Misserfolge auf dem diplomatischen Parkett und an der Front
Derzeit dominiert in der Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine die Diskussion um allfällige Verhandlungen und verdrängt jene um den Einsatz von Abstandswaffen großer Reichweite. Der ukrainische Angriff auf Sewastopol, bei welchem am Badestrand von Liubimovka bei Sewastopol mehrere Zivilpersonen umkamen, hat in Russland aber hohe Wellen geschlagen und dafür gesorgt, dass der US-Botschafter ins Außenministerium einbestellt wurde (1). Militärisch ist ein einzelner Angriff auf eine militärische Einrichtung allerdings weitgehend wirkungslos, wenn auf ihn keine systematischen Folgeschläge folgen. Eher scheint es also so, als gehe es darum, das Zustandekommen von Verhandlungen zu verhindern. Oder hatten die Ukrainer ganz einfach versucht, mit einem Raketen-Angriff auf Sewastopol von den Misserfolgen an der Front abzulenken?
Wir befinden uns derzeit in einer globalen Pattsituation, in der jeder vom anderen abhängig ist und niemand in der Lage ist, einseitig zu handeln. Russland kann die USA derzeit nicht zu ernsthaften Gesprächen bewegen. Die USA können die Situation im Nahen Osten nicht ohne Russland und den Iran bewältigen. Russland kann den Krieg nicht ohne China und die BRICS+-Gruppe fortsetzen. Die USA können ohne russische Hilfe keine Bedrohung für China aufbauen, die China dazu veranlasst, seine Politik zu ändern. Und schließlich kann die Ukraine keine anderen Länder auf ihre Seite in einen Krieg gegen Russland hineinziehen. Das zeigte sich unlängst auf dem Schweizer Bürgenstock (2). Eine grundlegende Änderung der globalen Situation ist daher unwahrscheinlich. Angesichts des sich abzeichnenden Desinteresses der USA an einer weiteren Beteiligung am Krieg in der Ukraine und der militärischen Erfolglosigkeit der Ukraine bleibt nur die Frage, wer schließlich als letzter Mohikaner weiterkämpfen will.
Russische Angriffe entlang der ganzen Front
Seit dem ukrainischen Rückzug aus Avdiivka ist die Front im Donbass ins Rutschen geraten. Wichtig ist nicht, dass die Russen jeden Tag ein oder zwei Dörfer erobern, die inzwischen völlig zerstört sind, sondern dass sie massiv befestigte Verteidigungslinien durchbrochen haben, welche die Ukrainer im Laufe von acht Jahren aufgebaut hatten. Gegenwärtig ist zu beobachten, dass die Russen an weit auseinander liegenden Punkten der Front kleinere Angriffe durchführen und die Angriffe auf benachbarte Regionen ausgeweitet haben. Sie sind zahlenmäßig deutlich überlegen und können ihre Truppen offensichtlich nach Belieben verlagern. Und sie zwingen die Ukrainer zur Führung von Gegenangriffen. Grundsätzlich ist der Gegenangriff als Aktionsform in der Verteidigung nur gegen einen Gegner wirksam, der nach einem Angriff erschöpft ist und nur noch über eine begrenzte Kampfbereitschaft verfügt. Die Russen aber gehen langsam und behutsam vor und mussten seit letztem Herbst kaum je erobertes Territorium wieder abgeben. Die Gebietsgewinne, welche die Ukrainer bei ihrer Sommeroffensive im vergangenen Jahr gemacht haben, haben sie inzwischen fast vollständig wieder verloren.
Am 10. Mai rückten russische Truppen in die Oblast Kharkiv/Kharkov ein. Für eine Eroberung der Stadt reichen die Kräfte sicherlich nicht. Danach warfen die Ukrainer Reserven aus der Region nordwestlich Donetsk in den Abschnitt. Russland erweiterte die Front im Abnützungskrieg, nachdem die Ukraine zuvor im Informationskrieg dort gepunktet hatte. Hier stoßen die Bedürfnisse des Informationskrieges mit jenen des „realen“ Kriegs zusammen. Erstere legen nahe, dass die ukrainische Armee Gegenangriffe führt und die Russen aus der Oblast Kharkiv/Kharkov vertreibt, idealerweise noch ein paar russische Dörfer erobert, während die militärische Logik besagt, dass dies einen Nebenabschnitt betrifft, in welchem man mit seinen Kräften haushalten sollte.
