Marija Sacharowa, formal die Informationsbeauftragte des russischen Außenministeriums. Aber sie ist eben auch eine Russin mit Eltern und Großeltern, die das Morden der deutschen Wehrmacht nicht vergessen haben. Geschätzt 27 Millionen Bürger und Bürgerinnen der Sowjetunion sind dem deutschen Vernichtungskrieg im Zweiten Weltkrieg zum Opfer gefallen. Ist es da verwunderlich, wenn sich Russland aufgrund der NATO-Osterweiterung, der US-Raketenbasen in Polen und Rumänien, der angestrebten und zunehmenden "Interoperability" der NATO und der ukrainischen Armee und der Gesprächsverweigerung der USA und der NATO im Dezember 2021 militärisch bedroht fühlte? (Photo mid.ru)

Marija Sacharowa antwortet auf die Frage von Globalbridge: Ist Russland wirklich offen für den Dialog?

(Red.) Stefano di Lorenzo, der regelmäßig für Globalbridge.ch aus Russland berichtet, hat als akkreditierter Journalist am diesjährigen «Eastern Economic Forum» EEF in Wladiwostok teilgenommen. Das gab ihm die Möglichkeit, Marija Sacharowa, der Informationschefin des russischen Außenministeriums, direkt eine Frage zu stellen. Globalbridge freut sich, Sacharowas vollständige Antwort hier – vom russischen Außenministerium ins Deutsche übersetzt und anhand des russischen Originaltexts von Globalbridge.ch überprüft – wiederzugeben. Sacharowas Antwort enthält nicht nur historische Fakten, sie gibt ganz am Schluss auch einen kleinen Einblick in die russische Seele. (cm)

Auf dem «Eastern Economic Forum» EEF in Wladiwostok wurde nicht nur über Wirtschaft und Unternehmen gesprochen. Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Marija Sacharowa, hielt ihr traditionelles wöchentliches Briefing ebenfalls in Wladiwostok ab. Und am Ende war es unmöglich, selbst aus Tausenden von Kilometern Entfernung nicht auch über die Ukraine zu sprechen, insbesondere angesichts des jüngsten ukrainischen Einmarsches in der Region Kursk.

Während ihres Briefings schien Marija Sacharowa die gesamte Verantwortung für den Konflikt in der Ukraine dem Westen zuzuschreiben. Das ist sicherlich eine etwas einseitige Darstellung, aber wie könnte es auch anders sein? Sacharowa ist eine offizielle Vertreterin der russischen Regierung, und in Kriegszeiten kann man sich den Luxus der Ambiguität und einer nuancierten Darstellung der Welt und der Ereignisse oft nicht leisten. Auch im Westen wissen wir Vieles darüber.

Vor dem ukrainischen Einmarsch in Kursk hatte Russland bei verschiedenen Gelegenheiten wiederholt erklärt, dass es für Verhandlungen zur Beendigung des Konflikts offen sei. Im Westen hieß es jedoch, Russland sei in seinen Absichten nicht aufrichtig. Russland habe ausschließlich imperialistische Motive, Russlands eigentliches Ziel sei es, die Ukraine zu zerstören und das ukrainische Volk zu vernichten. Deshalb, so heißt es im Westen, gäbe es keine Möglichkeit, mit Putin zu verhandeln, und jeder, der von Verhandlungen mit Putin spreche, sei entweder ein Schwachkopf oder tue dies in böser Absicht und sei somit ein Agent des Kremls. Jeder, der von Kompromissen spricht, wird als neuer Chamberlain geächtet. Sofort manifestiert sich der München-Komplex, eine hysterische und paranoide Reaktion, die überall einen neuen Hitler sieht und die angebliche Untätigkeit des Westens vor dem Bösen anprangert — selbst dann, wenn der Westen offensichtlich ziemlich viel getan hat, um einen Konflikt nicht zu beschwichtigen, sondern im Gegenteil noch Benzin ins Feuer gegossen hat. Das Trauma des Zweiten Weltkriegs und des Völkermords sitzt offensichtlich auch 80 Jahre später noch tief. 

