Jetzt machen die Transatlantiker auf «du»
Nach der Inthronisierung Joe Bidens als neuer US-Präsident wünschen sich deutsche Organisationen mehr Nähe zu den USA.
«Traut Euch!» So sprechen sie jetzt Sie an, geschätzte Leserinnen und Leser, – oder eben Euch, Ihr Jungen, die Ihr unsere Zukunft gestalten werdet. Und sie, diese Transatlantiker, zögern nicht, gleich Klartext zu reden: «Die Bundesrepublik braucht dazu Führung, politischen Willen, Ideen und einen Plan – ausgehend von dem vitalen Interesse Deutschlands, dass Amerika eine europäische Macht bleibt.»
Noch einmal: «… ausgehend von dem vitalen Interesse Deutschlands, dass Amerika eine europäische Macht bleibt.»
Wirklich, Amerika – gemeint sind natürlich die USA – soll eine europäische Macht bleiben?
Der Anlass war perfekt terminiert
Die Einladung zu dem perfekt terminierten Anlass, dem 20. Januar, dem Tag, an dem Joe Biden in den USA als neuer Präsident vereidigt wurde, hatte folgenden Wortlaut:
«‹Transatlantisch? Traut Euch!› ist eine Handlungsempfehlung an die Bundesregierung und den Bundestag, erarbeitet von einer Gruppe von Expertinnen und Experten für Amerika-Politik. Das Papier ruft dazu auf, die grosse Chance zu Reparatur und Neuausrichtung der erodierten transatlantischen Beziehungen zu nutzen und eine Neue Übereinkunft mit der amerikanischen Regierung zu treffen. Mit der Vereidigung Joe Bidens ist der Moment gekommen zu handeln. Die Bundesrepublik braucht dazu Führung, politischen Willen, Ideen und einen Plan – ausgehend von dem vitalen Interesse Deutschlands, dass Amerika eine europäische Macht bleibt.»
Ein sprachliches Detail: Es geht nicht um eine neue Übereinkunft, es geht um eine «Neue Übereinkunft» – gross geschrieben. Das Programm hat also bereits einen festen Namen: «Neue Übereinkunft». Unterschrieben wurde die Einladung von etlichen Think Tanks: Atlantik-Brücke, Aspen Institute, German Marshall Fund (the GMF is headquartered in Washington D.C.), Brookings Institution (Organization based in Washington D.C.), European Council on Foreign Relations, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Kieler Institut für Sicherheitspolitik, Münchner Sicherheitskonferenz, Hanns-Seidel-Stiftung und – der Schock sitzt – die Heinrich-Böll-Stiftung.
Die Heinrich-Böll-Stiftung? Heinrich Böll würde sich im Grabe drehen, würde er davon erfahren, wie Albrecht Müller von den NachDenkSeiten treffend bemerkte. Heinrich Böll, der 1972 den Literatur-Nobelpreis zugesprochen erhielt, war ein klarer Kriegsgegner. Er unterstützte die gegen die NATO-Nachrüstung gerichtete Friedensbewegung und nahm 1983 persönlich an einer Sitzblockade des Raketenstützpunktes auf der Mutlanger Heide teil, um gegen die dortige Stationierung von Pershing-II-Raketen mit Atom-Sprengköpfen zu protestieren.
Heute ist die Heinrich-Böll-Stiftung DIE Stiftung der Partei «Bündnis 90 / Die Grünen». Und die deutschen Grünen befürworten, im Gegensatz zu den Grünen in den meisten anderen Ländern, zum Beispiel auch in der Schweiz, seit Wochen und Monaten lauthals eine stärkere Militarisierung Deutschlands und fordern mehr Geld für die Bundeswehr und für die NATO. Die Grünen-Chefin Annalena Baerbock machte sogar öffentlichkeitswirksam darauf aufmerksam, dass «Gewehre zum Schiessen» da sind!
Wohlgemerkt: Die deutschen Grünen und ihre Heinrich-Böll-Stiftung sind bei der «Neuen Übereinkunft» nicht nur mitunterzeichnend wie andere auch, mit Ellen Ueberschär gehört ein Vorstandsmitglied der Heinrich-Böll-Stiftung zu den Verfassern des Aufrufs für eine «Neue Übereinkunft» zwischen den USA und Deutschland.
