Die Seite 9 der «New York Times» vom 24. Juli 2023, ein Artikel zum Elend der ukrainischen Soldaten, der später in der Online-Ausgabe mehrmals geändert wurde. Titel: «Erschöpfte Soldaten, unzuverlässige Munition» (Screenshot)

«New York Times»: Weil nicht wahr sein kann, was nicht wahr sein darf

(Red.) Die «New York Times» ist die wohl renommierteste Tageszeitung der USA. Sie hat rund 10 Millionen Abonnenten der digitalen Auflage und eine halbe Million verkaufte Exemplare der gedruckten Ausgabe, am Wochenende sogar eine runde Million. Aber auch sie informiert über den Krieg in der Ukraine einseitig. Aus westlicher Sicht negative Entwicklungen des Krieges werden irgendwo im Innern des Blattes versteckt und in der Online-Ausgabe hinterher (!) sogar in mehreren Schritten „entschärft“. Andre Damon hat das genau beobachtet und beschreibt diese seine Beobachtungen auf der «World Socialist Web Site» WSWS.org mit einem konkreten Beispiel. (cm)

Seit Januar dieses Jahres hat die «New York Times» Dutzende von Artikeln veröffentlicht, in denen behauptet wurde, die „Frühjahrsoffensive“ der Ukraine zeige einen entscheidenden Wendepunkt im Krieg mit Russland. Doch diese Offensive, die jetzt sechs Wochen alt ist, hat sich in ein Debakel verwandelt. Während die ukrainischen Streitkräfte nirgendwo die Hauptverteidigungslinie Russlands durchbrochen haben, sind Zehntausende von Soldaten zu Tode gekommen.

Vor diesem Hintergrund hat die «New York Times» einen Artikel veröffentlicht, in dem sie die ukrainischen Truppen realistisch und damit albtraumhaft als Kanonenfutter darstellt, das „in den Kampf gezwungen“ wird und dem sicheren Tod ins Auge blickt – und sie hat diesen Beitrag ganz schnell redigiert.

Der ausführliche und detaillierte Bericht über die ukrainische Offensive, der auf Seite A9 (der Ausgabe vom 24. Juli) vergraben war und auf der Titelseite der Printausgabe nicht erwähnt wurde, trug den Titel «Erschöpfte Truppen, unzuverlässige Munition: Kiews Hindernisse im Osten». Und im redaktionellen Vorspann wurde die Offensive als «grausame Pattsituation» beschrieben.

Dieser Artikel war am Vortag online unter dem Titel „Erschöpfte Truppen, unzuverlässige Munition“ veröffentlicht worden: Ukraine’s Many Challenges“. Der Artikel stellte die ukrainische Offensive als blutiges Debakel dar, bei dem die ukrainischen Streitkräfte massive Verluste erlitten haben, die dann durch ältere Rekruten ersetzt werden, die zum Kampf „gezwungen“ werden. Der Artikel dokumentierte drei neue, bisher unbekannte Fakten:

Erstens: Es gibt in der Ukraine eine Einheit mit einer „200-prozentigen“ Verlustquote, was bedeutet, dass alle ihre Mitglieder getötet oder verletzt wurden und dann durch Rekruten ersetzt wurden, die ebenfalls alle getötet oder verletzt wurden.

Zweitens: Die an die Ukraine gelieferte Munition ist oft so alt, dass es regelmäßig zu Fehlzündungen oder versehentlichen Detonationen kommt, bei denen Soldaten verletzt werden.

Drittens: Wenn junge Soldaten im Kampf getötet werden, werden sie in der Regel durch deutlich ältere ersetzt, ein Zeichen dafür, dass der Ukraine die Truppen im kampffähigen Alter ausgehen.

Normalerweise würde ein Journalist, der diese Fakten aus erster Hand aufgedeckt hat, sie als «Scoop» bezeichnen und auf Twitter veröffentlichen. Die Methode der «New York Times» ist jedoch die der „vergrabenen Schlagzeile“: diese potenziell brisanten Enthüllungen in einen Artikel auf den Innenseiten der Zeitung zu packen und sie dann schnell von der Online-Titelseite der Zeitung zu entfernen. In diesem Fall reichte es jedoch nicht aus, die Enthüllungen einfach zu verbergen. Es war notwendig, sie zu löschen.

Der erste Schnappschuss des Artikels wurde von archive.org um 5:32 Uhr «Eastern Time» ET aufgezeichnet. In den darauffolgenden 24 Stunden wurde ohne öffentlichen Vermerk eine Reihe größerer Änderungen vorgenommen, bei denen alle drei oben genannten Fakten zum Verschwinden gebracht wurden.

