Sergej Karaganow ist einer der wichtigsten und einflussreichsten Polit-Berater in Russland – und einer der gefährlichsten, weil er sogar den Einsatz einer taktischen Nuklearbombe zur Wiederherstellung der Abschreckungsszenerie in Erwägung zieht. (Foto aus Karaganows eigener Website)

Karaganow: „Nuklearwaffen verhindern Selbstzerstörung der Menschheit“

In einem Interview mit der „Swobodnaja Pressa“ fordert der renommierte russische Politikberater Sergej Karaganow eine radikale Wiederbelebung der nuklearen Abschreckung. Angesichts der US-Nukleartests sieht er in einer Aufrüstung – und notfalls sogar im begrenzten Einsatz von Atomwaffen – das einzige Mittel, um die „verrückt gewordenen“ europäischen Eliten zu stoppen und einen drohenden Weltkrieg abzuwenden. Gleichzeitig skizziert er einen Weg für Russlands innere Stärkung, indem das Land einen neuen ideologischen Kern schaffen und sich entschieden von korrupten Kompradoren-Eliten lossagen müsse.

Im November führten die US-Weltraumstreitkräfte US Space Forces einen Teststart einer Interkontinentalrakete vom Typ Minuteman durch. Die Erprobung dieser Rakete, die den Kern der landgestützten Komponente der nuklearen Triade der USA bildet, zog angesichts der jüngsten Erklärungen von US-Präsident Donald Trump zu Nuklearwaffentests besondere Aufmerksamkeit auf sich.

Wie wird Russland reagieren? Wie wird Moskau auf die Beschleunigung des Wettrüstens antworten? Wann wird die Spezielle Militäroperation enden und wer könnte einen Dritten Weltkrieg auslösen? Wenn überhaupt jemand den Dritten Weltkrieg beginnt, dann nur Europa; es hat darin eine reiche Erfahrung.

Diese Fragen besprach die SP-Korrespondentin Irina Mishina mit Sergej Karaganow, dem Wissenschaftlichen Leiter der Fakultät für Weltwirtschaft und Weltpolitik an der Higher School of Economics (HSE) und langjähriger Berater der politischen Elite Russlands.

Swobodnaja Pressa: In einem Ihrer letzten Artikel habe ich einen interessanten Gedanken gelesen. Sie schreiben, dass Russland sich „ohne einen Zaren im Kopf“ entwickelt hat – und genau deshalb lange Zeit verwundbar war. „Ohne einen Zaren im Kopf“ – im wörtlichen oder im übertragenen Sinne?

Sergej Karaganow: Im wörtlichen und im übertragenen Sinne. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts verlor Russland seine staatliche Ideologie, den Glauben an Gott, den Zaren und das Vaterland – und brach infolgedessen schnell zusammen. Dann fand es doch eine neue Ideologie, die kommunistische, um die es sich vereinigte. Aber auch diese verloren wir. Danach zerfiel auch die Sowjetunion schnell.

Jetzt geht es darum, dass wir unseren ideologischen Kern zurückgewinnen müssen. Ohne einen ideellen Kern werden große Länder nicht geschaffen. Wenn sie ihn verlieren, gehen sie schnell zugrunde. Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, auch in der russischen Geschichte. Unsere Aufgabe ist es nun, ein ideelles Fundament für unsere Gesellschaft zu schaffen. Es darf nicht „von unten“ kommen – es muss vom Staatsoberhaupt oder den Eliten vorgeschlagen werden.

Swobodnaja Pressa: Glauben Sie an eine Wiedergeburt Russlands, basierend auf der Wiederherstellung des Zarenhauses oder der Monarchie? 

Sergej Karaganow: Ich unterstütze die Idee einer Wiederherstellung der Monarchie nicht. Wir arbeiten derzeit an einem wichtigen Dokument, das „Kodex des Russen im 21. Jahrhundert“ genannt wird.

Swobodnaja Pressa: Die kommunistische Ideologie war glanzvoll und ansprechend. Warum hat sie sich in Russland nicht durchgesetzt? Gab es dafür keine nationale Grundlage oder war die wirtschaftliche Komponente der Grund?