Abnützungskrieg
Im Informationskrieg tröstet man sich und das Publikum bei gegnerischen Erfolgen immer mit angeblich enormen gegnerischen Verlusten. Wichtiger scheint allerdings der qualitative Aspekt: Westliche Panzermuster sind den russischen zumindest nicht überlegen, eher im Gegenteil. Mit Leopard-Panzern ausgerüstete Teile der 47. Brigade der UAF wurden offenbar beinahe aufgerieben (3), worauf die US-amerikanischen Abrams-Panzer zurückgezogen wurden, nachdem einige davon ebenfalls zerstört worden waren (4). Die Strategie des Westens, die Ukraine einen Krieg führen zu lassen, den man sich selbst nicht zu führen traut, stößt mittlerweile an ihre Grenzen. Der Misserfolg westlicher Technik ist nicht mehr abzustreiten, der Sinn westlicher Waffenlieferungen damit fraglich. Die Erkenntnis ist einfach: Russland ist militärisch nicht zu besiegen, nicht so nah an seinen Grenzen. Die Isolations- bzw. Einkreisungsstrategie des Westens gegenüber Russland funktioniert nicht.
Russland beruft jährlich mehrere hunderttausend Wehrpflichtige ein und hat somit einen riesigen Pool zur Verfügung, um Zeitsoldaten zu rekrutieren. Die Ukraine dagegen ist offensichtlich schon am Anschlag, wie die jüngst angekündigten drastischen Mobilisations-Maßnahmen beweisen (5). Der Westen kann das Pferd nun noch ganz zu Boden reiten und die Ukrainer weiter zu Angriffen treiben oder aber den missratenen Versuch, Russland mit ukrainischer Hilfe zu schaden, stoppen – je nachdem, wieviel ihm die Ukraine wirklich wert ist. Die Ukraine, wie sie nach 1991 unabhängig wurde, wird es aber nicht wieder geben, ebenso wenig wie die Ukraine, die Ende 2021 die zweitstärkste Armee des europäischen Kontinents ihr Eigen nannte (6).
Herbeigeschriebene Sommeroffensive?
Trotz der schwierigen militärische Lage der Ukraine, die sich auch mit der Wiederaufnahme der Waffen- und Munitionslieferungen aus den USA die Lage nicht entscheidend ändern wird, kündigte die ukrainische Führung eine Sommeroffensive an (7). Inzwischen verfügt die russische Armee, welche einige ihrer Erfahrungen sicherlich teurer bezahlen musste, über Erfahrungen in den Bereichen der Abwehr von ballistischen Raketen und Marschflugkörpern, des Angriffs im überbauten Gelände und des Einsatzes von Drohnen wie wahrscheinlich keine zweite Armee im Westen.
Im Informationskrieg wurde teilweise auch eine russische Sommeroffensive herbei-geschrieben, an welcher man aber durchaus zweifeln darf. Russland wäre schlecht beraten, irgendwelche tiefe Stöße zu führen und sich geografisch in den Nachteil zu bringen (8). Besser sind die Russen beraten, wenn sie auf lokale Schwächemomente der Ukrainer warten und diese nutzen. Die Ukraine aber konzentriert sich weiter auf das symbolträchtige Ziel der Kertsch-Brücke, die militärisch aber seit dem Bau neuer Eisenbahnlinien an Bedeutung verlor. Hier wird es im Informationskrieg darum gehen, einen Erfolg herbeizuschreiben, der gar keiner ist.
Nächstes Ziel Toretsk?
Auf den Angriff auf Sewastopol reagierten die Russen aber, indem sie ihren Vormarsch im Donbass fortsetzten. Ganz allgemein wollen sie sicher vermeiden, dass sich nach einem allfälligen Waffenstillstand die Ereignisse von 2015 bis 2022 wiederholen, als die sogenannte Kontaktlinie durch dicht besiedelte Ballungsräume verlief, entlang der zeitweise ein regelrechter Kleinkrieg tobte. In den Jahren 2014 bis 2022 verging kaum ein Tag, an welchem an der Kontaktlinie nicht geschossen wurde. Aus Berg-Karabach war man sich in der OSZE, welche den Waffenstillstand überwachte, daran gewöhnt, dass es hin und wieder zum Einsatz von Handfeuerwaffen kommt, weil sich ein Soldat bedroht fühlt oder einfach undiszipliniert ist (10). Die Erfahrung aus den Jahren 2014 bis 2022 in der Ukraine zeigt aber, wie wichtig es ist, dass die schweren Waffen von der Front abgezogen werden, denn diese sind es, die die meisten Opfer forderten und den größten Schaden anrichteten. Inzwischen kam die Vermutung auf, dass die Russen auf eine eindeutig erkennbare Geländelinie vorstoßen wollen, vielleicht auf Nebenflüsse des Seversky Donets und des Dnepr. Es ist daher gut möglich, dass sie derzeit noch nicht daran interessiert sind, ihren Vormarsch zu stoppen.
