Strategiebildung ist wie Schachspiel: Es ist nicht ausreichend, nur den nächsten Zug zu überdenken, auch die Reaktionen der Gegenpartei müssen bedacht werden. Es gilt, Vieles abzuwägen und vorauszudenken. (Symbolbild Christian Müller)

Nationale Sicherheitsstrategie Deutschlands: Mit unsicheren Kantonisten in die Sackgasse

Mit großem Aufwand präsentierte die deutsche Bundesregierung am 14. Juni ihre neue nationale Sicherheitsstrategie und gab den Fraktionen des Bundestags gerade einmal vier Tage Zeit, um Stellung zu nehmen und sich mit den Experten ihrer Wahl auf eine öffentliche Anhörung im Auswärtigen Ausschuss vorzubereiten (1). Manche mögen diesen Zeitplan als sportlich bezeichnen, andere bekamen Zweifel an der Seriosität des Vorgehens der Bundesregierung. Bemerkenswert ist, dass das Papier den Begriff der Klimakrise gut drei Dutzend Mal erwähnt, um dann Russland zur Hauptbedrohung Deutschlands zu erklären (2).

In der Tat ist das Dokument über weite Strecken eine Zusammenstellung unverbindlicher Absichtserklärungen und Zustandsbeschreibungen, wie von manchen Kritikern bemerkt wurde (3).

Unklare Vorstellungen von Strategie

Natürlich ist ein Strategiepapier nicht der richtige Ort, um sich in epischer Breite über Definitionen der Begriffe „Strategie“ und „Sicherheit“ auszulassen, aber angesichts der zahlreichen verschiedenen Definitionen des Begriffs der Strategie und der oftmals unklaren Vorstellungen darüber wäre ein Hinweis darauf hilfreich gewesen, was denn die Autoren des Papiers darunter verstehen – hilfreich deshalb, weil dies geholfen hätte, einen Endzustand zu formulieren, den die deutsche Bundesregierung im Zeithorizont des Papiers erreichen möchte. Die Bemerkungen von Christopher Daase in der öffentlichen Anhörung im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags über die Funktionen von Strategie waren nicht ganz unberechtigt (4). 

Eine Gemeinsamkeit in der Diskussion um den Begriff der Strategie besteht sicherlich darin, dass dieser einen theoretischen und einen praktischen Aspekt besitzt. Angesichts der Beobachtungen der letzten Jahre, dass heutzutage beinahe alle Aspekte staatlichen Handelns und zunehmend auch gesellschaftlichen Lebens zum Zweck der Führung von Konflikten genutzt werden, ist eine Verengung des Begriffs der Strategie auf Konfliktsituationen kaum mehr zeitgemäß. Noch weniger angemessen wäre es, den Begriff mit jenem des Kriegs zu verknüpfen, denn im Licht der Ächtung des Kriegs als Mittel der Politik seit dem Briand-Kellogg-Pakt (5) gewannen verdeckte Operationen, nicht-militärische Mittel und nicht-kinetische Methoden zunehmend an Bedeutung. Strategie muss sich folglich auf die Konkurrenz der staatlichen und auch der nicht-staatlichen Akteure im globalen politischen System beziehen. Sie muss die Phasen der Antizipation und der Verhinderung gewaltsamer Konflikte umfassen und darf sich nicht auf die Vorbereitung auf den Krieg und die Führung von Kampfhandlungen beschränken. Insgesamt muss die Strategie einer Regierung ganz allgemein definieren, wie das Land im globalen Konkurrenzkampf bestehen und wie – fokussiert auf einen bestimmten Zeitraum – eine unbefriedigende Sicherheitslage in eine akzeptable überführt werden kann. 

In der Tat ist es bereits eine Errungenschaft, dass die Bundesregierung ein Papier erarbeiten ließ, das aus zahlreichen älteren Papieren ihrer Vorgänger quasi den kleinsten gemeinsamen Nenner auflistete (6). Damit darf es dann aber nicht enden, wenn die enormen finanziellen Mittel, welche die deutsche Bunderegierung offensichtlich zu sprechen bereit ist, zielgerichtet eingesetzt werden sollen. In der Weiterentwicklung und Konkretisierung des Strategiepapiers wird die Bunderegierung folglich nicht darum herumkommen, klar festzuhalten, welche Aspekte der aktuellen Sicherheitslage sie als unbefriedigend betrachtet und wie die Kriterien ausschauen, an welchen eine Ziel-Lage zu messen wäre. 

