Preisfrage: Wäre George Orwell stolz, verärgert oder gar entsetzt, dass immer mehr deutsche Spitzenpolitiker ihr Volk mit Parolen verdummen, die eins zu eins seinem Klassiker „1984“ entnommen sein könnten?

„Krieg ist Frieden“ – oder: 2024 ist 1984

Es ist soweit. Mit vierzigjähriger Verspätung sind wir endgültig im Orwell‘schen 1984 angekommen. Und ausgerechnet das SPD-Präsidium liefert Sätze, die eins zu eins von diesem Klassiker aller Dystopien abgeschrieben sein könnten.

Bitte setzen Sie sich mal bequem hin, bevor Sie den folgenden Text lesen. Und passen Sie auf, dass Sie nicht trotzdem gleich vom Stuhl fallen! 

Alles klar? Okay, es kann losgehen:

„Als SPD übernehmen wir Verantwortung dafür, dass kein Kind, das heute in Deutschland geboren wird, wieder Krieg erleben muss. Die Vereinbarung der SPD-geführten Bundesregierung mit der US-Administration, ab 2026 US-amerikanische Raketen mit größerer Reichweite in Deutschland zu stationieren, ist dafür ein wichtiger Baustein.“

Jawohl, Sie haben richtig gelesen! Dies ist die Stellungnahme des SPD-Parteipräsidiums vom 12. August zur von Bundeskanzler Olaf Scholz Mitte Juli im Handstreich dekretierten „Nachrüstung 2.0“ – der Stationierung von u.a. Marschflugkörpern und de facto im Anflug nicht mehr zu eliminierenden Hyperschallraketen einer Reichweite um die 2.500 Kilometer –, die nicht etwa nur jedes Kind in Deutschland, sondern schlicht uns alle im Krisen- oder gar Kriegsfalle zur Zielscheibe russischer Präventiv- oder Vergeltungsschläge machen wird.

Sätze, die dem Fass den Boden ausschlagen.

Nicht mal beim Lügen Mühe gegeben

Nichts beweist die Verachtung, die diese Regierung ihrem Volk – das sie ernährt – entgegenbringt, mehr, als dass sie sich noch nicht einmal mehr die Mühe macht, es wenigstens elaboriert zu belügen! 

Als Scholz auf der NATO-Jubiläumskonferenz in Washington die Bombe platzen ließ, tönte er lediglich nebulös, dies sei eine sehr gute Entscheidung gewesen, um dann wörtlich fortzufahren: „Wir wissen, dass es eine unglaubliche Aufrüstung in Russland gegeben hat, mit Waffen, die europäisches Territorium bedrohen.“ Sein forscher Kriegstüchtigkeitsminister wischte mit einer saloppen Handbewegung vom Tisch, was jedem der vom SPD-Präsidium so rührselig bemühten „Kinder in Deutschland“ mit etwas Erklärung sonnenklar sein dürfte: Die Gefahr, das Land drohe selbst zum Kriegsschauplatz zu werden, sei, so Pistorius, „blanker Unsinn“. Basta! Und Annalena Baerbock, frühe Avantgardistin des aktuell so hippen Orwell-Sounds – „Waffen retten Menschenleben“ –, nahm diese Maßnahme prompt zum Anlass, künftige Kritiker präemptiv zu beschimpfen: Diese seien nämlich „nicht nur verantwortungslos, sondern auch naiv gegenüber einem eiskalt kalkulierenden Kreml“.Dass Scholz in jungen Jahren mal als strammer Juso gegen die Stationierung von Pershing II-Raketen und – man höre und staune! – Marschflugkörpern auf deutschem Boden demonstriert hatte, Baerbock laut Wikipedia als Kind von ihren Eltern auf eben diese Demos mitgenommen wurde und Pistorius über sechs Jahre Oberbürgermeister der „Friedensstadt Osnabrück“ war, demonstriert lediglich, wie sternenweit sich diese Protagonisten, stellvertretend für ihre Parteien, mittlerweile von ihren Wurzeln entfernt haben.


Warum russische Raketen in Kaliningrad? 