Mit all diesen Überlegungen im Hinterkopf beschloss ich, die Gelegenheit zu nutzen, als nach dem Briefing von Marija Sacharowa die Zeit für Fragen kam. So fragte ich die Sprecherin des russischen Außenministeriums, ob Russland es ernst meint mit seiner Absicht, Gespräche zu führen, um auf dem Verhandlungsweg ein Ende des Konflikts in der Ukraine zu erreichen, oder ob Russland auch heute noch alles auf einen militärischen Sieg setzt. 

Viele in Russland, sowohl in der Medienwelt als auch ganz normale Russen, die fernab jeglicher Medienberühmtheit und einfach auf der Seite ihres Landes stehen, scheinen zur zweiten Option zu tendieren. Ein Sieg sei das einzig mögliche Ergebnis für Russland. Was unter einem Sieg zu verstehen ist, wird dann nicht unbedingt präzisiert. Aber das ist auch nicht wichtig. Die Russen haben sich so viele Jahre lang vom Westen hinters Licht geführt gefühlt und möchten daher ihre Erfahrung wiederholen. Dies ist ein wichtiger Aspekt, den man berücksichtigen muss, wenn man die russische Mentalität von heute verstehen will.

Die Antwort der russischen Sprecherin Marija Sacharowa war bemerkenswert und gut argumentiert, weshalb wir sie in vollem Umfang wiedergeben. Es entstand der Eindruck, dass meine Frage nicht ganz nach dem Geschmack der Sprecherin des russischen Außenministeriums war und teilweise auch missverstanden wurde. Aber ist es nicht die Aufgabe eines Journalisten, auch unbequeme Fragen zu stellen? Die hier wiedergegebene Übersetzung ist der Seite des russischen Außenministeriums entnommen

Sacharowas Antwort veranschaulicht aus russischer Sicht, wie der Krieg im Laufe von acht Jahren zustande kam. Natürlich werden viele im Westen denken, dass man das, was Russland sagt, nicht beachten sollte, weil es per definitionem verlogen und böswillig sei. Oder dass man das, was Russland sagt, selektiv und ohne jeden Kontext zitieren kann. Genau diese Art der völligen Verschlossenheit des Westens gegenüber den Motiven anderer Länder hat zum heutigen Konflikt geführt.

Frage:

Ich habe den Eindruck, [Sie wollen sagen], dass nur der Westen an der aktuellen Situation in der Ukraine schuld ist. Ist Russland jetzt wirklich bereit, mit einem solchen Westen zu verhandeln, oder sind das nur deklarative Aussagen und Russland setzt weiterhin auf einen militärischen Sieg?

Die Antwort von Marija Sacharowa:

Ich hoffe, dass Ihr Interesse an diesem Thema nicht erst 2022 entstand. Ich hoffe, Sie wissen, dass Russland die Minsker Abkommen selbst initiiert und dann aktiv zu ihrer Umsetzung aufgerufen hat. Sie können sich jede Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin oder des Außenministers Sergej Lawrow zu internationalen Themen seit 2014 ansehen und die Passagen zur existenziellen Notwendigkeit der Umsetzung der Minsker Abkommen lesen. Sie sagen, dass wir jetzt angeblich auf Gewalt setzen, oder? Ja, nachdem die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel und der ehemalige französische Präsident François Hollande zugegeben haben, dass sie nicht vorhatten, die Abkommen umzusetzen. Gleichzeitig wurde das Kiewer Regime mit Waffen vollgepumpt, militärisches Material in der Ukraine gelagert und endlose Manöver durchgeführt. Anfang 2022 wurden die Angriffe auf den Donbass erheblich verstärkt. Dann begannen die Waffen zu „sprechen“ und das Militär übernahm die Macht.

Wo waren Sie in den letzten sieben Jahren? Während dieser Jahre haben Sie sicher nicht systematisch Frankreich und Deutschland (die Büros der Staatsoberhäupter, der Außenministerien) gefragt, warum sie nicht alles machen wollen, um das Kiewer Regime zur Umsetzung der Minsker Vereinbarungen zu bringen? Alle hatten die Illusion, dass dies nicht ernst sei. Doch es ist ernst.