Sergej Karaganow: Die kommunistische Ideologie ist eine der brillantesten, obgleich sie aus dem Westen stammte. Man muss anerkennen, dass sie absolut nicht an Russland gebunden war, auch wenn unsere kollektive Einheit (Sobornost) und unser Kollektivismus den Boden für die Aufnahme der kommunistischen Idee bereitet haben. Allerdings fehlte ihr die wirtschaftliche Grundlage, der Kern. Es fand auch keine Berücksichtigung der Interessen konkreter Menschen statt.

Jetzt steht Russland und der gesamten Menschheit eine gigantische Aufgabe bevor, deren Tragweite wir noch nicht vollständig erfasst haben. Dies ist die Idee der Schaffung eines neuen sozial-ökonomischen Systems für die Entwicklung der Welt. Es gibt keinen Ausweg: Die kommunistische Ideologie ist gescheitert, und die liberale, kapitalistische Ideologie zerfällt vor unseren Augen.

Swobodnaja Pressa: Bei der Entwicklung der Gesellschaft hängt viel von der Elite ab. In den 1990er Jahren war es eine liberale Kompradoren-Elite, die hauptsächlich auf Bereicherung ausgerichtet war. Wer bildet heute unsere Elite?

Sergej Karaganow: Das Schlimmste, was uns in den 90er Jahren passiert ist, war, dass wir den Kapitalismus geschaffen haben, ohne zu verstehen, wofür. In Russland gab es Kapitalismus ohne Schutz des Privateigentums. Infolgedessen musste man zu Banditen gehen, um Privateigentum zu schützen. Deshalb kam es zu einer vollständigen Zersetzung des Staates, und die Leute begannen, Geld ins Ausland zu schaffen, was unserem Land enormen Schaden zufügte. Jetzt brauchen wir ein anderes Konzept. Die Spezielle Militäroperation hilft uns, uns von der Kompradoren-Elite und ihrer Gefolgschaft zu befreien. Von den „Dämonen“ Dostojewskis, von denen wir eine riesige Zahl hatten.

Swobodnaja Pressa: In einigen Monaten jährt sich der Beginn der Speziellen Militäroperation in der Ukraine zum vierten Mal. Fast so lange, wie der Große Vaterländische Krieg dauerte, aber es ist kein Triumph in Sicht, der mit dem Mai 1945 vergleichbar wäre. Warum?

Sergej Karaganow: Ich war außer mir vor Wut, als wir die militärische Sonderoperation mit einer Verspätung von mindestens drei Jahren begannen und dabei unseren wichtigsten Trumpf – die nukleare Abschreckung – nicht einsetzten. Aus einem unerklärlichen Grund haben wir sie bis heute nicht genutzt.

Wir müssen uns auch bewußt werden, dass sich die Orientierungspunkte geändert haben. Unsere „europäische Reise“ ist beendet, sie hat uns viele technologische und wissenschaftlich-technische Errungenschaften gebracht, weil Europa im 18. und 19. Jahrhundert die Möglichkeit hatte, die Welt dank seiner vorübergehenden militärischen Überlegenheit auszurauben.

Aber die Zentren der Innovation sind heute China, Indien und die arabische Welt. Jetzt müssen wir einfach verstehen, wohin und wie wir gehen sollen. Dabei müssen wir jedoch einen unabhängigen Weg wählen. Ich denke, wir sollten zunächst das Zentrum unserer spirituellen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklung hinter den Ural und nach Sibirien verlegen – dorthin, woher unsere Macht stammt. (Zu diesem Punkt bringt Globalbridge in den nächsten Tagen noch einen Beitrag von Stefano di Lorenzo. Red.)

Swobodnaja Pressa: Sie haben China erwähnt. Xi Jinping hat keinen Militärvertrag mit Russland unterzeichnet. Wir haben mit der Volksrepublik China ein Abkommen über die strategische Partnerschaft. Wer ist uns China also – Partner oder Verbündeter?

Sergej Karaganow: China ist für Russland ein militärpolitischer Partner und de facto ein Verbündeter. Zumindest für die nächsten zehn bis zwanzig Jahre. Dann werden wir sehen.

Swobodnaja Pressa: Wer sind heute unsere engsten Verbündeten?