Die ursprüngliche Version des Artikels, die online veröffentlicht wurde, enthielt einen Absatz, in dem es hieß, die Ukraine erziele „kleine Gebietsgewinne“ zu „überhöhten Kosten“. Er wurde mit dem folgenden Zitat fortgesetzt: « „Wir tauschen unsere Leute gegen ihre Leute ein, und sie haben mehr Leute und Ausrüstung“, sagte ein ukrainischer Kommandant, dessen Zug rund 200 Prozent Verluste erlitten hat, seit Russland im vergangenen Jahr seine groß angelegte Invasion startete.»

Dieser Absatz wurde wie folgt geändert: „Wir tauschen unsere Leute gegen ihre Leute ein, und sie haben mehr Leute und Ausrüstung“, sagte ein ukrainischer Kommandant, dessen Zug ungefähr schwere [sic!] Verluste erlitten hat, seit Russland im vergangenen Jahr seine groß angelegte Invasion begonnen hat. In diesem Fall wurde „200 Prozent“ durch „ungefähr schwer“ ersetzt (wenn auch so hastig, dass das vorangegangene Wort „ungefähr“ stehen blieb). Bei der Schlacht in der Normandie, bei der 156.000 alliierte Soldaten an den Stränden landeten, wurden etwa 10.000 oder 6 Prozent getötet oder verletzt, was man normalerweise bereits als „schwere“ Verluste bezeichnen würde.

Ein Auszug aus dem «Times»-Artikel, wobei Ergänzungen in grün und Streichungen in rot dargestellt sind. Die geänderte Formulierung lautet jetzt „ungefähr schwer“. Die ursprüngliche Formulierung im «Times»-Artikel besagte dagegen, dass die gesamte Einheit getötet oder verwundet wurde, dann ersetzt wurde und dass die gesamte Ersatzeinheit ebenflls getötet oder verwundet wurde.

Das ist eine verblüffende Zahl, die es seit dem Ersten Weltkrieg wohl nicht mehr gegeben hat, vielleicht nicht einmal damals. Anstatt sie zu erklären, hat die «Times» sie einfach aus dem Bericht gestrichen, so dass die Leser der «Times» sie nie wieder sehen werden.

Die Änderungen gingen weiter. Die nächste (im wahrsten Sinne des Wortes) brisante Enthüllung in dem Artikel war die Aussage, dass die Munition, die in die Ukraine geschickt wurde, oft aus altersbedingt auslaufenden Lagerbeständen der imperialistischen Mächte stammen, oft explodierte, wenn die ukrainischen Truppen damit hantierten. Der Artikel lautete ursprünglich wie folgt: «Die Munition ist wie immer knapp, und es gibt eine Mischung von Munition, die aus verschiedenen Ländern geschickt wird. Das hat die ukrainischen Artillerieeinheiten gezwungen, mehr Munition zu verwenden, um ihre Ziele zu treffen, da die Genauigkeit der verschiedenen Granaten sehr unterschiedlich ist, sagten die ukrainischen Soldaten. Darüber hinaus beschädigen einige der älteren Granaten und Raketen aus dem Ausland die Ausrüstung und verletzen Soldaten. „Das ist ein extrem großes („huge“) Problem“, sagte Alex, ein ukrainischer Bataillonskommandant.»

Der letzte Satz wurde geändert und lautet nun wie folgt: «Darüber hinaus beschädigen einige der älteren Granaten und Raketen, die aus dem Ausland geschickt werden, ihre Ausrüstung und verletzen Soldaten. „Das ist jetzt ein sehr großes Problem“, sagte Alex, ein ukrainischer Bataillonskommandant.

Ein Auszug aus dem «Times»-Artikel, mit Ergänzungen in grün und Streichungen in rot. «Moderne Artilleriemunition hat normalerweise eine Haltbarkeit von 10 bis 15 Jahren. Nach dieser Zeit wird es gefährlich, diese Munition einzusetzen, da sie anfällig für Fehlzündungen und versehentliche Detonationen ist.»

Die Häufigkeit, mit der „ältere“ und möglicherweise abgelaufene Munition fehlzündet und versehentlich detoniert, ist offensichtlich ein „extrem großes“ („huge“) Problem für die ukrainischen Truppen. Zumindest war es das, bis das Problem von den Redakteuren der «Times» auf „sehr groß“ herabgestuft wurde, wiederum ohne Vermerk.

