Ludvík Vaculík: «Wir haben den Kommunismus besiegt, aber dessen Ursachen sind wieder da … »
(Red.) Darf es auch einmal ein wenig philosophisch sein? Der tschechische Liedermacher und Journalist Ivan Hoffman fragt nicht nur, wie die Vergangenheit damals, in der Samtenen Revolution im Jahr 1989, ausgeschaut hat, sondern vor allem auch, was man sich damals von der Zukunft erhoffte. Ivan Hoffman, vor 1989 tendenziell auf der Seite der Dissidenten, kommt zum Schluss, dass die Gegenwart etwas Anderes gebracht hat, als damals erhofft. (cm)
Es macht Sinn, sich zu fragen, ob das vergangene Regime wirklich schlimmer war als das heutige. Aber wir fragen das natürlich nur, weil das heutige Regime entsetzlich ist. Wir sehen die Vergangenheit heute in einem klareren Licht, als wir jene Vergangenheit sahen, die wir damals abgelehnt haben, weil die Gegenwart jetzt schlimmer ist, als wir es gehofft hatten. Die Aufarbeitung der Vergangenheit lässt sich nicht steuern, aber sie lässt sich auch nicht verhindern. Eines schönen Tages wird man vielleicht sogar sagen, dass das Leben während des Totalitarismus lebendig war, weil es keine Möglichkeit gibt, in die Vergangenheit zurückzukehren. Die Brücken sind konsequent abgebrannt. Ketzerische Träume werden nur von einem vergangenen Leben geträumt, das hoffnungslos vorbei ist.
Im Rückspiegel erscheint das Jahr 1989 als verpasste Chance, zu ändern, was nicht funktioniert hat, aber an dem festzuhalten, was funktioniert hat. Im Nachhinein können wir nun sehen, was wir verloren und was wir nicht gewonnen haben. Vorausgesetzt natürlich, wir wollen das wirklich sehen.
Es ist klar, dass unsere Reise in den Westen von Anfang an dazu verdammt war, an der Peripherie des Westens zu enden, denn der Westen expandiert nur an den Peripherien, die er ausbeutet. Und weil das Wesen des Kapitalismus die Ausbeutung ist, kann der Westen das Potenzial der Peripherien gar nicht wertschätzen, sondern nur ausbeuten, und er ist daher selbst dazu verdammt, an der Peripherie zu verkommen. Was wie Wachstum aussieht, ist ein Krebsgeschwür, das die Gesellschaft von innen auffrisst. Die Ausbeutung hat einfach keine gute Zukunftsperspektive.
Kurz nach dem Regimewechsel (1989, Red.) erklärte der Schriftsteller Ludvík Vaculík, was unser Problem ist: „Wir haben den Kommunismus besiegt, aber die Ursachen, derentwegen der Kommunismus geschaffen wurde, sind wieder da.“ Anstatt nach Alternativen zu Ideologien zu suchen, die gescheitert sind, sind wir zum Kapitalismus zurückgekehrt, der sogar schon mehrmals gescheitert ist, im naiven Glauben, dass es dieses Mal klappen wird. Der Grund dafür war die Unfähigkeit zu denken, nach etwas Neuem zu suchen, verblendet durch die Behauptung, der Kapitalismus sei alternativlos und dritte Wege führten nur in die Dritte Welt. Die Folge dieser Unfähigkeit, nach einem besseren Weg zu suchen, ist der heutige Niedergang des Westens und sein Abdriften in diese imaginäre Dritte Welt.
Regime ändern sich nicht über Nacht. Das neue Regime hat die Erfahrung von Generationen, die durch das vorherige Regime geprägt und deformiert worden waren. Erst mit der Erneuerung der Generationen kommen die Nachteile oder Stärken des neuen Regimes zum Vorschein. Erst wenn die Generation, die eine gute Ausbildung erhalten hat, ausstirbt, stellt sich heraus, dass das neue Regime eine ungebildete Gesellschaft auf dem Gewissen hat. Erst wenn die alten Zahnärzte weg sind, wird sich herausstellen, dass das neue Regime, das jede zentrale Planung ablehnt, niemanden hat, der die Zähne der Menschen in abgelegenen Regionen repariert. Und mit dem Ableben der Generationen, die diese Republik aufgebaut haben, wird sich zeigen, dass das neue Regime keine unabhängige, autarke und souveräne Republik als Ziel hat.
Wenn sich ein Staat nicht um seine Bürgerinnen und Bürger kümmert, hören die Bürgerinnen und Bürger auf, sich um ihren Staat zu kümmern. Die Ideologie, die persönliche Freiheit auf Kosten der gesellschaftlichen Solidarität zu favorisieren, hat dazu geführt, dass die Solidarität aus der Gesellschaft verschwindet, die Schere zwischen den wenigen Reichen und der armen Mehrheit weit geöffnet wird und die persönliche Freiheit so ihren Tribut fordert.
Ein geopolitisches Erdbeben steht bevor und damit ein weiterer Scheideweg, an dem man mit dem alten Regime abrechnet und ein neues wählt. Wenn in der Vergangenheit argumentiert wurde, dass man Sozialismus und Kapitalismus nicht mischen könne, weil dadurch Katz und Maus entstünde, sehen wir heute bei den Chinesen, die für sich einen solchen Weg, ein solches Katz-Maus-Tier, gefunden haben. Es ist möglich. Und es war schon immer möglich!
Zum Originalbeitrag von Ivan Hoffman. Die Übersetzung besorgte Anna Wetlinska und Christian Müller wählte die deutsche Formulierung. Es war nicht ganz einfach. Die Headline des Originalartikels von Ivan Hoffman lautete übersetzt: «Der Westen kann seine Kolonien nur ausplündern, meint Ivan Hoffman. Was wie Wachstum aussieht, ist in Wirklichkeit Krebs.» Achtung, der letzte Satz darf nicht so verstanden werden, dass Ivan Hoffman genau das chinesische Modell empfiehlt. Er weist mit der Erwähnung Chinas nur darauf hin, dass es Möglichkeiten gibt, einen eigenen Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus zu suchen und zu finden. (cm)
Zum Autor: Ivan Hoffman ist 1952 in Martin in der damaligen Tschechoslowakei (heute in der Slowakei) geboren und ist heute ein in der Tschechischen Republik bekannter Liedermacher, Fotograf, Publizist und Radio-Moderator. Ab 1990 arbeitete er kurze zwei Jahre lang auch für den von den USA finanzierten westlichen Propagandasender «Radio Free Europe», der damals noch von München aus betrieben wurde. Auch daraus lässt sich ableiten, dass Ivan Hoffman anlässlich der Samtenen Revolution 1989 vom westlichen Polit- und Wirtschaftssystem etwas Anderes erwartete als die heutige Realität des neoliberalen Kapitalismus. (cm)