Was ist denn die Aufgabe der «Neuen Übereinkunft»? Zitat:
«Dazu gehört auch, dass Deutschland an der Nuklearen Teilhabe festhalten und nötige Modernisierungsschritte umsetzen muss. Der nukleare Schutzschirm der USA ist für alle nicht-nuklearen NATO-Staaten in Europa unverzichtbar. Es sollte ihn geben, solange es Nuklearwaffen gibt und die Bedrohung anhält. Nukleare Teilhabe drückt die besondere Bereitschaft zur Risiko- und Lastenteilung und zu grösster Solidarität unter Verbündeten aus. Sie ist ein Kernelement der strategischen Verbindung zwischen den transatlantischen Partnern, die mit der Neuen Übereinkunft unterstrichen wird.
Eine deutlich verbesserte militärische Handlungsfähigkeit allein genügt aber nicht. Notwendig ist eine politische Kraftanstrengung: Initiativen, mit denen Deutschland seinen Beitrag zur Lastenteilung erhöhen sollte.
Das betrifft vor allem die Peripherie von EU und NATO. Vom Hohen Norden über die Ostsee, Belarus und die Ukraine, den Westbalkan und den Kaukasus bis zum Mittelmeerraum des Nahen Ostens und Nordafrikas: Überall bestehen Krisen oder gar tatsächliche Konflikte, die durch grösseres Engagement, gezielteres und besser abgestimmtes Vorgehen gemildert werden könnten. Mehr deutsche Kreativität und Führungsbereitschaft würden nicht nur zu einer weiteren Entlastung Amerikas beitragen, sondern Europa sicherer machen. Hier liegt auch erhebliches Potential für ein besseres Zusammenwirken der Instrumente von EU, NATO und der einzelnen Mitgliedstaaten.
Um die Nützlichkeit der Allianz für alle Mitgliedstaaten zu erhöhen, sollte Deutschland sich dafür einsetzen, die NATO nicht nur als militärisches, sondern auch als politisches Bündnis zu stärken. Zwei Vorschläge der Reflexionsgruppe zur „NATO 2030“ um Thomas de Maizière und Wess Mitchell sind dabei besonders hervorzuheben. Zum einen sollte Deutschland den NATO-Generalsekretär darin unterstützen, das Strategische Konzept von 2010, in dem von Russland nur als Partner und von China gar nicht die Rede ist, den neuen Gegebenheiten anzupassen. Und zum anderen sollte der Nordatlantikrat zum eigentlichen Ort der politischen und strategischen Debatte der transatlantischen Partner werden – über alle regionalen und globalen Entwicklungen, die ihre gemeinsame Sicherheit betreffen. [ ]
Nicht zuletzt sollte Deutschland in der NATO anregen, die Partnerschaften mit liberalen Demokratien in aller Welt, aber vor allem im Indo-Pazifik zu intensivieren. Statt eines passiven Angebots braucht die NATO massgeschneiderte, proaktive Programme, um strategische Partner wie Australien, Japan und Südkorea enger an den Kern des Westens zu binden. Auch bei diesen Massnahmen sollte wechselseitige Nützlichkeit angestrebt werden, nicht bloss wohlfeile Freundschaftsbekenntnisse.
In Deutschland haben zu viele zu lange die NATO als amerikanische Institution begriffen. Wir Deutsche sollten verstehen: Diese NATO ist unsere NATO; die NATO aller Mitgliedstaaten. Deutschland hat es mehr als jede andere Nation in der Hand, durch mehr Initiative und verstärkte Beiträge die Allianz so zu formen, dass sie als Glutkern (!) des Westens weiter lodert und nachhaltige Antworten auf die sicherheitspolitischen Fragen gibt, die sich Deutschland stellen.»
Die künftige Politik Europas soll bei der NATO gemacht werden?