Sergej Karaganow: Belarus und die Demokratische Volksrepublik Korea (DVRK). Überhaupt sind Verbündete teuer und in der Regel nicht sehr zuverlässig. Denken wir nur an unsere Verbündeten im Warschauer Pakt in Osteuropa. Wir haben diese Last abgeworfen und nichts verloren. Eine andere Sache ist, wir hätten nicht zulassen dürfen, dass der Westen in die Länder Mittel- und Osteuropas eindringt und sie zu unseren Gegnern macht. 

Swobodnaja Pressa: Die USA haben erklärt, dass sie Nukleartests wieder aufnehmen. Wie wird unsere Antwort aussehen?

Sergej Karaganow: Ich bin sehr froh darüber, denn ich setze mich seit Jahren dafür ein, die nukleare Abschreckung wieder zu beleben. Nuklearwaffen verhindern die Selbstzerstörung der Menschheit. Siebzig Jahre lang hat das funktioniert, aber in den letzten zwanzig Jahren, vor allem im Westen, hat es aufgehört zu funktionieren. Die Menschen haben aufgehört, den Krieg zu fürchten, sie haben die Gottesfurcht verloren. Deshalb besteht eine meiner Aufgaben darin, diese Angst vor Kriegen in der Menschheit wiederherzustellen. Wissenschaftlich wird dies als „Glaubwürdigkeit der nuklearen Abschreckung zur Einschüchterung“ bezeichnet, damit die Menschen wieder Angst vor dem Krieg bekommen und den Frieden schätzen lernen.

Swobodnaja Pressa: Sollte unser Land zustimmen, die Zahl der strategischen Nuklearwaffen zu reduzieren?

Sergej Karaganow: Unter keinen Umständen! Im Gegenteil, wir müssen aufrüsten. Wir können uns mit unseren US-amerikanischen und chinesischen Partnern abstimmen, wie wir in dieser Richtung vorgehen sollen.

Nuklearwaffen sind eine Waffe des Friedens und ein Faktor, der konventionelle Kriege abschreckt. Nuklearwaffen erfüllen eine riesige Zahl von Funktionen. Eine davon ist, ein nukleares Wettrüsten und konventionelle Kriege zu verhindern. Aber diese Funktion haben die Nuklearwaffen jetzt eingebüßt. Ich setze mich dafür ein, sie wiederherzustellen. Wir erreichen nukleare Abschreckung in der Weltpolitik und in den Köpfen der Menschen, indem wir das nukleare Potenzial steigern. Vielleicht, indem wir zuerst Nuklearwaffen testen und dann, im äußersten Fall, sie einsetzen, damit die Menschen endlich begreifen, womit sie es zu tun haben.

Weil die Europäer in ihrem Wunsch, Kriege zu entfesseln, verrückt geworden sind, kann sie nur der Einsatz von Nuklearwaffen stoppen. Danach wird ein langfristiger und dauerhafter Frieden einkehren.

Swobodnaja Pressa: Glauben Sie, dass ein Dritter Weltkrieg unvermeidlich ist? Und wer könnte ihn beginnen?

Sergej Karaganow: Im Moment sind die Initiatoren zweifellos die verrückt gewordenen europäischen Eliten. Der Krieg kann vermieden werden, aber dazu müssen wir die „friedenserhaltende Funktion“ der Nuklearwaffen wiederherstellen.

Swobodnaja Pressa: Habe ich richtig verstanden, dass die Vereinigten Staaten nicht der potenzielle Initiator eines Dritten Weltkriegs werden?

Sergej Karaganow: Keinesfalls. Die Ereignisse zeigen, dass der Katalysator eines neuen Weltkriegs Europa ist, genauer gesagt, die europäischen Eliten, die die Welt in den Krieg treiben. Das ist in der Geschichte schon oft passiert. Genau deshalb arbeiten wir jetzt mit den neuen Eliten der neuen Nuklearmächte zusammen, um die Wirksamkeit der nuklearen Abschreckung wiederherzustellen. Nuklearwaffen sind eine Waffe zur Aufrechterhaltung des Friedens.

Zu Sergej Karaganow: Doktor der Geschichtswissenschaften, Verdienter Professor, Wissenschaftlicher Leiter der Fakultät für Weltwirtschaft und Weltpolitik an der Nationalen Forschungsuniversität Higher School of Economics (HSE), Ehrenvorsitzender des Präsidiums des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik.

Zum Originalinterview in russischer Sprache. Die Übersetzung aus dem Russischen besorgte Éva Péli.

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