Der Artikel fuhr fort: «Aber auch andere ukrainische Verbände an der Front haben Schwierigkeiten, ihre Reihen mit Soldaten aufzufüllen, die in der Lage sind, erfolgreiche Grabenangriffe durchzuführen, da die monatelangen Kämpfe ihre Reihen erschöpft haben. Die neuen Ersatzleute sind oft ältere Rekruten, die zum Einsatz gezwungen wurden.»

In diesem Artikel wird diese Stelle durch die folgende ersetzt: «Aber auch andere ukrainische Verbände an anderen Stellen der Front hatten Schwierigkeiten, ihre Reihen mit Soldaten zu füllen, die in der Lage sind, erfolgreiche Grabenangriffe durchzuführen, da die monatelangen Kämpfe ihre Reihen erschöpft haben. Bei den neuen Ersatzkräften handelt es sich manchmal um ältere Rekruten, die mobilisiert wurden.»

Ein Auszug aus dem «Times»-Artikel, wobei Ergänzungen in grün und Streichungen in rot dargestellt sind. Anstatt dass der Ersatz für die getöteten Soldaten „oft“ ältere Rekruten sind, sind es jetzt „manchmal“ ältere Rekruten. Außerdem werden die Truppen jetzt „mobilisiert“, anstatt „zum Einsatz gezwungen“.

Der folgende Absatz gibt den Kontext zu dem, was hier beschrieben wird: „Wie können Sie von einem 40-Jährigen erwarten, ein guter Infanterist oder Maschinengewehrschütze zu sein?“, fragte der ukrainische Kommandant, dessen Zug Dutzende von Verlusten erlitten hatte. Jugend bedeutet nicht nur bessere körperliche Fähigkeiten, sondern jüngere Soldaten neigen auch weniger dazu, Befehle zu hinterfragen. Mit anderen Worten, es ist „oft“ der Fall, dass die Soldaten, die „zum Einsatz gezwungen“ werden, nahe am mittleren Alter sind und außerdem „Befehle in Frage stellen“, wenn sie aufgefordert werden, selbstmörderische Angriffe auszuführen.

Die Änderungen an diesem Artikel sind ein Mikrokosmos der US-Medienberichterstattung über den Krieg. Das schreckliche, blutige Debakel des Krieges in der Ukraine wird systematisch von negativen Assoziationen bereinigt, wobei bestimmte Themen sogar eindeutig tabu sind und in vielen Fällen komplett aus den Medien verschwinden. Um dazu ein Beispiel zu nennen: Eine Suche nach dem Begriff „Ukraine conscription“ (Ukraine Wehrpflicht) in der öffentlich zugänglichen AP-Nachrichtendatenbank liefert nur fünf Ergebnisse, die sich alle mit der Wehrpflicht in Russland befassen.

Obwohl in der Ukraine die gesamte Bevölkerung im besten Alter unter Waffen steht, scheinen die US-Medien einen internen Code zu haben, der es nicht zulässt, dass diese Bilder von Rekrutierung und Mobilisierung an die Bevölkerung weitergegeben werden.

Noch vor einem Monat sinnierte der Kolumnist der «Times», Bret Stephens, über eine „vernichtende und unmissverständliche Niederlage“ für Russland, und der Kolumnist der «Washington Post», Max Boot, zitierte General David Petraeus mit den Worten, er erwarte, „dass die Ukrainer bedeutende Durchbrüche erzielen und viel mehr erreichen, als die meisten Analysten vorhersagen.“ Die Realität ist nun allerdings eine andere: Ein Alptraum im Ausmaß des Ersten Weltkriegs, in dem ganze Einheiten ausgelöscht, durch Wehrpflichtige ersetzt, dann wieder ausgelöscht, und dann noch aufgefordert werden, gut verteidigte Schützengräben zu stürmen …

Im September letzten Jahres charakterisierte die «World Socialist Web Site» die zunehmenden Aufrufe in den US-Medien und im politischen Establishment an die ukrainischen Streitkräfte, in die Offensive gegen gut verteidigte russische Schützengräben zu gehen, wie folgt: «Menschenleben bedeuten den Washingtoner Kriegstreibern und ihren Handlangern in Kiew nichts. … Das Leben der ukrainischen Jugendlichen, von denen viele zwangsverpflichtet wurden, wird vergeudet, als Kanonenfutter, oder, um den von Leo Tolstoi bevorzugten Ausdruck zu verwenden, als „Kanonenfleisch“.

Diese Warnungen haben sich auf erschreckende Weise bestätigt.


Zum Original dieses Artikels auf der Website WSWS.org. Zur entschärften Version des Originalartikels in der «New York Times».

Die NZZ bestätigt in ihrer Ausgabe vom 7.8.2023 die Schwierigkeiten der ukrainischen Streitkräfte ausführlich.