Liegt die Zukunft Russlands im Fernen Osten des Landes?
(Red.) Noch ist Stefano di Lorenzo, der für Globalbridge.ch aus Russland berichtet, im äussersten Osten des Landes: in Wladiwostok, wo er als akkreditierter Journalist am «Eastern Economic Forum» teilgenommen und für Globalbridge.ch darüber berichtet hat. In der hier folgenden Analyse zeit er nun auf, wie Putins Ansage, den Osten Russlands prioritär zu entwickeln, wohl nicht nur ein leeres Versprechen ist. (cm)
Die Region Russlands östlich des Baikalsees bis zum Pazifischen Ozean ist unter dem Namen Dalny Wostok bekannt, auf Russisch „Ferner Osten“. Der russische Ferne Osten ist so groß wie Europa, aber nur acht Millionen Menschen wohnen hier — weniger als in der Schweiz. Der Dalny Wostok ist eine sehr vielfältige Region, die sehr unterschiedliche Gebiete umfasst. Wladiwostok, die Hauptstadt, liegt etwa auf demselben Breitengrad wie Florenz, hat im Sommer ein fast mediterranes Klima (im Winter ist das aber nicht der Fall), hier in den Wäldern der Region kann man sogar Tiger finden. Tschukotka im äußersten Norden liegt Alaska gegenüber, von dem es durch die Beringstraße getrennt ist. Der Dalny Wostok ist also eine sehr vielfältige Region, deren einzelne Teile praktisch nur die Tatsache gemeinsam haben, dass sie weit („Dalny“) und östlich („Wostok“) vom historischen Kern Russlands entfernt liegen. Auch der Krieg in der Ukraine fühlt sich hier sehr weit entfernt an.
Lange Zeit galt der Dalny Wostok in Russland als eine Art Wilder Osten, das russische Gegenstück zum Wilden Westen in den USA. Es handelte sich um Land, das das Russische Reich im Laufe der Jahrhunderte erobert hatte — die Russen hatten in ihrer Expansion bereits 1639 den Pazifischen Ozean erreicht. Russland hatte sich offenbar diese immensen Gebiete noch nie vollständig zu eigen gemacht. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hatte Pjotr Stolypin, der einflussreiche Premierminister des letzten russischen Zaren Nikolaus II, dessen Name für Modernisierung steht, die Entwicklung Sibiriens und des Fernen Ostens als eine geostrategische Priorität konzipiert. Die Turbulenzen des 20. Jahrhunderts — zwei Weltkriege, ein Bürgerkrieg, gigantische Projekte, gefolgt von Jahren der Stagnation und schließlich der Zusammenbruch des Sowjetsystems — verzögerten eine „Wende nach Osten“, die heute von immer mehr Russen als historische Notwendigkeit angesehen wird. Eine Notwendigkeit, an die der russische Präsident Wladimir Putin kürzlich auf dem seit 2015 jährlich in Wladiwostok stattfindenden Eastern Economic Forum erinnerte, wobei er erklärte, dass die Entwicklung des Fernen Ostens die russische Priorität des 21. Jahrhundert sein wird. Handelt es sich hierbei um schöne Motivationssprüche? Oder sind diese großen Visionen dazu bestimmt, endlich Realität zu werden?
Fernab der Machtzentren, in einer Region, die historisch oft durch Massendeportationen besiedelt wurde, wird im russischen Fernen Osten die föderale Autorität Moskaus noch immer mit einem gewissen Maß an Ressentiment wahrgenommen. Viele Bewohner des Dalny Wostoks betrachten oft die Vertreter der Zentralregierung und Geschäftsleute aus Moskau nicht als großzügige Investoren und Wohltäter, die an der Entwicklung der Region interessiert sind, sondern vielmehr als eine Bande egoistischer „Räuberbarone“, die nur darauf aus sind, sich auf Kosten der einfachen Menschen zu bereichern. Trotzdem bleiben die Bewohner des Dalny Wostoks auch heute noch ihrer Heimat verbunden, es gibt keine separatistischen Tendenzen: das Russischsein, die russische Identität, ist hier womöglich noch ausgeprägter als anderswo.
Jahrzehnte grandioser, verratener Versprechen und unrealistischer Ambitionen hatten dazu geführt, dass viele Menschen das Vertrauen in die Welt der großen Politik verloren. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war die demografische Krise, die ganz Russland betraf, hier noch stärker ausgeprägt. Zwischen 1990 und 2010 ging die Bevölkerung des Dalny Wostoks um fast 2 Millionen Menschen oder mehr als 20% zurück, was hauptsächlich auf die Auswanderung zurückzuführen war. Einigen Prognosen zufolge könnte die Bevölkerung des russischen Fernen Ostens bis 2050 um fast 40% auf weniger als 4 Millionen Menschen zurückgehen.