Ein Abschnitt der Front, der kaum je in den Medien erwähnt wurde, ist jener zwischen Gorlovka/Horlivka und Toretsk. Es ist dies der einzige Abschnitt, in welchem die Front noch dort verläuft, wo sie in den Jahren 2014 bis 2022 verlief. Gorlovka wurde vor 2022 – wie zahlreiche andre Städte im Donbass auch – wiederholt durch ukrainische Artillerie beschossen. Diese Städte sind stark von Bergbau geprägt, beidseits der Front finden sich zahlreiche hohe Abraumhalden, deren Erstürmung wohl unverhältnismäßig hohe Opfer fordern würde. Es dürfte der mittelfristige Plan der Russen sein, Toretsk aus dem Raum Ocheretyne und Chasov Yar zu umgehen.
Die Russen wechselten in den vergangenen Wochen die Schwerpunkte ihres Angriffs, zwangen die Ukrainer, Reserven nach Kharkiv zu verlegen und warten jetzt möglicherweise auf den richtigen Zeitpunkt, um zuzuschlagen. Wenn die ukrainischen Kräfte vor Kharkiv erschöpft sein werden, was noch ein paar Wochen dauern kann, dann könnte für die Russen der richtige Zeitpunkt gekommen sein, um den Angriff auf Toretsk zu starten.
Kontraproduktiver Bürgenstock
Die Kämpfe im Raum Kharkiv zeigen in aller Deutlichkeit die Unterschiede in den Zielsetzungen der Kontrahenten auf: Während das Ziel der Ukrainer in der Rückeroberung von Terrain liegt, geht es den Russen darum, ukrainische Verbände zu zerschlagen. Russland braucht derzeit weder einen Kernwaffen-Einsatz noch ist es an raschen Verhandlungen interessiert. Wenn es das Ziel der Bürgenstock-Konferenz gewesen war, zu verhindern, dass die Ukraine auf einen von Russland dominierten Friedensprozess eingehen muss, dann war der Zeitpunkt ungünstig. Dort zeigte sich, dass es derzeit drei Friedenspläne gibt: einen ukrainischen, einen russischen und einen chinesischen. Vergeblich wartete man aber auf einen westlichen. Vor dem Hintergrund ausbleibender militärischer Erfolge war eine Friedenskonferenz ohne Friedensplan wohl aber kontraproduktiv (12).
Anmerkungen:
- «Раненых несли прямо на лежаках, перевязывали полотенцами и парео». Что рассказывают о кошмаре на пляжах Севастополя очевидцы, bei 29RU, 23.06.2024, online unter https://29.ru/text/incidents/2024/06/23/73743881/, in russischer Sprache. Vgl. Radio Free Europe: „Прямо на пляж сыпались осколки“. Севастополь после ракетной атаки, bei Радио Свобода, 24.06.2014, online unter https://www.svoboda.org/a/pryamo-na-plyazh-sypalisj-oskolki-sevastopolj-posle-raketnoy-ataki/33006933.html. Schon im vergangenen Jahr meldeten ukrainische Medien triumphierend, russische Touristen haetten nun Angst, auf der Krim Urlaub zu machen: „«Низкий» турсезон Севастополя. Туристы опасаются ехать в Крым“, bei Крым Реални, 15.08.2023, online unter https://ru.krymr.com/a/sevastopol-turizm-sezon-2023-proval/32547696.html. Vielleicht war das ja der wahre Grund für die Angriffe auf die Stadt schon vor einem Jahr. Siehe auch „Russian MFA summons U.S. ambassador over Sevastopol attack“ bei Belta, 24.06.2024, online unter https://eng.belta.by/politics/view/russian-mfa-summons-us-ambassador-over-sevastopol-attack-159331-2024/.
- Von den zahlreichen Veröffentlichungen in diesem Zusammenhang sei besonders auf drei hingewiesen. Christian Müller: Der „Friedensgipfel“, der keiner ist, bei Global Bridge, 16.06.2024, online unter https://globalbridge.ch/der-friedensgipfel-der-keiner-ist/ und ders.: Ziel erreicht: ein eindrückliches Gruppenfoto …, bei Global Bridge, 16.06.2024, online unter https://globalbridge.ch/ziel-erreicht-ein-eindrueckliches-gruppenfoto/. Vgl. auch Helmut Scheben: Das Große Welttheater, bei Global Bridge, 17.06.2024, online unter https://globalbridge.ch/das-grosse-welttheater/.