Was die Frage betrifft, ob aus unserer Sicht der Westen an allem schuld ist. Im Frühjahr 2022, als die militärische Spezialoperation begann, haben wir dennoch auf die Anfragen zu Friedensverhandlungen reagiert. Doch diese wurden dann vom Westen blockiert. Zuerst war es der ehemalige britische Premierminister Boris Johnson, der Wladimir Selenskyj im Frühjahr 2022 von Verhandlungen abgebracht hat. Die Verhandlungen wurden eingestellt. Später haben die USA Selenskyj auf gesetzlicher Ebene gezwungen, sich selbst Verhandlungen mit Russland zu verbieten. Das ist die Antwort auf Ihre Frage. Wir waren immer für den Frieden.

Selbst als es keine Optionen mehr gab, waren wir bereit zu reagieren. Und das haben wir getan. Das ist die Realität. Man muss sie sehen.

Was den deklarativen Charakter betrifft: Russland war 2014 der Initiator der Ausarbeitung der ersten Minsker Vereinbarungen. Ein halbes Jahr später bildeten sie die Grundlage der zweiten Minsker Vereinbarungen, die paraphiert, gebilligt und von allen unterzeichnet wurden. Das „Normandie-Format“ übernahm die Arbeit an ihrer Umsetzung. Das beweist gerade, dass wir nicht deklarativ, sondern pragmatisch und konkret handeln. In der Praxis arbeiteten wir allumfassend an der Umsetzung gerade friedlicher Lösungen.

Sie wissen wohl, dass dies alles vor dem Hintergrund von Millionen Flüchtlingen aus der Ukraine in unser Land geschah. Europa hat erst in den letzten zwei Jahren erfahren, was es bedeutet, dass Menschen massenhaft aus der Ukraine kommen. Wir haben dies 2014 erlebt und denjenigen, die bei uns Schutz suchten, alles zur Verfügung gestellt (zeitlich unbegrenzt), ob zeitweilig oder dauerhaft. Wir haben ihnen Arbeit, Schulen, Kindergärten und Wohnungen bereitgestellt. Ich weiß das besser als jeder andere. Wenn ich zu meinen Verwandten im Gebiet Moskau komme, sehe ich, wie auf dem Nachbargrundstück diejenigen wohnen, die 2014-2015 aus der Ukraine kamen. Das zum Thema des deklarativen Charakters. War es deklarativ, dass wir alle diese Jahre bis 2022 – und nach 2022 sowieso – sieben Jahre lang humanitäre Hilfe in die von der Ukraine finanziell abgeschnittenen Regionen – ich meine den Donbass – schickten?

Damals schrieb die Zeitung Guardian und stellte das Ganze als Panzerlieferung dar. Erinnern Sie sich, was die weißen humanitären Lastwagen geladen hatten? Schulbücher, Heizungen, Medikamente, Bettzeug (ich meine vor allem Decken), Kleidung. „Der Guardian war der erste, der schrieb, dass Russland definitiv militärisches Gerät transportiert. Sie haben sich nicht einmal entschuldigt. Meinen Sie das deklaratorisch? Nein, nicht. Wir machen alles ganz praktisch. Wir kennen den Preis von Kriegen und Siegen. Wir haben damals zu teuer bezahlt, um diese Worte nicht in Ehren zu halten.

Was die vorherige Frage betrifft, was wir uns wünschen und mit wem wir zusammenarbeiten möchten, wenn jemand in einem bestimmten Land gewählt wird. Vielleicht überschreite ich hier meine funktionalen Pflichten, aber als Bürgerin unseres Landes, als Tochter meiner Eltern, als Enkelin von Großeltern, die den Krieg erlebt haben, sage ich Ihnen: Wir wollen Frieden, Freundschaft, aber wirklich, nicht nur deklarativ. Wir haben dies schon mehrmals bewiesen.