Lugano: Falsches Thema, viel Blabla, aber auch zwei drei erwähnenswerte Punkte …
Gemäss der Berichterstattung auf Watson.ch hat der Schweizer Aussenminister, Bundesrat Ignazio Cassis, an der «Ukraine Recovery Conference» in Lugano den folgenden Satz gesagt: «Was uns alle in diesem Saal verbindet, ist der Wunsch, dem ukrainischen Volk in dieser Zeit des Schreckens, der mutwilligen Zerstörung und der Trauer die Aussicht auf eine Rückkehr zu einem Leben in Selbstbestimmung, Frieden und einer strahlenden Zukunft zu geben.» Nochmals: «zu einem Leben in Selbstbestimmung». Ist sich Ignazio Cassis bewusst, dass die ganze traurige Geschichte der Ukraine seit 2014 auf genau diesem Punkt beruht: auf von Kiev nicht akzeptierter Selbstbestimmung der Menschen im Südosten der Ukraine?
In der Sozialcharta der UNO steht unter Artikel 1 Absatz 1 als erster Satz: «Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung.» Was aber ist Selbstbestimmung? Im Originaltext steht folgendes: «All peoples have the right to self-determination. By virtue of that right they freely determine their political status (!) and freely pursue their economic, social and cultural development.» Und in den Erklärungen dazu: «Essentially, the right to self-determination is the right of a people to determine its own destiny. In particular, the principle allows a people to choose its own political status (!) and to determine its own form of economic, cultural and social development.» Oder auf gut deutsch: Jedes Volk hat das Recht, seinen politischen Status selbst zu bestimmen.
Was aber ist in der Ukraine passiert? Nachdem die von den USA unterstützten und mitfinanzierten Demonstranten auf dem Euromaidan 2014 den ordentlich gewählten Staatspräsidenten Wiktor Janukowytsch in Form eines Putsches abgesetzt haben und nachdem von den extrem nationalistisch bestimmten neuen Staatsorganen in Kiew darauf die russische Sprache im Südosten der Ukraine, im Donbass, und auf der Krim unterdrückt werden sollte, beschlossen die Bewohner der Krim die Wiedervereinigung mit Russland und die Menschen im Donbass wollten sich von der Ukraine ebenfalls trennen und beschlossen – getreu dem Recht auf Selbstbestimmung – die Trennung von der Ukraine und die Schaffung zweier neuer, unabhängiger Republiken Donezk und Luhansk.
Sprich: Das Recht auf Selbstbestimmung ist ein Recht der Völker, der Menschen, englisch «people», nicht das Recht durch Regime Change entstandener Regierungen, ihren Bürgern zu befehlen, wem sie jetzt gehorchen müssen. Die Krim-Bewohner haben 2014 auf das Recht auf Selbstbestimmung zurückgegriffen, haben in einem Referendum die Wiedervereinigung mit Russland beschlossen und werden dafür seit 2014 mit internationalen Sanktionen bestraft. Und die Bewohner des Donbass haben im gleichen Jahr auf das Recht auf Selbstbestimmung zurückgegriffen und werden deshalb seit dann – mittlerweile acht Jahre lang – von ukrainischen Truppen und freien Milizen bombardiert – mit Tausenden von Toten, darunter auch unzählige Kinder, und mit unermesslichen Schäden an Bauten und an der Infrastruktur. Das sollte auch die Schweiz – auch mit der Erfahrung der Abtrennung des Juras vom Kanton Bern – und seine Regierung, nicht zuletzt auch ihr Aussenminister Ignazio Cassis, endlich zur Kenntnis nehmen und begreifen! Wenn Menschen im Süden der Ukraine mit russischer Muttersprache sich von Kiew unterdrückt fühlen und sich deshalb von der Ukraine trennen wollen, dann sollen sie das dürfen! «All people have the right to self-determination.» Wer erklärt das endlich unserem Bundesrat? (Siehe dazu frühere Berichte von Christian Müller, hier und hier.)
Aber nicht alles, was Ignazio Cassis sagte, ist falsch
Der mehr als nur fantasievollen Begehrlichkeit der ukrainischen Vertreter in Lugano, die russischen Besitztümer auf der ganzen Welt zu enteignen und das Geld für den Wiederaufbau der Ukraine einzusetzen, erteilte der Schweizer Bundespräsident immerhin eine klare Abfuhr. Dazu die NZZ: «Der Wunsch (der Ukraine, Red.) ist dabei freilich Vater des Gedankens, wie Cassis seinem Kollegen Schmihal noch auf der Bühne klarmachte. Es brauche etwas ‹Seriosität› in dieser Diskussion, mahnte der Schweizer Aussenminister. Eigentum sei ein Grundrecht, das nicht einfach so verletzt werden dürfe. ‹Wir haben sicherzustellen, dass die Bürgerinnen und Bürger gegen Machtmissbrauch durch den Staat geschützt sind – das nennt sich liberale Demokratie›, meinte der Bundespräsident ungewohnt undiplomatisch.»