Zur Erinnerung: Die NATO wurde 1949 zur Abschreckung und Sicherheit gegen die damalige Sowjetunion gegründet. 1991, als die Sowjetunion kollabierte und Michail Gorbatschow die DDR zur Wiedervereinigung mit der Bundesrepublik Deutschland freigab, hätte die NATO sich ebenfalls auflösen können, es gab ihren Feind nicht mehr. Aber die US-Amerikaner wollten es anders: Die Russen sollten es zu spüren bekommen, dass sie die Verlierer sind, wie man das in den Studien der US-amerikanischen Historikerin Mary Elise Sarotte gut dokumentiert nachlesen kann. Und schon bald rollte man den ehemaligen Warschau-Pakt-Staaten den Roten Teppich aus, um mit der NATO-Osterweiterung Russland einzukreisen.
Die Aufzählung der Länder «vom Hohen Norden über die Ostsee, Belarus und die Ukraine, den Westbalkan und den Kaukasus bis zum Mittelmeerraum des Nahen Ostens» in der Erklärung der «Neuen Übereinkunft» zeigt klar: Es geht auch hier gegen Russland. Dass die Truppen des Deutschen Reichs 1943 in Stalingrad und Kursk von russischen Truppen besiegt und zur Umkehr gezwungen worden sind, hat man in Deutschland offensichtlich noch immer nicht verkraftet.
Joe Biden, der neue Präsident der USA, hat in seiner ersten Rede zur US-Aussenpolitik anschliessend an die Begrüssung schon im zweiten Satz Russland erwähnt und angekündigt, wie seine Prioritäten aussehen. «Wie ich in meiner Antrittsrede sagte, werden wir unsere Allianzen reparieren und uns wieder mit der Welt engagieren, nicht um die Herausforderungen von gestern zu bewältigen, sondern die von heute und morgen. Die amerikanische Führung (!) muss diesem neuen Moment des fortschreitenden Autoritarismus begegnen, einschliesslich der wachsenden Ambitionen Chinas, mit den Vereinigten Staaten zu rivalisieren, und der Entschlossenheit Russlands, unsere Demokratie zu beschädigen und zu stören.»
Zwei Fragen werden baldmöglichst beantwortet werden müssen
Sind die anderen 26 Länder der EU damit einverstanden, dass die EU mehr und mehr von Deutschland dominiert wird – von Deutschland, das seinerseits noch näher an die USA zu rücken beabsichtigt?
Sind sich Deutschland, die EU und die USA bewusst, dass sie mit diesem NATO-Kurs vor allem eines bewirken: ein Zusammengehen von Russland mit China?
Es ist zu hoffen, dass die Jungen, die jetzt von den Transatlantikern per «du» angesprochen werden, sich doch noch vergegenwärtigen, was Deutschland zu Hitler-Zeiten mit dem Zweiten Weltkrieg erreicht hat: um die 50 Millionen Tote weltweit. Am meisten Kriegsopfer gab es in der Sowjetunion: um die 24 Millionen, davon mehr als die Hälfte Zivilisten. Andere Schätzungen gehen sogar von 27 Millionen Kriegsopfern aus. Ob es jetzt wirklich Zeit ist, für eine stärkere Militarisierung einzutreten? Und dies ausgerechnet von den Grünen, die nach den Wahlen im Herbst 2021 mit aller Wahrscheinlichkeit Teil einer Regierungskoalition sein werden?
Kritik aus den Reihen der Grünen
Nicht alle Mitglieder der Partei «Bündnis 90 / Die Grünen» sind mit den Empfehlungen «Neue Übereinkunft» an die deutsche Regierung und ans Parlament einverstanden. In einem grösseren Artikel in der «Süddeutschen Zeitung» wird von parteiinterner Verärgerung berichtet.
Auch die «taz» widmete dem Thema einen eigenen Bericht und berichtete über Kritik aus den Reihen der Grünen an der «Neuen Übereinkunft».
Infosperber hat bei einem der prominentesten Grünen in Deutschland, bei Jürgen Trittin, nachgefragt und um eine Erklärung gebeten, warum bei den Grünen nun plötzlich wieder für eine Militarisierung plädiert werde. Leider hat Jürgen Trittin trotz zweiter Nachfrage nicht geantwortet. Jürgen Trittins Schwester Anke Trittin lebt in der Schweiz und kandidiert zurzeit für den Solothurner Kantonsrat.
PS: Eben hat Infosperber von Wolfram Frommlet zum obigen Artikel eine äusserst lesenswerte Zuschrift erhalten, die aber für die Kommentarspalte zu lang ist. Sie kann indessen hier nachgelesen werden.