Rolle von Streitkräften

Ein moderner Begriff der Strategie enthält Hinweise auf die Rolle, die Streitkräfte in den Anstrengungen einer Regierung generell spielen, in welchen zeitlichen Phasen und unter welchen völkerrechtlichen Bedingungen sie zum Einsatz kommen. Daraus kann dann unter anderem festgelegt werden, welcher Anteil an den für die Umsetzung einer Strategie zur Verfügung stehenden Ressourcen der militärischen Komponente zugeteilt werden soll. Die Frage nach den benötigten Ressourcen zur Umsetzung der nationalen Sicherheitsstrategie in der Diskussion war durchaus berechtigt, aber vorerst noch verfrüht. Schließlich muss die Ressourcenfrage auch der Dialektik zwischen Zielen und Mitteln gerecht werden, denn letzten Endes müssen die gesteckten Ziele mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen in Einklang stehen. Allenfalls müssen Ziele bescheidener formuliert werden. 

Die quasi klassische Methode der Strategieformulierung, die darin besteht, die (Sicherheits-) Interessen eines Landes zu definieren, Bedrohungen zu erkennen und daraus Gegenmaßnahmen abzuleiten, krankt oftmals daran, dass Regierungen sich schwertun, ihre Interessen zu formulieren. Neben vielen eher schwammigen Aussagen enthält die nationale Sicherheitsstrategie Deutschlands die klare Bezeichnung Russlands als Hauptbedrohung Deutschlands. Leider verzichtet das Papier der Bundesregierung auf eine Herleitung dieser Erkenntnis, die das Resultat von Betrachtungen über Schadenspotenzial, Plausibilität bzw. Wahrscheinlichkeit und Art eines möglichen Vorgehens Russlands gegen Deutschland sein müsste. Die einzig klare Aussage des Papiers ist unbegründet, vielleicht sogar unrichtig. Auch wenn Deutschland in der Nachbarschaft von ihm positiv gesinnten Ländern gelegen ist, so muss man sich in Berlin trotzdem Gedanken machen, ob nicht urplötzlich andere Akteure in der Weltpolitik versuchen könnten, von einem Schwächemoment zu profitieren, wenn sich Deutschland auf Konflikte mit Russland und mittelfristig allenfalls auch China einlässt. Alle diese Überlegungen würden eine Lagebeurteilung auf Regierungsebene rechtfertigen, welche Überlegungen zu Zeitverhältnissen, Akteuren, Problemen, Normen und dem Umfeld beinhalten muss (7). Im Kapitel über das Sicherheitsumfeld Deutschlands ist wohl eine der hauptsächlichen Schwächen des Papiers der Bundesregierung zu sehen. 

Zeitverhältnisse: Unsichere Kantonisten im Westen:

Die Ablösung der Administration Biden in den USA ist durchaus denkbar und damit ist die Rückkehr zu einem zurückhaltenderen Vorgehen in weltpolitischen Fragen inklusive Revision des Führungsanspruchs der USA nicht ausgeschlossen. In Europa hingegen ist die Stabilität wichtiger Partner Deutschlands fraglich. Auf der anderen Seite ist ein Ende der Ära Putin in Russland langsam absehbar, schon rein aus Altersgründen. Nichts wäre schlimmer im politischen System Russlands als ein Präsident, der nicht mehr handlungsfähig ist. Die Erinnerungen an die Schlussphase der Sowjetunion mit greisen Führern wie Breschnew, Andropow und Tschernenko sind noch wach. Das muss aber nicht zu einem radikalen Kurswechsel in wichtigen Fragen führen, denn für die aktuelle Außenpolitik Russlands existieren tiefsitzende strukturelle Gründe. Die Formulierung einer langfristig angelegten nationalen Sicherheitsstrategie in Deutschland würde die Gelegenheit schaffen, dem Sicherheitsumfeld Deutschlands ein Stück weit den Stempel aufzudrücken. 