Dies ist eine „demografische Falle“, der die russische Regierung seit Jahren mit verschiedenen Maßnahmen entgegenzuwirken versucht. Allen voran der berühmten „Hektar des Fernen Ostens“. Dieser wurde 2016 eingeführt und sieht vor, dass russischen und ausländischen Bürgern, die seit fünf Jahren in Russland leben und sich in den fernöstlichen Regionen des Landes niederlassen möchten, ein Hektar Land zugeteilt wird. Theoretisch hätte das Projekt das Interesse oder zumindest die Neugier vieler Russen geweckt, von denen jeder fünfte (meist im Alter zwischen 18 und 24 Jahren) eine Teilnahme an dem Programm und eine anschließende Ansiedlung in den fernöstlichen Regionen in Erwägung ziehen würde. Dennoch haben laut offiziellen Statistiken zwischen 2016 und 2023 nur 122.000 Menschen von dem Programm profitiert. Heute sprechen einige sogar von der Notwendigkeit, eine neue „Spezialoperation“ für den Fernen Osten zu starten, in diesem Fall keine militärische, sondern eine „demografische Spezialoperation“.
Zwischen Amerika…
Der amerikanische Wilde Westen, der in so vielen kitschigen Romanen und später in so vielen Filmen romantisiert wurde, war nicht nur ein wildes Land, in dem das Gesetz von einem einzelnen Mann verkörpert wurde, sondern galt auch als Ausdruck einer Manifest Destiny, eines brennenden Eroberungsdrangs und einer Explosion von Vitalität, die in dem berühmten Motto „Go West young man“ zusammengefasst wurde. Der Geist des Grenzgebietes mit seiner unwiderstehlichen Kombination aus Hierarchielosigkeit, Demokratie und Gewalt, so die berühmte These des Historikers Frederick Jackson Turner, sollte den amerikanischen Nationalcharakter entscheidend prägen. Heute ist Kalifornien vielleicht nicht zufällig der bevölkerungsreichste US-Bundesstaat.
Ein Großteil der Rhetorik, die in Russland verwendet wurde und immer noch wird, um die Begeisterung für eine Einwanderung nach dem Dalny Wostok zu wecken, scheint der amerikanischen Rhetorik entlehnt zu sein; es ist kein Zufall, dass Wladiwostok oft als das San Francisco Russlands dargestellt wurde. Dennoch war bisher die Mystik der Grenze nicht so erfolgreich wie in Amerika und der Dalny Wostok wurde für Russland nie wirklich zu dem gelobten Land, das Kalifornien so viele Jahre lang in der amerikanischen Vorstellung war.
Der russische Dalny Wostok blieb jahrzehntelang in gewissem Sinne ein Ort für Abenteurer, Lichtjahre entfernt von den überflüssigen Sophistereien und der bequemen Vorhersehbarkeit der bürgerlichen Welt. Hier war das Leben in gewissem Sinne einfacher und natürlicher. Als einer der Helden des Dalny Wostoks gilt zweifellos Wladimir Arsenjew (geb. 1872 – gest. 1930), Forschungsreisender und Schriftsteller, der ursprünglich aus Sankt Petersburg stammte, aber schon bald von der Möglichkeit fasziniert wurde, neue Gebiete zu erkunden. Nach der Zahl der ihm gewidmeten Denkmäler zu urteilen, ist er eine Art Alexander von Humboldt für Wladiwostok.
Der Geist des russischen Grenzlandes manifestiert sich heute weiterhin im Dalny Wostok in einer ausgeprägten Tendenz zur Smekalka, einer Art self-reliance auf russische Art. Diese wird kombiniert mit der Kunst, zwischen den täglichen Schwierigkeiten und dem Labyrinth der Bürokratie zu jonglieren. Es sind Bedingungen, die einen schnell zu der Überzeugung führen, dass man sich nur auf sich selbst verlassen kann. Hier hat man das Gefühl, der Staat sei weit weg, isoliert und gleichgültig. Es herrscht eine etwas resignierte Stimmung, die weit entfernt von der militanten Begeisterung und jugendlichen Energie der Sowjetzeit scheint.
Diese Hochstimmung hatte sich früher beispielsweise in dem Projekt für den Bau der berühmten Bajkal-Amur-Eisenbahn gezeigt. Dieser sollte das Großprojekt schlechthin der 1970er Jahre werden, ein Denkmal für die kollektiven Anstrengungen und den Optimismus der kommunistischen Jugend. Natürlich steckte in all dem viel Agitprop, aber trotz der künstlichen Natur dieser Jugendschwärme scheinen sich heute viele mit Nostalgie an eine Zeit zu erinnern, in der das Leben ordentlicher und Schwierigkeiten nur vorübergehende Hindernisse schienen, weil die Leute Hoffnung in einer strahlenden Zukunft der Harmonie und des Wohlstands hatten.