Nicht thematisiert: die Verwüstungen durch die ukrainische Armee
Was im Kreise der in Lugano versammelten Russophobie-Proleten natürlich kein Thema war: Wer bezahlt den Wiederaufbau jener Städte, die von Seite der Ukraine zerstört wurden und werden? Acht Jahre lang hat die Ukraine – unterstützt von den USA – die abtrünnigen Gebiete im Südosten der Ukraine beschossen und bombardiert. Es kann nicht genug oft erwähnt werden, weil es in den westlichen Medien einfach unter den Teppich gewischt wird. Und seit Wochen beschiessen die Ukrainer die Stadt Donezk, die, nach Ansicht von Kiew, ja immerhin noch eine Stadt in der Ukraine ist, aber deren meiste Menschen eben lieber zu Russland gehören möchten. Selenskyjs mittlerweile an Blödheit grenzende Meldungen, dass die Ukraine «das freiste Land der Welt» sein werde, sind längst fern jeder Realität. Immerhin konnte man in Lugano auch hören, dass der ukrainische Reformbedarf immens ist. Das seit Jahren von westlichen Staaten eingegangene Geld hat noch nie die Armen der Ukraine erreicht, es ist immer in den Taschen der dort herrschenden Oligarchen und der Behörden versickert. Nicht zufällig arbeiteten schon vor dem Krieg Hunderttausende von Ukrainern im Ausland und schickten einen Gutteil ihres dortigen Einkommens – als sogenannte Rimessen – nach Hause, um den zuhause gebliebenen Familien ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen.
Die USA und UK liefern die Waffen, für die «Lieferung» der Kriegstoten ist die Ukraine gerade recht …
Es ist das erklärte Ziel der USA und Grossbritanniens, Russland zu zerstören – unter gnädiger Mithilfe der EU. Dieses Ziel ist mittlerweile ja auch kein Geheimnis mehr, selbst Joe Biden hat das offen zugegeben. Und wie macht man das? Man schickt Unmengen von Geld, militärische Instruktoren und Waffen, mittlerweile sogar hochmoderne Waffen mit grosser Reichweite, in die Ukraine, ohne jedes eigene Risiko, eigene Soldaten opfern zu müssen. Neben den zahlreichen jungen Polit-Idealisten, die – mit ausdrücklicher Genehmigung ihrer Heimatländer – in der Ukraine als Söldner mitkämpfen und dort als willkommenes Kanonenfutter eingesetzt werden, sind es ja Tausende von ukrainischen Soldaten, die zu Tode kommen. Auch deshalb war es in Lugano kein Thema, wie der Krieg beendet werden könnte. Wen kümmert es schon, wenn Ukrainer sterben. Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj, immer nach der Geige der USA tanzend, will es ja so haben. Also soll der Krieg so weitergehen.
Aber es gibt einen Gewinner von «Lugano» …
Ein Rundblick in die Medien ausserhalb der Schweiz zeigt, dass die «Ukraine Recovery Conference» in Lugano kein Thema war. In den USA war sie kein Thema, in Frankreich war sie kein Thema, nicht einmal in Italien, nur wenige Kilometer von Lugano entfernt. Insofern war es kein grosser internationaler Erfolg von Bundespräsident Ignazio Cassis. Aber einen Erfolg kann er verbuchen: Er hat «seiner» Heimatstadt Lugano – aufgewachsen ist er allerdings in Sessa im Malcantone – zu vollen Hotels und dies erst noch zu höheren Preisen verholfen. Die Stadt wird ihm das verdanken. Und die Kosten der Schweiz – zusätzliche Polizei, erhöhter Grenzschutz, Einsatz von Militär, Einsatz des Bundesrats-Jets für die Anreise von Konferenz-Teilnehmern etc. – zahlen ja wir Steuerzahler …
PS am Abend des 7. Juli 2022: Gerade heute wieder haben die ukrainischen Truppen die Stadt Donezk intensiv beschossen, jetzt auch mit neuen, modernen Waffen, wie man aus Donezk vernehmen kann. Wer wird den Wiederaufbau dieser Stadt bezahlen?
PS 2: Und das «Echo der Zeit» berichtet darüber, wie die Russen die eroberten Gebiete in der Ukraine russifizieren wollen – notabene ohne ein Wort darüber zu verlieren, wie die Ukraine seit 2014 (!) daran gearbeitet hat, die russische Sprache und Kultur in der ganzen Ukraine zu unterdrücken, bis und mit dem Verbot, dass Verkäuferinnen und Servierfrauen in den russischsprachigen Regionen die Kunden russisch bedienen. Das war im «Echo der Zeit» kein Thema, nie. Aber wenn Russland jetzt die Retourkutsche beginnt, ist es natürlich furchtbar. Das ist, mit Verlaub, gewollte Förderung der Russophobie. Man lese zu diesem Thema meinen Bericht «Traurige Nachrichten aus der Ukraine» vom 11. Februar 2021.