Überlegenheit des Westens

Der Konflikt in und um die Ukraine zeigt, dass neue Akteure in der Weltpolitik die sich bietende Chance, sich mehr Gehör zu verschaffen, nutzen möchten. Immerhin konnte sich die Bundesregierung überwinden, das Wort von der multipolaren Weltordnung zu verwenden (8). Manche Länder des „Globalen Südens“ lassen sich ihre Unterstützung für den Westen in der aktuellen Lage bezahlen. Eine allfällige Niederlage Russlands in der Ukraine – sollte eine solche eintreten – wird daran wenig ändern. Das globale Sicherheitsumfeld wird komplexer, ein Interessenausgleich wird schwieriger, ebenso wie der Abschluss neuer Abkommen in den Bereichen Rüstungskontrolle und militärische Transparenz, geschweige denn Vertrauensbildung. Damit entsteht die Gefahr, dass inskünftig militärische Macht die Gestaltung der internationalen Beziehungen bestimmt und dass damit das permanente Risiko eines Atomkriegs entsteht. Dazu könnte dann ein permanenter Wirtschaftskrieg kommen, zum Schaden aller Beteiligten. Die Entwicklung nicht-nuklearer Mittel zur strategischen Abschreckung, die vor allem Russland in den letzten Jahrzehnten vorantrieb, und neue Technologien machen den Weg in einen neuen Kalten Krieg zu einer Reise ins Ungewisse, auf welcher die Erfahrungen des Kalten Kriegs wenig nützen. Deutschland sollte danach streben, nicht zum Verlierer neuer Entwicklungen zu werden. 

Westeuropa ist Russland und seinen Verbündeten in Bezug auf seine personellen, wirtschaftlichen, finanziellen Ressourcen und sein militärisches Potenzial überlegen, was ihm die Gewährleistung seiner Sicherheit aus einer Position der Stärke erlaubt, ohne permanent mit dem sprichwörtlichen Säbel rasseln zu müssen. Insofern haben sich die Verhältnisse des Kalten Kriegs umgekehrt. 

Eingeschränkter Handlungsspielraum Deutschlands 

Kraft langfristiger Bündnis-Verpflichtungen ist Deutschland in seiner Handlungsfreiheit natürlich eingeschränkt und muss Rücksicht auf Alliierte und Partner in EU und NATO nehmen, um sich nicht dem Vorwurf der Unzuverlässigkeit auszusetzen. Darin liegt andererseits aber auch die Chance, auf Bündnispolitik generell Einfluss zu nehmen. Verschiedene Verbündete und Partner haben aber ihre eigenen (geopolitischen) Ambitionen und würden zu deren Realisierung gerne auch deutsche Ressourcen nutzbar machen. Wenn Deutschland sich seine Stellung in der Weltpolitik wahren möchte, wird es gut beraten sein, seine Unterstützung an Auflagen zu knüpfen. Das ist nur schon eine Frage der Selbstachtung. 

Die Verteidigungsfähigkeit der osteuropäischen Verbündeten, von denen sich einige nicht erst seit Februar 2022 von Russland bedroht fühlen, muss gewährleistet bleiben. Andererseits hat Deutschland kein Interesse daran, sich in jeden beliebigen Konflikt im Raum der ehemaligen Sowjetunion hineinziehen zu lassen. 

