, ob die Ukrainer derartige Angriffe nochmals versuchen: Ein Ausbleiben könnte dahingehend interpretiert werden, dass Selenskyj seine letzten Reserven in kurzen Strohfeuern verbrennt, um doch noch den Lucky Punch zu landen, den er braucht, um seine Verhandlungsposition zu verbessern. Jetzt wird man im Kreml aber nicht in Alarmstimmung verfallen, sondern schauen, was geschieht, bevor man Schlussfolgerungen zieht.

Anlässlich ihres Besuchs in Kiew haben Keir Starmer, Emmanuel Macron, Donald Tusk und Friedrich Merz gleichzeitig von neuen Sanktionen schwadroniert und mit einem europäischen Sondertribunal gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin gedroht, das zwar von niemandem legitimiert ist und in welchem europäische Beamte Ankläger, Verteidiger und Richter sein werden. Damit haben sie klargemacht, oder vielleicht auch eingeräumt, dass sie speziell und Europa allgemein bei der Lösung des Konflikts keine Rolle mehr spielen werden. Was für weitere Sanktionen sie noch ergreifen wollen, ist auch nicht ganz klar, denn irgendwann kommen Sanktionen einer Blockade gleich, die gemäß Völkerrecht eine Kriegshandlung darstellt. Alleine können sie aber keinen Krieg gegen Russland riskieren. 

Wenig überraschend hat der russische Präsident Wladimir Putin die Besuche zahlreicher Staats- und Regierungschefs in Moskau am 9. Mai zu Gesprächen genutzt. Er hat klargemacht, was er möchte: Eine definitive Lösung des Konflikts, inklusive Abtretung von fünf Oblasten der Ukraine an Russland und einen Verzicht der Ukraine auf eine NATO-Mitgliedschaft. Er möchte, dass die Verhandlungen in der Türkei stattfinden und er will seine Partner aus dem Globalen Süden an seiner Seite. Vor allem aber möchte er die Verhandlungen dort fortsetzen, wo sie im Frühjahr 2022 abgebrochen worden waren: mit einer de facto Kapitulation von Selenskyj. In den letzten Tagen kam der Eindruck auf, Russland habe seine Angriffe an der Front im Osten der Ukraine intensiviert: Schienen die zahlreichen, an weit auseinanderliegenden Abschnitten der Front stattfindenden Angriffe punkto Ausdehnung und Angriffstiefe noch Aktionen in Kompaniestärke darzustellen, so scheinen nun Bataillone in den Angriff gegangen zu sein. Putin macht damit klar, dass die Ukraine die Wahl hat zwischen diplomatisch-politischen Zugeständnissen und weiteren Gebietsverlusten.

Wolodymyr Selenskyj, der angetreten war, um einen Frieden mit Russland zu schließen und der zum Zeitpunkt seines Amtsantritts die wahrscheinlich zweitstärkste Armee Europas besaß, hat seine günstige Ausgangsposition schon lange verspielt. Bereits seine Vorgänger im Amt waren mit der Kritik konfrontiert gewesen, sie hätten unter militärischem Druck ungünstige Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet, die dann aufgrund innerer Widerstände auch prompt nie umgesetzt wurden. Wenn er nun über seinen eigenen Schatten springt, mit Putin direkt verhandelt oder gar einen irgendwie gearteten Waffenstillstand unterschreibt, wird er als der erfolgloseste Präsident in die Geschichte seines Landes eingehen. Er hat nicht nur den Krieg verloren, den zu verhindern er versprochen hatte, sondern Millionen seiner Landsleute zum Auswandern gebracht und die Wirtschaft seines Landes an die Amerikaner verscherbelt, ohne im Gegenzug irgendwelche Sicherheitsgarantien zu erhalten. Außer nuklearen Garantien wären die USA allerdings gar nicht in der Lage, einem beliebigen Land Sicherheitsgarantien zu gewähren, nicht gegen Russland. Selenskyj hat seinen Gegner unterschätzt und seine Verbündeten überschätzt.

Die Haltung der Administration Trump scheint von außen schwankend, je nachdem mit wem Donald Trump gerades als letztes gesprochen hat. Einerseits spricht er immer wieder davon, das Blutbad in der Ukraine müsse beendet werden, andererseits erhält die Ukraine aber ab und zu auch wieder US-amerikanische Waffen. Das Wichtigste für Trump hierbei ist, dass es sich dabei um Lieferungen von Waffen handelt, welche in Besitz der Verbündeten der USA sind. Sollen diese doch die von ihnen bezahlten Waffen an die Ukraine verschenken und danach in den USA Ersatz beschaffen, das ist wohl sein Kalkül. Der gegenwärtige mediale Hype um eine baldige Invasion Russlands in Europa ist hierbei hilfreich. Hauptsache ist, die USA müssen keinen Krieg bezahlen, der – wie Trump immer wieder betont hat – nicht der Krieg der Administration Trump ist; ansonsten: Geschäft ist Geschäft. 

Wie könnten die nächsten Schritte der Protagonisten aussehen? Die USA lassen den Ukraine-Krieg eben Krieg sein und machen mit Russland dort Geschäfte, wo es eben vorteilhaft ist. Trumps Baustellen liegen anderswo und er geht sie mit dem ihm eigenen Populismus an. 

Mangels anderer Handlungsoptionen versteifen sich die Westeuropäer auf militärische Strategien und bedienen sich hierfür der ukrainischen Armee, solange diese die ihr zugedachte Rolle noch spielen kann. Sie wollen keinen Waffenstillstand und keinen Frieden, denn wenn ein solcher eintritt, haben sie ihre weltpolitische Bedeutung eingebüßt. Sie können nur noch in die Rolle des Spielverderbers schlüpfen. 

Um es sich mit Trump nicht zu verderben, kann Putin weiterhin fast beliebige Waffenstillstandsangebote vorlegen und zuschauen, wie sie abgelehnt werden. Dass er die errungenen militärischen Vorteile nicht einfach so aus der Hand geben möchte, werden zahlreiche Staats- und Regierungschefs weltweit nachvollziehen können. Auf die Europäer braucht er keine Rücksicht mehr zu nehmen, von ihnen hat er ohnehin nichts Gutes mehr zu erwarten. 

In diesem bösen Spiel gefangen ist Wolodymyr Selenskyj, der keinen glücklichen Ausgang seiner Präsidentschafts-Komödie mehr zu erwarten hat. Ein Abbruch wäre die schmerzlichste, aber ehrlichste Handlungsoption. 

Globalbridge unterstützen