Michail Gorbatschow: Der Ausnahmepolitiker und die mutwillig verspielten Chancen für eine friedlichere Welt
Michail Gorbatschow war kein „tragischer Held“, wie es nun in den Nachrufen aller Orten wieder tönt. Das Erbe seines epochalen Neuen Denkens wurde verspielt. Von den Politikern in West und Ost. Aber auch von einer friedenspolitisch weitestgehend apathischen Öffentlichkeit.
Wie mag es sich anfühlen, wenn man am Ende seines Lebens ohnmächtig, aber bei vollem Bewusstsein mitansehen muss, wie das eigene einzigartige Lebenswerk für die gesamte Menschheit mit voller Wucht mutwillig an die Wand gefahren wird? Wie wird man sich fühlen, wenn man sich dabei auch noch seit mehr als zwei Jahren im Krankenhaus – dem der Präsidentialadministration – aufhalten muss, von Freunden, Kollegen und Verwandten weitestgehend isoliert? Wenn der Körper zusehends schwächer wird, Diabetes Aufstehen und Gehen fast unmöglich macht, man mehrfach in der Woche zur Dialyse muss?
Und wenn gleichzeitig das eigene Land Krieg, pardon: eine „Spezialoperation“ durchführt – gegen das Brudervolk, dem die Mutter und die über alles geliebte, viel zu früh verstorbene Ehefrau entstammten?
How does it feel?
Der Ausnahmepolitiker …
Mit Michail Gorbatschow war, als Europa Mitte der Achtziger Jahre fast unausweichlich in ein atomares Inferno hinabzustürzen drohte, wie durch ein Wunder nicht nur ein Ausnahmepolitiker an die Macht gekommen, sondern auch ein Ausnahmemensch! Und ausgerechnet in dem von Ronald Reagan so genannten „Reich des Bösen“. Ein Mann, der Krieg verachtete und seine Frau mehr liebte als seine Arbeit. Der Chef einer Supermacht, der mit dem von ihm mitentwickelten Neuen Denken mental auf der Höhe des Atomzeitalters war und zugleich den Mut und die Energie aufbrachte, es in Neues Handeln umzusetzen. Der die ‚Erbsenzählerei‘ der jahrelang in Genf festgefahrenen Verhandlungen, ja die ‹Logik des Wettrüstens› selbst überwand, indem er in qualitativen statt in quantitativen Kategorien dachte, die Politik des Nullsummenspiels – mein Gewinn ist dein Verlust – hinter sich ließ und gegen alle internen und äußeren Widerstände hartnäckig auf ein Ziel hinarbeitete: atomare Abrüstung! In seinen eigenen Worten: für die „Unsterblichkeit der Menschheit“.
Und keinesfalls vergebens: Alle landgestützten Mittel- und Kurzstreckenraketen in Ost und West wurden abgezogen und restlos verschrottet. Erstmals in der Geschichte des Kalten Krieges war somit eine gesamte Waffengattung, und zwar die Gefährlichste, eliminiert! Es folgte die Zerstörung von 80 Prozent aller Atomsprengköpfe weltweit. Aber Gorbatschow wollte mehr: Am 15. Januar 1986 verlas der damalige Generalsekretär der KPdSU eine sensationelle Erklärung, die in konkreten und realisierbaren Teilschritten den Weg zu einer atomwaffenfreien Welt bis zum Jahre 2000 wies.Einen kurzen zauberhaften Moment lang schien alles sich doch noch zum Guten zu wenden. Der Weg in eine friedliche Zukunft schien offen: Der – wie wir heute desillusioniert feststellen müssen: erste – Kalte Krieg wurde beendet, ohne dass ein einziger Schuss fiel, Gorbatschows Vision vom „Gemeinsamen Europäischen Haus“ schien greifbar nahe. Für einen Wimpernschlag der Weltgeschichte schien selbst Kants Utopie vom „Ewigen Frieden“ in den Bereich des Möglichen gerückt.
Der kollektive Westen und der sowjetische Raum hatten mit Gorbatschow folgende, vermutlich einmalige Chancen:
- eine Welt ohne Massenvernichtungsmittel und und Kalten Krieg mit umfassender weitestgehender Abrüstung auf ein vertretbares Niveau,
- ein auf Jahrzehnte befriedeter europäischer Kontinent,
- eine Weltordnung unter der Ägide der Vereinten Nationen.
… und die mutwillig verspielten Chancen
Ein Blick auf die aktuelle Weltlage zeigt, wie diese Chancen verspielt wurden: Die „Charta von Paris“ und das Neue Denken wurden vergessen gemacht, fast alle Abrüstungs- und Rüstungsbegrenzungsverträge, die das Ende des Kalten Krieges ermöglicht hatten, wurden – ausschließlich auf Druck der USA – gekündigt, Atomwaffen sind längst wieder salonfähig, ihr möglicher Ersteinsatz in den Doktrinen der USA und Russlands nun ausdrücklich verankert, Atomsprengköpfe werden ‚modernisiert‘, ein neuer Eiserner Vorhang durchteilt jetzt rund tausend Kilometer weiter östlich unseren Kontinent, das „Gemeinsame Europäische Haus“ liegt in Trümmern und der gegenwärtige Krieg in der Ukraine ist nicht etwa der erste in Europa seit dem Ende des ersten Kalten Krieges. All dies bei höchst instabilen geopolitischen Rahmenbedingungen in einer Welt, in der kein relevanter Akteur sich überhaupt noch an Regeln zu halten scheint.
Und eine weitgehend apathische Öffentlichkeit in West und Ost, eine verhängnisvolle internationale Volksfront der Ignoranz, Indolenz und der Bequemlichkeit ließ alles jahrelang widerstandslos zu: Als vor drei Jahren schließlich auch noch der INF-Vertrag jämmerlich abkratzte, da juckte es selbst die ehemals Friedensbewegten im wiedervereinten Deutschland kaum noch. Gorbatschows letztes Buch, sein politisches Testament „Was jetzt auf dem Spiel steht – Mein Aufruf für Frieden und Freiheit“ – punktgenau zum 30. Jahrestag des Mauerfalles erschienen – wurde von den deutschen Leitmedien fast gar nicht mehr zur Kenntnis genommen.
Nicht nur die Politiker – wir alle haben versagt!
Am 30. August ist Michail Gorbatschow im Alter von 91 Jahren von uns gegangen. Dass er zum Ende seines Lebens ohnmächtig mitansehen musste, wie das politische Erbe seines Neuen Denkens fahrlässig verspielt, nein: mutwillig an die Wand gefahren wurde, das war für ihn die schlimmste Tragik, die schrecklichste Demütigung – aber auch die erbärmlichste Schande für die gegenwärtigen Akteure im Westen wie in Russland!
Nun sind wir alle Hinterbliebene.
Aber nicht von Gorbatschow.
Sondern von all den ungenutzten Chancen auf eine friedlichere Welt.
Kurz: Von uns selbst!
Siehe dazu den Bericht des Autors über seinen Besuch bei Gorbatschow, hier.