Ein Haufen Probleme nach der Ukraine

Der aktuelle Krieg in der Ukraine ist Teil eines großen, globalen Konflikts und derzeit stellt sich die Frage, ob er nur ein Symptom davon ist oder der Auslöser dafür. Zum Krieg in der Ukraine führte eine lange Reihe von Versäumnissen und Fehlern, die lange vor dem Februar 2022 begann. Russland war bislang weder mit wirtschaftlichen noch mit militärischen Mitteln zum Einlenken zu bewegen und es schaut nicht so aus, als würde sich das kurzfristig ändern. Damit ist absehbar, dass das Ergebnis des Kriegs für alle Seiten ein unbefriedigendes bleiben und die Ukraine großflächig verheert werden wird. Den entstandenen Schaden wird Europa – und damit zu einem guten Teil Deutschland – wiedergutzumachen haben. Weitere Konflikte ähnlicher Art im (post-) post-sowjetischen Raum sind programmiert, denn die Konstellationen wie in der Ukraine existieren auch noch anderswo. Andere, schwelende Konflikte sind ob der Ukraine etwas in Vergessenheit geraten. Damit wird der Raum der ehemaligen Sowjetunion eine Baustelle europäischer (eurasischer) Sicherheit bleiben und Versuche, diese Probleme unter Ausschluss Russlands zu lösen, werden neue Konflikte heraufbeschwören. Auch eine zeitliche Beschränkung des Betrachtungshorizonts auf die Zeit nach dem 22. Februar 2022 genügt ebenso wenig, weil mit dem Zerfall der Warschauer Vertragsorganisation (9) und der Sowjetunion 1991 eine neue geopolitische Lage eingetreten ist. Der Westen wird nicht darum herumkommen, eine Bilanz seiner Handlungen seit dem Ende des Kalten Kriegs zu ziehen. Das kann unangenehm werden. Für die Ukraine muss eine Lösung gefunden werden, die auch für andere Konflikte Bestand haben mag. Hierin liegt eventuell eine Chance für Deutschland, dessen Vermittlungsversuche in der Ukraine wenig Anerkennung fanden, sich als Stimme der Vernunft zu profilieren, was allerdings eine pragmatische Zusammenarbeit mit Russland notwendig macht. Diese absehbaren Konflikte müssen im Interesse der betroffenen Bevölkerung gelöst werden, ohne geopolitische Hintergedanken. 

Widerspruch zwischen Normen und „echte“ Konflikte

Der Versuch, Konflikte ausschließlich auf der Basis völkerrechtlicher Normen und Prinzipien zu lösen, ist zum Scheitern verurteilt, weil Normen nicht immer messerscharf definiert sind, sich in konkreten Fällen widersprechen können oder weil generell Graubereiche existieren. Das führt zu „echten“ Konflikten, in welchen weiß und schwarz, Recht und Unrecht nicht immer eindeutig zu unterscheiden sind. Ob der aktuelle Konflikt in der Ukraine einen solchen darstellt, oder nicht, ist dabei unerheblich. 

Die Anwendung des Prinzips der Unteilbarkeit der Sicherheit, auf welches sich nicht nur Russland zu berufen pflegte, bedingt die Beurteilung der Sicherheitsinteressen aller Akteure. Die Schaffung eines auf Europa beschränkten Systems kollektiver Sicherheit wird nicht funktionieren, weil Russland an verschiedene Weltregionen grenzt bzw. Teil davon ist. Eine eurasische Betrachtungsweise tut Not. Das hat Auswirkungen auf Rüstungskontrollabkommen. 

Internationale Verflechtung und Zwang zur Selbstbeschränkung

Alle Staaten Europas und viele weitere weltweit haben um des Wohlstands Willen eine teilweise weitgehende Abhängigkeit in wirtschaftlichen Fragen von ihren Nachbarn hingenommen, mit den dazugehörenden Spill-Over-Effekten in den politischen und auch militärischen Bereich. Es wäre wohl schwierig, dem Bürger eine Abkehr von diesen Prinzipen zu erklären. In einem derart vernetzten Umfeld müssen Streitkräfte mit Augenmaß eingesetzt werden, wenn nicht Effekte eintreten sollen, die allen Beteiligten zum Nachteil gereichen. Streitkräfte haben in diesem Umfeld die Funktion, nach Störungen des Systems einen völkerrechtlich akzeptablen Zustand wiederherzustellen, und das mit den mildesten möglichen Mitteln. Wer seine territoriale Integrität mit Kernwaffen verteidigt, ist wohl auch bereit, unbewilligte Demonstrationen mit Maschinengewehren aufzulösen. 

Auch wenn kurzfristig keine Kooperation zwischen Westeuropa und Russland zustande kommen wird, so ist in Bezug auf Russland die Schaffung eines ähnlichen Zustands, wie er in den Neunzigerjahren im ehemaligen Jugoslawien herrschte, abzulehnen. 

Ein Nationaler Sicherheitsrat für Deutschland?

Der eingangs erwähnte Strategie-Begriff und die Praxis der Führung von Konflikten in allen Bereichen haben auch Auswirkungen auf die Organisation der Führung auf Stufe Regierung. Die Gewährleistung einer umfassenden Sicherheit des Landes – das Strategiepapier der Bundesregierung spricht von integrierter Sicherheit – verlangt nach einem permanenten Organ mit Vertretern aus allen Ressorts. Die Herausforderung hierbei besteht darin, nicht im Übereifer der Abwehr von Bedrohungen eine ganze Gesellschaft zu militarisieren und nicht die Bundesländer zu übergehen, wo diese die gesetzlichen Kompetenzen innehaben. Je nach Stadium und Art einer Krise ist dann das Steuerungsgremium mit Vertretern aus dem einen oder anderen Bereich zu verstärken. Die Forderung nach Ausbau des Bundessicherheitsrats zu einem Nationalen Sicherheitsrat (NSR) hat schon ihre Berechtigung (10). 

