Nukleare Abschreckung als Basis für eine strategische Stabilität genügt nicht mehr
(Red.) Wenn bisher allein schon der Besitz von Atomwaffen Abschreckung für andere Staaten genug war, eine militärische Auseinandersetzung zu beginnen, zeigt der Krieg in der Ukraine, dass die sogenannte strategische Stabilität ein deutlich komplexeres Problem geworden ist und grundsätzlich neu überdacht werden muss. In einer künftigen multipolaren Welt braucht es eine mehrseitige Abstimmung, nicht zuletzt auch zwischen den neun sogenannten Nuklear-Mächten. (cm)
Eine der interessantesten Diskussionen bei den «X Primakov Readings», die Ende Juni in Moskau stattfanden, war den Problemen einer polyzentrischen nuklearen Welt gewidmet. Dabei wurden die Fragen der strategischen Stabilität, der nuklearen Abschreckung und der Rüstungskontrolle aufgeworfen. Jedes dieser grundlegenden Konzepte, die während des Kalten Krieges entstanden sind, muss unter den heutigen Bedingungen neu überdacht werden.
Strategische Stabilität wird zum Beispiel immer noch oft im militärisch-technischen Sinne verstanden, als das Fehlen von Anreizen für die Parteien, einen massiven nuklearen Erstschlag zu führen. Dieses enge Verständnis trägt dem veränderten Kontext der Beziehungen zwischen den Staaten nicht Rechnung. Das eine ist ein relativ stabiles bipolares Modell mit Konflikten am äußersten Rand der Konfrontation, das andere ist ein echter, wenn auch indirekter Krieg zwischen zwei nuklearen Großmächten in einer Region, die für eine der beiden von entscheidender Bedeutung ist. Gleichzeitig baut die dritte große Atommacht, China, die mit einer der beiden ersten Mächte eine partnerschaftliche und mit der anderen eine konfrontative Beziehung unterhält, ihr strategisches Potenzial aus, um mit den Atomriesen Schritt halten zu können. Die Welt ist in eine Periode gewaltsamer Auseinandersetzungen und Konfrontationen eingetreten. Strategische Stabilität in der Welt kann heute nur bedeuten, dass es keine Anreize für einen bewaffneten Kampf zwischen den Besitzern von Atomwaffen gibt, auch nicht indirekt. Nach diesem Kriterium ist die strategische Stabilität in der Welt in gefährlicher Weise gestört.
Die Nuklearmächte Großbritannien und Frankreich blieben immer US-Parteigänger
Es heißt, dass die nukleare Multipolarität kein neues Phänomen ist. Großbritannien erhielt seine Atombombe 1952, Frankreich 1960 und China 1964. Das stimmt, aber Großbritannien und Frankreich waren (und sind) Mitglieder der NATO und haben seit 1956 – nach der Suezkrise – nicht versucht, eine unabhängige Rolle in der Weltpolitik zu spielen (das Spiel mit der Unabhängigkeit oder Autonomie ist etwas ganz anderes). China hingegen hat sich seit vielen Jahrzehnten – wenn auch aus anderen Gründen – auf seine innenpolitische Agenda konzentriert und keine aktive Außenpolitik betrieben. Das ist heute anders, wo China, das zur führenden Wirtschaftsmacht der Welt aufgestiegen ist, sein enormes Potenzial in militärisch-technologische Macht und politischen Einfluss umwandelt und die Vorherrschaft der USA herausfordert. Eine wichtige unabhängige Weltmacht ist Indien, die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt. Die komplexe Kette von gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen Pakistan, Indien, China, den USA und Russland veranschaulicht die Komplexität der strategischen Abschreckung in einer echten nuklearen Multipolarität. Und dann ist da noch Israel (mit Blick auf den Iran) und Nordkorea (mit Blick auf Nordostasien insgesamt). Natürlich haben wir auch Großbritannien und Frankreich nicht vergessen, die aktiv und auch initiativ in den Ukraine-Konflikt involviert sind.
Vorbei sind die Zeiten, in denen die einzige Art von strategischen Waffen die Atom- und dann die Wasserstoffbombe war. Heute können strategische Aufgaben durch verschiedene nicht-nukleare Waffensysteme erfüllt werden. Wir sprechen von Präzisionssystemen mit großer Reichweite, von Hyperschallwaffen, von Waffen, die auf neuen physikalischen Prinzipien basieren, sowie von Mitteln zur Kriegsführung im Cyberspace und im Weltraum. Außerdem hat die Entwicklung konventioneller Waffen in den letzten Jahren (die „Drohnenrevolution“ usw.) das Gesicht der modernen Kriegsführung erheblich verändert. Atomwaffen sind immer noch das mächtigste Instrument der Machtpolitik, aber sie haben ihr früheres Monopol als einziges Mittel zur Erreichung wirklich strategischer Ziele verloren, insbesondere in Konflikten zwischen Atommächten. Ein anschauliches Beispiel für diese neue Realität war die öffentliche Erklärung von US-Verteidigungsminister Lloyd Austin im Jahr 2022 über das Ziel der US-Politik: Russland, einer großen Atommacht, in einem konventionellen Konflikt eine strategische Niederlage durch die Beteiligung eines Drittlandes (der Ukraine.Red.) zuzufügen.