…und China
Vor etwa zwei Jahren erschien auf der Website des renommierten amerikanischen Forschungszentrums CEPA (Center for Education Policy Analysis, an der Stanford University) ein Artikel mit dem Titel: „Goodbye Vladivostok, Hello Hǎishēnwǎi!“. In dem Text wurde suggeriert, dass Wladiwostok bald zurück an China gehen könnte, eine Entwicklung, die der nicht gerade wissenschaftlich neutrale Autor des Artikels positiv zu bewerten schien: „Seine [Chinas] Ansprüche auf Russlands Fernen Osten sind faktenbasiert und unbestreitbar. Chinesische Karten aus dem 13. Jahrhundert zeigen das Gebiet um Wladiwostok als Yongmingcheng, und der Hafen selbst heißt bis heute Hǎishēnwǎi neben dem russischen imperialistischen Namen Wladiwostok. Aus chinesischer und koreanischer Sicht muss sich der Name Wladiwostok so natürlich anfühlen wie Salisbury, die frühere Hauptstadt Simbabwes, im Mashonaland. Es ist bemerkenswert, dass der öffentliche Diskurs über die Entkolonialisierung regelmäßig jede Erwähnung der anhaltenden kolonialen Besetzung durch Russland vermeidet. Vielleicht ist es an der Zeit, das zu ändern.“
Bis vor kurzem fürchteten viele Menschen in Russland wirklich — und einige schienen sich sogar resigniert damit abfinden zu können —, dass China früher oder später die Kontrolle über den russischen Fernen Osten übernehmen würde, da es enorme Unterschiede in Bezug auf das Wirtschaftspotenzial und die Demografie gab. In Russland war es gängig, sich auf vermeintliche Karten zu beziehen, die angeblich in chinesischen Lehrbüchern benutzt werden sollten, auf denen Teile Sibiriens und des Dalny Wostok als chinesisches Territorium markiert waren. Dies sind Befürchtungen, die heute, im Lichte der Beziehungen zwischen Russland und China, völlig verschwunden zu sein scheinen.
Natürlich gibt es in China nationalistische Elemente, die offenbar Ressentiment gegen Russland hegen wegen der Territorien, die infolge des Pekinger Abkommens von 1860 verloren gingen, nach einem der vielen „ungleichen Verträge“ in einer Zeit, die in China als „Jahrhundert der Demütigungen“ bekannt ist. Doch während früher selbst chinesische Führer wie Mao Zedong und Deng Xiaoping protestierten, Russland habe sich zu viel Land angeeignet und die Rechnung sei nicht beglichen worden, ist die Haltung der chinesischen Regierung heute deutlich versöhnlicher. Im Jahr 1969 hatten kleine territoriale Streitigkeiten zwischen China und der Sowjetunion sogar zu einem sieben Monate dauernden bewaffneten Konflikt geringer Intensität geführt. Der Konflikt endete in einer Pattsituation. Für viele Bewohner der Primorje, der Region um Wladiwostok, waren bis dahin viele Ortsnamen zunächst unter ihrem chinesischen Namen bekannt. Nach diesem Konflikt mit China wurde eine umfassende Umbenennungskampagne durchgeführt.
1991 unterzeichneten die Sowjetunion und China eine Vereinbarung, der die territorialen Streitigkeiten endgültig beendete. Manchmal kommen nostalgische Erinnerungen und verletzter Stolz in China noch zum Vorschein, wie beispielsweise die Reaktionen auf eine Nachricht auf dem chinesischen Sozialnetzwerk Weibo zeigten, die die russische Botschaft in China anlässlich des 160. Jahrestags von Wladiwostok im Jahr 2020 gepostet hatte. Diese Nachricht hatte bei chinesischen Journalisten, Politikern und sogar Diplomaten Empörung hervorgerufen. Doch heute scheint die Kommunistische Partei Chinas entschlossen zu sein, die Unstimmigkeiten der Vergangenheit beiseite zu legen und gute Beziehungen zu Russland zu pflegen.
Viele Jahrhunderte lang hatten die Russen, zumindest von Peter dem Großen über Katharina II. bis hin zu Gorbatschow, Europa als ihre geistige Heimat betrachtet. Der aktuelle Konflikt zwischen dem Westen und Russland hat den traditionellen Streit über die Identität des Landes, das ewig zwischen einer europäischen und einer anderen (eur)asiatischen Seele gespalten war, wieder aufleben lassen. Für viele liegt die Lösung für dieses Dilemma heute hier, im Dalny Wostok.
Siehe dazu auch «Das Ende von „Chimerica“: Russland, die USA und China» (von Stefano di Lorenzo)