Nachrichten aus Gaza …
(Red.) Unsere Korrespondentin für den Nahen und Mittleren Osten, Karin Leukefeld, hat uns einen aktuellen Bericht zugemailt.
Samstag, 11.11.2023, Gaza. Ein Brief. Guten Morgen. Wir leben unter sehr harten Bedingungen. G2 Mobilnetzwerk nur zwischen 2-5 Uhr nach Mitternacht. Man kann da kurze Nachrichten senden. Sonst haben wir kein Internet, keinen Strom, keine Brennstoffe, kein Kochgas, kein Leitungswasser, kein Trinkwasser, keine Medikamente. Die Preise sind unvorstellbar. 10 Eier kosten fast 5 Euro. Das ist nur ein Bsp.
Sonntag, 12.11.2023, Al Shifa-Krankenhaus. Ein Video. Der Mann, der es aufnimmt, ist Journalist. Er nimmt mit seiner Kamera auf, sie ist auf ihn gerichtet. Er weint und geht, der Ton schaltet sich ein. Schreie sind zu hören. Undeutlich sagt der Mann, dass er rausgehen muß, weg von diesem Ort. Er ist erschüttert. Dann zeigt die Kamera Menschen, die durcheinanderlaufen, Schreie von überall her. Ein Rettungswagen. Zwei Männer tragen einen leblosen männlichen Körper. Die Kamera zeigt einen Raum, in dem alles durcheinanderliegt. Ein umgestürzter Stuhl. Menschen liegen auf dem Boden. Ein Mann versucht aufzustehen. Umgestürzte Matratzen, leblose Körper. Die Kamera wird hektisch hin und hergeschwenkt, zeigt unscharf Durcheinander. Dann richtet sich die Kamera wieder auf den Journalisten, der fassungslos um sich sieht. Die Kamera dreht sich weg von dem Journalisten und zeigt einen Mann, der bewegungslos kniet. Er kniet in einer Blutlache. Ein Junge kommt gelaufen. Die Kamera zeigt wieder den Raum. Ein Mann versucht aufzustehen, schafft es aber nicht. Sein T-Shirt ist voller Blut. Ein anderer Mann nimmt einen leblosen Körper vom Boden. Die Kamera bewegt sich auf einen Jungen zu, der bewegungslos am Boden liegt. Die Beine sind angewinkelt, der Oberkörper des Jungen ist nach hinten gefallen. Der linke Arm ist ausgestreckt, bewegungslos. Die Augen des Jungen sind geschlossen, unter seinem Kopf breitet sich eine Blutlache aus. Eine Hand zeigt auf das Kind. Ein Mann schreit laut auf, die Kamera stoppt.
In der Nacht zum 12.11.2023 hatte die israelische Armee angefangen, das Al Shifa-Krankenhaus zu bombardieren. Ein Video. Eine Kamera zeigt den Hof vor dem Al Shifa-Krankenhaus. Zelte sind zu sehen, große Planen sind wie Dächer gegen den Himmel gespannt. Ein Röhren ist zu hören, dann schlägt etwas in unmittelbarer Nähe der Kamera ein. Schreie. Das Kamerabild wird nach unten gezogen, das Bild ist unscharf. Dann sind Menschen unter einer der aufgespannten Planen zu sehen. Sie ducken sich, Schreie sind zu hören. Ein Mann schreit vor Schmerzen, andere laufen zu ihm. Unter der Plane sind Schlafplätze, die mit herunterhängenden Decken abgetrennt sind. Menschen liegen auf Decken, springen auf. Man versucht einem Mann zu helfen, der laut vor Schmerzen schreit. Dann wird die Kamera auf den Hof gerichtet, wo ein anderer Mann in einer Blutlache sitzt und schreit. Nur ein Bein ist zu sehen. Die Kamera bricht ab.
13.11.2023 Nachrichten. Israelische Angriffe auf Flüchtlingslager in Gaza gehen weiter. Nuseirat, Deir el-Balah, Jabalia. Aus Jabalia werden mindestens 31 Tote gemeldet. UNICEF fordert einen sofortigen Waffenstillstand und sagt, mehr als 700.000 Kinder in Gaza seien zwangsvertrieben. Die Zahl der Toten steigt auf mehr als 11.200.
15.11.2023 New York. Der UN-Sicherheitsrat in New York hat am Mittwoch (Ortszeit) eine Resolution angenommen, die „dringende und ausgedehnte humanitäre Unterbrechungen“ des Krieges in Gaza fordert. „Für eine angemessene Anzahl von Tagen“ müssen „humanitäre Korridore im ganzen Gazastreifen“ eingerichtet werden, um Hilfsgüter zu verteilen und um kranke und verletzte Personen evakuieren zu können. Explizit wird die Lieferung von Benzin gefordert. Die in Gaza festgehaltenen Gefangenen sollen „bedingungslos“ freigelassen werden, heißt es. Der UN-Generalsekretär wird aufgefordert, einen Bericht über die Umsetzung der Resolution vorzulegen.