Die Verbesserung einer unbefriedigenden Sicherheitslage – wie sie derzeit herrscht – und Überführung in eine akzeptable Lage dauert sicherlich mehrere Jahre. Der Zeitbedarf für die Schaffung eines Apparates auf Regierungsebene, die Erarbeitung einer Strategie nationaler Sicherheit und die Schaffung einer Umsetzungsorganisation sind Prozesse, die eher mehrere als nur ein einziges Jahr in Anspruch nehmen. Und schließlich ist die Streitkräfteplanung, welche die Planung und Umsetzung der notwendigen Maßnahmen zur Anpassung der Streitkräfte an die aktuellen Bedürfnisse umfasst, ein Prozess, der kaum schneller als im Zweijahrestakt erfolgen kann, zumal auch die Finanzmittel für die Verteidigung im Jahrestakt budgetiert werden. 

Der Betrachtungshorizont einer Strategie nationaler Sicherheit muss folglich eine bis mehrere Legislaturperioden umfassen, mit einem Nachsteuerungsprozess im Zweijahrestakt. Es macht folglich Sinn, die Fragen der Strategie, nachgelagert der Schaffung von Regierungsinstrumenten und wiederum nachfolgend der Streitkräfteplanung in einem einzigen Papier anzusteuern. Wer diese drei Prozesse voneinander entkoppelt, schafft Instrumente oder entwickelt diese weiter, ohne ein bestimmtes Ziel im Auge zu behalten. Insbesondere der angestrebte Ausbau der Bundeswehr wird dann zu einer Aufrüstungswelle um der Aufrüstung willen. 

Die Schaffung einer Super-Behörde in Form eines nationalen Sicherheitsrats wird natürlich politische Widerstände herausfordern und nur Akzeptanz finden, wenn deren Notwendigkeit allgemein erkannt wird. Die Durchführung von Planspielen als Vorstufe zu Übungen könnte helfen, Fragen der Dokumente zu klären, mit deren Hilfe Instrumente des Bundes und der Länder angesteuert werden, die Arbeitsschritte zur Redaktion der Dokumente zu definieren und wiederum davon abgeleitet die Organisation zur Durchführung der Arbeiten zu bestimmen. Die Resultate der Planspiele können dann auch der Rechtfertigung der Organisation selbst dienen. Es wäre niemand gezwungen, mit dem Nationalen Sicherheitsrat die sprichwörtliche Katze im Sack zu kaufen und es wäre klar, was der NSR tut, und vor allen Dingen, was er nicht tut, bevor er feste Gestalt annimmt. 

Das ist kein einfaches Vorhaben, wie das Beispiel der Schweiz zeigt, wo auf Regierungsebene die Chancen, welche durch die Existenz eines Organs für (militär-) strategische und operative Ausbildung – der sogenannte Stabschef operative Schulung SCOS – bislang auch nicht erkannt wurden (11). 

Weg in die Sackgasse

Eine neue Phase des Kalten Kriegs ist unvermeidlich und für Deutschland, das im Konflikt in und um die Ukraine vermittelnd zu wirken versuchte, kann es derzeit nur darum gehen, den Schaden für sich zu begrenzen. Das beinhaltet die Verhütung eines Atomkriegs, sei dieser regional oder global, den Schutz vor nichtnuklearen strategischen Waffen, und die Verhinderung eines konventionellen Kriegs in Osteuropa. In einem konventionellen Krieg kann Russland Osteuropa nicht einfach überrennen, aber es kann ganze Landesteile und Länder verheeren. Die Schwierigkeit wird darin bestehen, Verteidigungsfähigkeit gegenüber Russland zu demonstrieren, ohne einschüchternd zu wirken. Es kommt darauf an, ein regionales Gegengewicht gegen Russland zu schaffen, ohne dieses zu bedrohen. 