Schon die Formulierung dieser Frage sowie die (wenn auch erfolglosen) Versuche, eine solche Strategie im Ukraine-Konflikt umzusetzen, deuten darauf hin, dass die strategische Abschreckung, auf der die Verteidigungspolitik der Sowjetunion und dann der Russischen Föderation jahrzehntelang beruhte, in gefährlicher Weise versagt. Diese Situation erfordert einen neuen konzeptionellen Ansatz für das Problem der strategischen Abschreckung als ein komplexes Problem, das militärische, geopolitische (räumliche) und koalitionäre Dimensionen umfasst. Im nuklearen Bereich scheint es, dass das Potenzial der Mittel aktiver genutzt werden muss, um von der derzeitigen nachgerade „zurückhaltenden Abschreckung“ (was in diesem Fall keine „contradictio in adjecto“, kein „Widerspruch in sich selbst“ ist) zu einer wirksamen Abschreckung potenzieller oder tatsächlicher Gegner überzugehen und ihnen das rettende Gefühl der Angst und den Selbsterhaltungstrieb zurückzugeben.
Die Rüstungskontrolle, die – neben der strategischen Abschreckung – eine zusätzliche Versicherung der strategischen Stabilität war, ist nun praktisch null und nichtig. Diese Kontrolle war selbst das Produkt eines bestimmten Gleichgewichts – nicht nur militärisch-strategisch, sondern auch international-politisch. Das Gleichgewicht, das die Rüstungskontrolle unterstützte, dauerte etwa drei Jahrzehnte und wurde von einem Vierteljahrhundert der Dominanz einer einzigen Macht abgelöst, die vorerst unangefochten blieb. In dieser letzten Periode bestand die Kontrolle – allein zwischen den USA und Russland – eher aus Gewohnheit weiter: Washington fühlte sich immer weniger an die Verträge der vorherigen Ära gebunden, als es gezwungen war, Moskau als gleichberechtigte militärische und politische Macht anzusehen.
Die US-Außenpolitik ist immer die gleiche: noch mehr aufrüsten!
Heute gehen praktisch alle Verträge und Abkommen mit kontrollierendem Charakter nicht mehr auf die Initiative der USA zurück. Die Versuche der Regierung Joe Biden, den Kreml in Konsultationen über strategische Stabilität im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine einzubinden, wo die USA ihre Waffen nicht nur weitergeben, sondern auch gegen militärische und zivile Ziele auf dem Territorium der Russischen Föderation richten, können nur als Hohn auf den gesunden Menschenverstand angesehen werden. Gleichzeitig stoßen die parallelen Bemühungen der USA um einen Dialog mit China auf die mangelnde Bereitschaft Pekings, sich zu engagieren, bevor China ein akzeptables Niveau an strategischer Macht erreicht hat. Dieses Verhalten der chinesischen Führung schafft für die Amerikaner ein „Drei-Staaten-Problem“, das sie durch eine massive Aufrüstung mit Atomwaffen lösen wollen, um die kombinierten nuklearen Fähigkeiten Russlands und Chinas auszugleichen oder gar zu übertreffen.
Was sollte Russland unter diesen Bedingungen tun, abgesehen davon, von der Abschreckung zur Angstmacherei überzugehen, einen geopolitischen Sicherheitsgürtel um seine Grenzen wiederherzustellen, flexible Koalitionen mit befreundeten Staaten und Streitkräften in verschiedenen Regionen der Welt aufzubauen – und natürlich die Ziele der militärischen Operation in der Ukraine zu erreichen?
Es ist an der Zeit, gemeinsam mit Verbündeten und Partnern einen konzeptionellen Rahmen für ein eurasisches Sicherheitssystem zu entwickeln – allerdings ohne die westliche Halbinsel des Kontinents (d.h. Europa). In diesem Zusammenhang ist es notwendig, einen Dialog zwischen den vier SCO-(zu Deutsch: SOZ)-Atommächten der «Shanghai Cooperation Organisation» SCO (zunächst auf bilateraler Expertenebene) über strategische Schlüsselfragen zu etablieren: Harmonisierung der nationalen Konzepte für strategische Stabilität, nukleare Abschreckung und Rüstungskontrolle. Mit anderen Worten, es ist an der Zeit, eine Grundlage für künftige grundlegende Vereinbarungen innerhalb des eurasischen Sicherheitssystems zu schaffen. Die 35 Jahre Erfahrung in der Entwicklung der Sicherheitsbeziehungen zwischen Moskau und Peking sprechen für den Realismus eines solchen Ansatzes.
Dmitry Trenin ist Forschungsdirektor des Instituts für Militärökonomie und Strategie an der Nationalen Forschungsuniversität Higher School of Economics und ein führender Forscher am IMEMO der Russischen Akademie der Wissenschaften.
Der Beitrag von Dmitri Trenin erschien am 3. Juli in der russischen Zeitschrift «Profil» in russischer Sprache.
Die Übersetzung besorgten Anna Wetlinska und Christian Müller, der auch die Zwischenüberschriften einsetzte.