Neutralität ist keine Schönwetteroption
In der Schweiz werden Stimmen laut, die Neutralität sei ein wenig zu reduzieren, wenn es gelte, «den Aggressor» zu bestrafen.
2002 und 2003 suchten ABC-Inspektoren Monate lang nach «Spurenelementen» von Uran und nach jenen versteckten Waffen des Saddam Hussein. Man fand sie nicht, aber eine «Koalition der Willigen» bombardierte präventiv den Irak in Grund und Boden, denn er war mit seinen Atombomben und Biowaffen eine Bedrohung für den Westen und unsere freiheitliche Ordnung. Dann erfuhr der erstaunte Zeitungsleser, dass die Beweise für das Vorhandensein dieser Waffen eine Fälschung aus der Küche der US-Geheimdienste waren. Die «Bedrohung» hatte sich in Luft aufgelöst. Und auch die Behauptung, Saddam Hussein habe bei 9/11 seine Finger im Spiel gehabt, war eine Lüge.
Die Unsicherheit unserer «Benachrichtigung» kann eine Falle sein, und genau in diese Falle tappen die Leute, die schnell bei der Hand sind, um einen «Aggressor» zu bestrafen. Eine Gruppe von Schweizer Politikern und Intellektuellen um den emeritierten Berner Europarechtsprofessor Thomas Cottier und den Historiker Marco Jorio stellte letzte Woche ein Thesenpapier vor: «Manifest – Eine Neutralität für das 21. Jahrhundert». Es ist eine Antwort auf die SVP-nahe Volksinitiative, die eine «immerwährende und bewaffnete Neutralität» in die Verfassung schreiben und eine NATO-Mitgliedschaft damit grundsätzlich ausschliessen will. «Natürlich geht es uns auch darum, ein Gegenmodell zu Blochers Initiative aufzustellen», sagte Cottier
Die Unterzeichner des Manifestes, darunter ehemalige Bundesräte und Prominente aus allen Parteien mit Ausnahme der SVP, sind der Meinung, die Neutralität im herkömmlichen Sinn habe ausgedient, man müsse sie von Fall zu Fall etwas flacher halten. Denn, so das zentrale Argument, man könne im Krieg nicht den Aggressor gleichbehandeln wie das Opfer. Es sei, so der Punkt 7 des Zehnpunkte-Katalogs, «alles zu unterlassen, was den Aggressor begünstigen könnte». Folgerichtig könnte man das Kriegsmaterialgesetz lockern, um den Angegriffenen Waffen zu liefern, und gegen den «Aggressor» Sanktionen zu verhängen.
Ist es so einfach, in jedem Konflikt den Aggressor zu definieren?
Es ist aber, wie das Beispiel Irak zeigt, oft nicht leicht, den «Aggressor» in einem Konflikt eindeutig zu definieren. Als die USA 1964 offiziell in den Vietnamkrieg eingriffen, behauptete die Regierung Lyndon B. Johnson, vietnamesische Schnellbote hätten US- Kriegsschiffe angegriffen. Es war Fake, wie später unter anderem aus den Pentagon Papieren und aus den Memoiren des Verteidigungsministers Robert McNamara hervorging. Waren die USA in Vietnam die Angegriffenen, die ihr Land verteidigten, oder waren sie die Aggressoren? Was hatte die US-Armee in Vietnam zu suchen? Hat der Bundesrat damals erwogen, Sanktionen gegen die USA zu verhängen und US-Geschäftsleuten die Konten einzufrieren?
Die Beispiele lassen sich fortsetzen. War der «Aggressor» eindeutig, als die NATO Libyen bombardierte unter dem Vorwand, es gelte mit einer «humanitären Aktion» eine «Flugverbotszone zu gewährleisten»? Hat die Schweiz den Aggressor benannt, als Saudiarabien mit Unterstützung der NATO-Staaten begann, den Jemen zu bombardieren?
Hat die Schweiz Sanktionen gegen die NATO-Staaten verhängt, als diese Belgrad bombardierten? Formaljuristisch war der Angriff auf Restjugoslawien ein Verstoss gegen das Völkerrecht, und die gewaltsame Abtrennung des Kosovo von Serbien wird bis heute von zahlreichen Staaten ebenso qualifiziert.
Was heute Fakt ist, kann morgen ein Irrtum sein.
Das Problem des schnellen Tagesjournalismus ist, dass seine «Wahrheiten» stets vorläufig sind. Wirklichkeit lässt sich, wenn überhaupt, immer nur ausschnittweise und annäherungsweise beschreiben.