Es ist aber auch abzusehen, dass eine reine Abschreckungsstrategie ohne parallele Verhandlungsstrategie schon bald in eine Krise führen kann, welcher die Möglichkeit einer Eskalation bis zur Atomkrise innewohnt. Solche Vorgänge können sich angesichts der zahlreichen potenziellen Krisenherde im Raum der ehemaligen Sowjetunion fast beliebig oft wiederholen. Eine reine Abschreckungsstrategie ist deshalb nicht nachhaltig und wird mittelfristig revidiert werden müssen. Die fehlende Beschreibung der Elemente, welche die aktuelle Lage unbefriedigend machen, das Ausbleiben einer Lagebeurteilung und der Verzicht auf Kriterien für einen akzeptablen Endzustand lassen Zweifel am Nutzen der nationalen Sicherheitsstrategie der Bundesregierung aufkommen. 

Natürlich ist die Versuchung groß, jetzt die Rezepte des Kalten Kriegs wiederzubeleben und die Strategie zu wiederholen, die 1979 in den NATO-Doppelbeschluss mündete. Eine derartige Strategie ist kurzfristig nicht realisierbar, bevor der Westen im Bereich der neuen Technologien für strategische Waffen nicht mit Russland gleichgezogen und auch keine kohärente Verhandlungsstrategie entwickelt hat. Ersteres kann Jahre dauern. Angesichts der konventionellen Überlegenheit des Westens gegenüber Russland ist jedoch eine Strategie denkbar, welche die Stationierung neuer konventioneller Kräfte in der Nachbarschaft Russlands mit Verhandlungsangeboten kombiniert. Gerade auch die Fragen der Sicherheit Finnlands, der baltischen Republiken, Belarus‘, Moldawiens, Transnistriens/Pridnistrowiens und gegebenenfalls noch andere ergeben inskünftig vielversprechende Ansatzpunkte für ost-westliche Zusammenarbeit. 

Erfreulich ist, dass die Bundesregierung Kommunikationskanäle mit Russland offenhalten will:

„Die Bundesregierung setzt sich für strategische Risikoreduzierung und die Förderung von Berechenbarkeit ein, auch für den Erhalt belastbarer politischer und militärischer Kommunikationskanäle im NATO-Russland-Verhältnis“ (12).

Zu Gesprächskanälen gehören aber auch Gesprächsinhalte, ansonsten sind sie nutzlos. An letzterem scheint es vorerst zu mangeln. 

Notwendig ist heute auch eine Diskussion über die Weiterentwicklung des Kriegsvölkerrechts, die Fragen der „hybriden Kriegführung“, verdeckter Operationen, nicht-kinetischer und nicht-militärischer Aktionsformen umfasst. Die neuen Methoden der Kriegführung, die wir in den letzten Jahren beobachteten, verlangen in den Bereichen Rüstungskontrolle und Transparenz eine inhaltlich und räumlich umfassende Lösung, wenn sich Europa nicht permanent in einem Zustand der Kriegführung wiederfinden will. 

Aktuell scheint die deutsche Bundesregierung entschlossen, in der Gemeinschaft unsicherer Kantonisten auf Konfrontationskurs zu gehen mit einem Akteur, den sie für die Regelung anderer Konflikte in Zukunft noch brauchen könnte, um eine Idee mit zweifelhaften Erfolgsaussichten in die Tat umzusetzen. Diese Strategie wird über kurz oder lang in eine Sackgasse führen. Eine kluge Strategie schaut anders aus. 


Zum Autor des obenstehenden Artikels: Ralph Bosshard studierte Allgemeine Geschichte, osteuropäische Geschichte und Militärgeschichte, absolvierte die Militärische Führungsschule der ETH Zürich sowie die Generalstabsausbildung der Schweizer Armee und arbeitete 25 Jahre als Berufsoffizier (Instruktor). Er absolvierte eine Sprachausbildung in Russisch an der Staatlichen Universität Moskau sowie eine Ausbildung an der Militärakademie des Generalstabs der russischen Armee. Mit der Lage in Osteuropa und Zentralasien ist er aus seiner sechsjährigen Tätigkeit bei der OSZE vertraut, in der er als Sonderberater des Ständigen Vertreters der Schweiz und Operationsoffizier in der Hochrangigen Planungsgruppe tätig war. – Ralph Bosshard hat an der Öffentlichen Anhörung im Auswärtigen Ausschuss des deutschen Bundestags als Sachverständiger teilgenommen.  