Der von Malta vorgelegte Resolutionsentwurf wird mit 12 Stimmen angenommen. Es gibt keine Gegenstimme. Die Veto-Mächte Russland, die USA und Großbritannien enthalten sich der Stimme. Russland enthält sich, weil sein Änderungsantrag, einen vollständigen Waffenstillstand zu fordern, nicht angenommen und von den USA abgelehnt wird. Die USA und Großbritannien enthalten sich, weil die Hamas als Terrororganisation und ihr Angriff – das „Massaker“ – nicht erwähnt wird. Die Veto-Mächte China und Frankreich stimmten für die Resolution, die nach internationalem Recht und der UN-Charta für alle 193 UN-Mitgliedsstaaten bindend ist.
Israel lehnt ab und durchsucht weiter das Al Shifa-Krankenhaus. Israel kündigt Bombardierungen im südlichen Gazastreifen an, bombardiert ein jordanisches Feldlazarett und die letzte noch funktionierende Getreidemühle in Gaza.
18.11.2023 Die israelische Armee hat das Al Shifa-Krankenhaus umstellt und fordert die Klinikleitung auf, alle Menschen zu evakuieren. Omar Zaqout, der in der Notaufnahme arbeitet, führt eine Kamera von Al Jazeera durch das Krankenhaus. Staub in den Korridoren wegen anhaltender Bombardierungen der israelischen Armee. Kinder und Neugeborene haben keine Sauerstoffversorgung mehr, sagt Zaqout. „Das hier ist kein Krankenhaus mehr. Die Besatzungstruppen haben die Ärzte und Pfleger angewiesen, das Krankenhaus zu verlassen. Auf der Straße draußen ist eine schreckliche Szenerie. Überall liegen Dutzende von Leichen, man kann dort kaum laufen.“ Bei den Angriffen auf das Al Shifa-Krankenhaus wurden 51 Patienten getötet, darunter drei Frühgeborene. Der Arzt Munir sagt, ein weiteres Baby sei gestorben und er habe es selber in dem Massengrab auf dem Hof der Klinik beerdigt. Hunderte Menschen verlassen das Krankenhaus. Zurück bleiben etwa 100 Patienten, die nicht transportiert werden können, darunter auch Kinder. Einige Pfleger bleiben bei ihnen.
20.11.2023 Die beiden Journalistinnen Ayat Al-Khadoura und Alaa Taher Al-Hassanat werden bei Luftangriffen der israelischen Armee getötet. Al-Hassanat, die für das Mediennetzwerk «Al Majedat» arbeitete, stirbt mit vielen Familienangehörigen im Familienhaus, das von der Luftwaffe zerstört wird. 2015 schrieb sie in dem Magazin „Frauen für Palästina“ über ihre Erfahrungen im letzten Gaza-Krieg im Jahr 2014. 51 Tage sollte der Krieg damals dauern und sie schrieb über die Verletzten und ihre Familien, die sie in den Krankenhäusern, auch im Al Shifa-Krankenhaus, interviewte. „Im Krieg gegen die Unschuldigen wird deutlich, dass die Welt nur die Starken anerkennt. Mit „stark“ meine ich nicht nur militärische Ausrüstung, sondern die Stärke des Arguments, der Beweise, der Aussage. Unsere Aufgabe als Journalisten ist wichtiger geworden. Es ist, die Wahrheit über die Geschehnisse vor Ort zu vermitteln und zu veröffentlichen.“
Al-Khadoura, eine freie Journalistin, hinterlässt kurz vor ihrem Tod ein 35 Sekunden langes Video, dass sie noch verschicken kann. Mit deutlicher Angst in der Stimme beschreibt sie die Lage: „Dieses könnte mein letztes Video sein. Heute haben die Besatzer weiße Phosphorbomben und auch thermobarische Bomben auf das Gebiet der Beit Lahia Wohnsiedlung gefeuert. Sie haben Flugblätter abgeworfen und dazu aufgefordert, das Gebiet zu verlassen. Alle sind weggegangen. Sie rannten in Panik auf die Straßen, ohne zu wissen, wohin sie gehen sollten. Wir wurden getrennt. Eine kleine Gruppe, auch ich, sind in der Wohnung geblieben. Alle anderen sind fort. Wir wissen nicht, wohin sie gegangen sind. Die Situation ist extrem beängstigend, es ist grauenhaft. Was mit uns geschieht ist schwierig. Möge der Herr uns gnädig sein.“
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(Red.) Siehe dazu die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock: „Es ist nicht Aufgabe von Politik, die Waffen zum Schweigen zu bringen„. Hat man über diese Aussage der deutschen Außenministerin auch in westlichen Medien lesen können? (cm)