Der Zeitungsleser gerät in Konfusion mit den Wörtern. Wenn die Leute im Donbass sich gegen die Regierung in Kiew erheben, sind sie «Pro-russische Separatisten». Wenn sich in Syrien NATO-unterstützte Milizen gegen die Regierung erheben, sind sie nicht etwa «Pro-westliche Separatisten», sondern «moderate Rebellen». Als Deutschland Soldaten nach Afghanistan schickte, wurde dort unsere Freiheit verteidigt. Wenn Putin Soldaten in den Donbass schickt, wird nicht die Freiheit Russlands verteidigt, sondern es ist «ein Überfall» und eine «imperialistische Aggression».
Steht nun der Russe an der Westgrenze der USA oder steht die NATO an der Westgrenze Russlands? Wer ist wohin vorgerückt? Die Russen nach Los Angeles oder die NATO Richtung Sewastopol? Wer also kann Bedrohung und Sicherheitsbedürfnis geltend machen?
Der letzte Versuch des russischen Bären, sich einer amerikanischen Grenze zu nähern, datiert auf den 22. Oktober 1962. Präsident John F. Kennedy verhängte eine Seeblockade, um die Stationierung von sowjetischen Raketen auf Kuba zu verhindern. US-Generäle bereiteten hinter seinem Rücken zudem einen atomaren Erstschlag vor. Nikita Chruschtschow zog die Raketen ab und erhielt im Gegenzug die Versicherung, dass die Nuklearwaffen entfernt würden, die die NATO an der russischen Grenze in der Türkei positioniert hatte.
Es geht nicht um Völkerrecht, sondern um Macht.
Nun wird lauthals verkündet, die Ukraine habe wie alle anderen Länder dieser Welt das Recht, selbst zu wählen, mit wem sie ein Bündnis zu ihrer Verteidigung schliesse. Hatte Kuba damals dieses Recht nicht?
Der Konflikt zwischen der Ostukraine und der Westukraine und den Strippenziehern USA und Russland auf beiden Seiten ist ein Machtkampf. Letztlich ist es der Kampf um die Kontrolle der Weltmeere und des Welthandels.
In der sogenannten Sicherheitspolitik ist mächtigen Staaten wie USA, Russland und China das Hemd näher als der Rock, also das Sicherheitsbedürfnis wertvoller als internationale Rechtsnormen. Man kann das falsch oder richtig, moralisch oder unmoralisch finden, es sind die wirklichen Verhältnisse. Es geht um Geostrategie, Sicherheitsvorstellungen, Einflussbereiche und Pufferzonen.
Bedarf es noch weiterer historischer Beispiele? Anfang der achtziger Jahre hatte sich Panama zur geheimen Drehscheibe für den Import von Gütern ins kommunistische Kuba entwickelt. Güter, die die USA mit einem Embargo belegt hatten, um die kubanische Wirtschaft zu schädigen. Der Machthaber in Panama, General Manuel Antonio Noriega, war dem Geheimdienst der USA aus dem Ruder gelaufen. Die USA setzten 1989 die grösste Luftlandeoperation seit dem Zweiten Weltkrieg in Gang, nahmen Noriega fest und hielten ihn bis zu seinem Tod als Strafgefangenen.
Gab es im Westen eine Diskussion über internationales Recht? Verhängte der Schweizer Bundesrat Sanktionen gegen «den Aggressor» USA? Man hat nichts dergleichen vernommen.
«Wir sind die unersetzliche Nation»
Die ehemalige Aussenministerin Madelaine Albright prägte 1998 die famosen Sätze: «Wenn wir Gewalt anwenden müssen, dann deshalb, weil wir Amerika sind. Wir sind die unersetzliche Nation. Wir sind standhaft. Wir blicken weiter in die Zukunft.»
Kein Land lebt seine selbsterschaffene Legende so unnachgiebig wie die USA. Und dieser Virus des Hochmuts hat seit langem nach Europa übergegriffen. Unaufhörlich ertönt der Sermon von einer «wertebasierten Weltordnung», die es zu verteidigen gelte. «I know I‘m rigth», liess sich Tony Blair im Irak-Krieg vernehmen. Er war nicht im Recht. Aber es dauerte eine Zeit, bis diese neue Wahrheit sich durchsetzte. Der Westen lernt nichts aus seinen Fehlern. Ob in Afghanistan, im Irak, in Libyen, in Syrien oder in der Ukraine, stets gibt es Brückenköpfe, die gehalten werden müssen, um die Ordnung zu erhalten, die die «unersetzliche Nation» vorgibt. Die militärisch mächtigste Macht der Welt hat eine Aussenpolitik, die darauf abzielt, ihre Hegemonie und die auf dem Dollar basierte Weltwirtschaft durch Kriege zu verteidigen.