Anmerkungen:

  1. Mit von der Partie waren neben dem Bundeskanzler nicht weniger als vier Minister. Siehe Bundespressekonferenz vom 14.06.2023, online unter https://www.bundespressekonferenz.de/
  2. Siehe „Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig. Integrierte Sicherheit für Deutschland, Nationale Sicherheitsstrategie“, Deutscher Bundestag, Drucksache 20/7220, 20. Wahlperiode, 14.06.2023, Unterrichtung durch die Bundesregierung Nationale Sicherheitsstrategie, online unter https://dserver.bundestag.de/btd/20/072/2007220.pdf
  3. Das stellte auch einen der Hauptkritikpunkte von Guntram Wolff in der Anhörung dar. Vgl. auch Hans-Georg Münster: Show statt Substanz, Deutschland weiß nicht um seine Rolle in der Welt, bei World Economy, 20.06.2023, online unter https://www.world-economy.eu/nachrichten/detail/show-statt-substanz-deutschland-weiss-nicht-um-seine-rolle-in-der-welt/. Vgl. auch die Ausführungen von Hans-Georg Maassen in: „Die Merkel Zeit war eine verlorene Zeit“, Ausschnitt der Sendung: „Strategie für Deutschland – Nationale Sicherheitsstrategie“, bei Berlin TV, 24.06.2023, online unter https://www.youtube.com/watch?v=yg0xYW9LgG8
  4. Siehe Homepage des Deutschen Bundestags: „Auswärtiges, Nationale Sicherheitsstrategie stößt auf geteiltes Echo“, 19.06.2023, online unter https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2023/kw25-pa-auswaertiges-sicherheitsstrategie-952500.  
  5. Den Vertragstext siehe bei: „Kellogg-Briand Pact 1928“ auf der Homepage der Yale University, Lillian Goldman Law Library, Avalon Project, Documents in Law, History and Diplomacy, online unter https://avalon.law.yale.edu/20th_century/kbpact.asp. Siehe auch „Briand-Kellogg-Pakt 1928 – Materialien zum Völkerstrafrecht“, deutsche Übersetzung auf der Website der Juristischen Fakultät an der Ludwig-Maximilians-Universität München, online unter https://www.jura.uni-muenchen.de/fakultaet/lehrstuehle/satzger/materialien/kellogg1928d.pdf. Vgl. „Briand-Kellogg-Pakt: Ein Vertrag gegen den Krieg“, bei Bundeszentrale für politische Bildung, 24.08.2018, online unter https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/274823/briand-kellogg-pakt-ein-vertrag-gegen-den-krieg/ und „Unterzeichnung des Briand-Kellogg-Pakts“ bei: 100 Jahre Weimarer Republik, Bundesarchiv, online unter https://weimar.bundesarchiv.de/WEIMAR/DE/Content/Dokumente-zur-Zeitgeschichte/1928-08-27_briand-kellogg-pakt.html
  6. Siehe Homepage des Deutschen Bundestags, a.a.O.
  7. Für diese Methodik siehe Ralph Bosshard: Methodik der Lagefeststellung auf multilateraler Ebene als Teil des Krisenmanagements, bei stratos digital #20, Juli 2022, Expertise, online unter https://www.vtg.admin.ch/de/organisation/astab/operative-schulung.detail.news.html/vtg-internet/verwaltung/2022/22-07/220701_2_Methodik_der_Lagefeststellung.html
  8. Das Strategiepapier der Bundesregierung verwendet den Begriff vier Mal. 
  9. So lautete die wörtliche Übersetzung der Bezeichnung des östlichen Militärbündnisses, Warschauer Pakt genannt. 
  10. Eine derartige Forderung erhob die Fraktion der „Alternative für Deutschland“ {AfD) bereits im Jahr 2020. Siehe Antrag der AfD in Sachen Bundessicherheitsrat/Nationaler Sicherheitsrat (Drucksache 19/24393 vom 18.11.2020, online unter https://dserver.bundestag.de/btd/19/243/1924393.pdf
  11. Der Verfasser war selbst während zweier Jahre in diesem Stab berufstätig.
  12. Siehe „Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig“, a.a.O., S. 44.