- Das berichteten US-amerikanische Medien. Siehe David Axe: The War-Weary 47th Mechanized Is Ukraine’s ‘Emergency Brigade.’ The Pentagon Is Rushing Replacement Vehicles To Keep The Exhausted Unit In The Fight, bei Forbes, 30.04.2024, online unter https://www.forbes.com/sites/davidaxe/2024/04/30/the-war-weary-47th-mechanized-is-ukraines-emergency-brigade-the-pentagon-is-rushing-replacement-vehicles-to-keep-the-exhausted-unit-in-the-fight/?ss=aerospace-defense&sh=543075be7002. Damit bekam nachträglich russische Berichte recht, u.a. Алексей Моисеев: Уничтожен пункт управления 47-й бригады ВСУ, вооруженной Abrams и Bradley, bei Российская Газета, 02.04.2024, online unter https://rg.ru/2024/04/02/unichtozhen-punkt-upravleniia-47-j-brigady-vsu-vooruzhennoj-abrams-i-bradley.html, wonach der Kommandoposten der Brigade zerstört worden sei. Das löste Fragen aus: „Любимое детище американцев: что не так с элитной 47-й бригадой ВСУ“, bei Украина.ру, 02.05.2024, online unter https://ukraina.ru/20240502/1054845400.html, beide in russischer Sprache.
- Tara Copp: Ukraine pulls US-provided Abrams tanks from the front lines over Russian drone threats, bei Associated Press, 26.04.2024, online unter https://apnews.com/article/ukraine-russia-war-abrams-tanks-19d71475d427875653a2130063a8fb7a.
- In sozialen Medien kursieren derzeit zahlreiche Bilder von Zwangsrekrutierungen ukrainischer Männer, deren Authentizität kaum zu überprüfen ist. Tatsache ist aber die Anwesenheit von über 600’000 ukrainischer Männer im wehrfähigen Alter, die sich in Westeuropa aufhalten und von einer Repatriierung an die Front bedroht sind. Siehe „Wie die Ukraine 500.000 neue Soldaten rekrutieren will“, bei Deutschlandfunk, 17.04.2024, online unter https://www.deutschlandfunk.de/ukraine-krieg-mobilisierungsplaene-100.html, „Für Männer im wehrfähigen Alter: Ukraine stellt Dienstleistungen in Botschaften wohl teilweise ein“ bei Tagesspiegel, 23.04.2024, online unter https://www.tagesspiegel.de/internationales/fur-manner-im-wehrfahigen-alter-ukraine-stellt-dienstleistungen-in-botschaften-wohl-teilweise-ein-11561357.html und Andreas Nefzger, Robert Putzbach: Die Ukraine will ihre Männer zurück, bei Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.05.2024, online unter https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/ukraine-will-wehrfaehige-maenner-aus-dem-ausland-zurueckholen-19696090.html.
- Einen Überblick gab damals der Congressional Service der USA: „Ukrainian Armed Forces“ (Stand 23.06.2021), online unter https://crsreports.congress.gov/product/pdf/IF/IF11862/1. Vgl. „Ukraine Military Size 1960-2024“ von macrotrends, der unter https://www.macrotrends.net/global-metrics/countries/UKR/ukraine/military-army-size für das Jahr 2019 eine Personalstärke von 311’000 Mann auswies.
- Zum entsprechenden Beschluss der US-Repräsentantenhauses siehe „House approves $61bn aid for Ukraine – what we know so far, and what happens next„, bei The Guardian, 21.04.2024, online unterhttps://www.theguardian.com/world/2024/apr/21/house-approves-61bn-aid-for-ukraine-what-we-know-so-far-and-what-happens-next#:~:text=The%20%2495bn%20in%20total,Haiti%2C%20Sudan%20and%20Gaza%2C%20though.
- Siege „Leopard-Panzer an der Grenze der Geografie“, bei Global Bridge, 3101.2023, online unter https://globalbridge.ch/?s=Leopard-Panzer+an+der+Grenze+der+Geografie und auf bkoStrat, unter https://bkostrat.ch/2023/02/04/leopard-panzer-an-der-grenze-der-geografie/.
- Quelle: „Sitrep for May 1-3, 2024 (as of 9:00 a.m. UTC+3)“ bei Conflict Intelligence Team, 03.05.2024, online unter https://notes.citeam.org/dispatch-apr-may-1-3-2024.
- Der Verfasser war mehrere Male an Inspektionsreisen an der Frontlinie in Berg-Karabach beteiligt, bei denen jeweils die „Buchführung“ der Waffenstillstandsverletzungen besprochen wurde.
- Siehe Константин Довгань: Казацкого рода: история Торецка, который страдает из-за оккупантов, bei 24Kanal, 27.08.2022, online unter https://24tv.ua/ru/istorija-goroda-toreck-ukrainskij-donbass-24-kanal_n2120200, in russischer Sprache.
- Beitragsbild: Abraumhalten in der Region Toretsk; siehe Константин Довгань, a.a.O. Bildlink: https://24tv.ua/resources/photos/news/202208/2120171_15994486.jpg?202208171845&w=2048&h=1347&fit=cover%27&output=webp