Die «Mutter aller Schlachten»
Krieg scheint mit einem Mal alternativlos geworden. Der Schlachtruf, dass nun aufgerüstet und gekämpft werden müsse, treibt wie ein Sturmwind den Zeitgeist vor sich her und hat in Schweizer Redaktionsbüros Einzug gehalten. Chefredaktor Beat Balzli prophezeit in der NZZ am Sonntag (31.3.24), es komme «die Mutter aller Schlachten» auf uns zu, nämlich jene um die Staatsfinanzen. Und mit einem späten Seitenhieb auf die Bürgerinnen und Bürger, die für die 13. AHV gestimmt haben, warnt er: «Wir werden uns entscheiden müssen. Mehr Rüstung oder noch mehr Rente»
«Die Schweiz bereitet sich in der Friedenszeit mit der NATO und der EU so vor, dass sie sich im Fall einer Aggression gemeinsam mit den demokratischen Rechtsstaaten militärisch verteidigen kann.» heisst es im Manifest für eine Neutralität des 21. Jahrhunderts.
Nichts anderes verlangt Verteidigungsministerin Viola Amherd: «Die Schweiz will die internationale Zusammenarbeit mit der NATO, der EU und bilateral unter Einhaltung der neutralitätsrechtlichen Pflichten intensivieren.» (Zürcher Tagesanzeiger, 31. 5.2024)
Man kann aber nicht die militärische Zusammenarbeit mit der NATO intensivieren und gleichzeitig «neutralitätsrechtliche Pflichten» garantieren. Die Neutralität ist kein Turnschuh, den man nur bei schönem Wetter trägt und bei Niederschlag zuhause lässt, um die NATO-Kampfstiefel anzuziehen. Aber genau dies fordern die Neutralitäts-Verkleinerer mit ihrem «Manifest für das 21. Jahrhundert».
Dieses Manifest treibt im Wind der sogenannten Zeitenwende, die man umreissen kann mit dem Diktum des deutschen Verteidigungsministers Pistorius, Europa müsse «kriegstüchtig werden». Mit dem Krieg in der Ukraine sind nach Ansicht vieler Intellektueller Dialog und Diplomatie als Mittel der Konfliktbewältigung auf einer Müllhalde gelandet, wo Entspannungspolitik, Neutralität und andere Giftstoffe entsorgt werden.
«Ist der Westen unschuldig an diesem Wahnsinn?»
Zwei Jahre lang wurden wir tagtäglich überflutet mit den Warnungen, Befürchtungen, Vermutungen, Mahnungen und Erkenntnissen der «Experten», der Russe wolle möglicherweise nach der Ukraine das Baltikum und dann ganz Europa unterjochen. Dann schlägt der Zeitungsleser am 26. Mai die Sonntagszeitung auf und liest in einem Kommentar des Chefredaktors:
«Ob aber der Westen wirklich so unschuldig daran ist, dass der ‘Wahnsinn’ weitergeht, wie offiziell gern behauptet, ist nicht so sicher.»
Wenige Wochen nach Kriegsbeginn waren die Russen bereit, ihre Truppen aus der Ukraine abzuziehen, wenn die Ukraine sich zur Neutralität verpflichtete und den Oblasten im Donbass mehr Autonomie gewährte, wie es in den Minsk-Abkommen vorgesehen war. Ein paraphiertes Friedensabkommen lag auf dem Tisch. Dann intervenierte Boris Johnson erfolgreich, um einen Waffenstillstand zu verhindern. Er machte Selenskyj klar, dass die NATO-Staaten einen solchen Frieden nicht akzeptieren würden. Da selbst ehemalige Schweizer Botschafter wie Jean-Daniel Ruch diese Vorgänge in ihren Memoiren bestätigen, kann man sie nicht mehr länger unter den Teppich kehren.
Mit dem verhinderten Abkommen in Istanbul wurde klar, dass Russland nichts anderes verlangte als Sicherheitsgarantien für seine Westgrenze. Moskau hat genau dies der NATO jahrelang stets von neuem klargemacht. Der New Yorker Nachrichtensender MSNBC titelte unmittelbar nach dem russischen Einmarsch: «Die Invasion der Ukraine wäre vermeidbar gewesen.» MSNBC zitiert George Beebe, einen ehemaligen Direktor der CIA-Russland-Abteilung:
«Die Wahl, vor der wir in der Ukraine standen (…) war, ob Russland sein Veto zu einer NATO-Beteiligung der Ukraine am Verhandlungstisch oder auf dem Schlachtfeld ausüben würde. Und wir haben uns entschieden, dafür zu sorgen, dass das Veto auf dem Schlachtfeld ausgeübt wird, in der Hoffnung, dass Putin sich entweder zurückhält oder der Militäreinsatz scheitert.»
In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts stellte der Philosoph und Humanist Michel de Montaigne in einem Essay die Frage, wer schuld an einem Krieg sei: Derjenige, der ihn anfange oder derjenige, der ihn unvermeidlich gemacht habe?
Siehe auch: «Jetzt propagieren 87 Schweizer Polit-Opportunisten eine ‹okkasionelle› Neutralität» (von Christian Müller)