Aber warum stehen eigentlich russische Iskander-Raketen, mit denen der „eiskalt kalkulierende Kreml“ (Baerbock) „europäisches Gebiet bedroht“ (Scholz), im Kaliningrader Oblast? Denn diese – genauere Angaben zu machen, hielt man offiziellerseits bekanntlich für unnötig – werden ja wohl gemeint gewesen sein.
 
Dazu reicht es schon fast völlig aus, einen zeitgenössischen Artikel aus dem Berliner Tagesspiegel nochmals zu studieren. Dort stand nämlich am 13. November 2008 unter dem Titel „Russland schlägt ‚Null-Lösung‘ für Raketenstationierung vor“ zu lesen, der damalige russische Präsident Dmitrij Medwedew habe seinem designierten US-Kollegen Barack Obama vorgeschlagen, keine Raketen in der Exklave Kaliningrad zu stationieren, wenn die USA ihrerseits die Stationierungspläne von Modulen des globalen AEGIS-Raketen’abwehr‘systems – das aufgrund seiner „Offenen Architektur“ mit einer einfachen Softwareveränderung in ein Angriffssystem verwandelt werden kann – in Polen und Tschechien (später: Rumänien) aufgäben. (By the way: Dass dieses System überhaupt ‚legal‘ weltweit installiert werden konnte, verdankt sich der von Russland völlig unprovozierten Kündigung des ABM-Vertrages über die Begrenzung von Raketenabwehrsystemen durch die USA, Ende 2001.) Die USA waren zu einem Verzicht auf die Stationierung dieser Module vor der russischen Haustür nicht bereit, und das hatte laut unbarmherziger Abschreckungslogik seine Folgen. Als Donald Trump dann auch noch – ebenfalls ohne sich eine plausible Begründung einfallen zu lassen – Anfang 2019 den INF-Vertrag, der landgestützte Kurz- und Mittelstreckenraketen einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 Kilometern verbot, kündigte, war der „eiskalt kalkulierende Kreml“ seinerseits ebenfalls nicht mehr an eine Reichweitenbegrenzung gebunden.
 
Kurz: Die „europäisches Gebiet bedrohenden“ russischen Raketen waren eine Gegenmaßnahme Russlands, die der Westen seinerzeit mit etwas gutem Willen sehr leicht hätte verhindern können. Diese Gegenmaßnahmen nun selbst für weitere Gegen-Gegen-Maßnahmen – denen natürlich wiederum russische Gegen-Gegen-Gegen-Maßnahmen folgen werden – in Anspruch zu nehmen, stellt die Klimax westlicher Heuchelei dar.
 
Dass man die Chronologie dieser neuen Rüstungsspirale im Kurz- und Mittelstreckenbereich regierungsamtlich wohlweislich verschweigt, ist natürlich kein Zufall; sonst könnten ja – nicht auszudenken! – der Bevölkerung ganz grundsätzliche Zweifel an der westlichen „Sicherheitspolitik“ kommen… Die „Begründungen“, die statt dessen geliefert werden, sind in ihrer Dreistigkeit und ihrem Kitsch nichts anderes als eine Beleidigung für den gesunden Menschenverstand. Und dass die Qualitätsmedien, statt dies zu entlarven, im selben Orwell-Sprech – „Waffen, auch aus Deutschland, helfen, pazifistische Grundsätze durchzusetzen“ – assistieren, verschlägt einem die Sprache.
 
Mit einem Wort: Mit vierzigjähriger Verspätung sind wir alle nun tatsächlich im Jahre 1984 angekommen!

Diese Regierung hat fertig

Halten wir fest: Diese Regierung hat fertig. Sie ist moralisch restlos verkommen und man fleht zu Gott, sie lieber heute als morgen endlich auf das verdiente Altenteil zu katapultieren – würde sich denn am Horizont zumindest eine halbwegs akzeptablere realistische Alternative abzeichnen!
 
Aber bis das BSW die Geschicke dieses Landes maßgeblich mitbestimmen kann, wird wohl noch einiges Wasser den Rhein hinunterfließen. (Und man mag sich nicht ausmalen, welche rüstungspolitische Fakten bis dahin noch geschaffen sein werden …)