Ulrich Heyden war in den vergangenen acht Jahren immer wieder im Donbass und hat mit eigenen Augen gesehen, welche Opfer die Bombardierungen des Donbass durch die ukrainischen Milizen gefordert haben, und auch welche Schäden an Gebäuden. (Foto Ulrich Heyden)

„Jetzt erleben sie, was wir seit acht Jahren erleben.“

Der Angriff russischer Lenkwaffen auf ukrainische Kraftwerke in verschiedenen Städten löste in Donezk kein Mitgefühl aus. „Jetzt erleben sie, was wir seit acht Jahren erleben.“ Derartige Kommentare konnte man in Donezker Telegram-Kanälen lesen. Dass der Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko, jetzt im deutschen Fernsehen viel Zeit bekommt, um über die Folgen der russischen Angriffe auf ukrainische Städte zu berichten, steht im krassen Gegensatz zu der Tatsache, dass der verstärkte Beschuss der ukrainischen Truppen auf die „Volksrepubliken Donezk und Lugansk“ (DVR und LVR) kein Thema in den großen deutschen Medien ist. 

In der Innenstadt von Donezk hört man faktisch 24 Stunden am Tag Artilleriefeuer. Mal gibt es ein paar Stunden Pause. Mal klingt es bedrohlich nah, mal fern, mal wie scharfes, mal wie ein hohles Knallen, mal wie ein unheimliches Prasseln. Mal in schneller Folge, mal in Abständen. Die Einwohner können Angriffs- und Abwehrfeuer unterscheiden. Ich noch nicht. 

Die Menschen halten sich mit ihren Kindern vor allem in ihren Wohnungen auf. Kinderspielplätze sind verwaist. Schulen und Kindergärten sind seit Februar geschlossen. Fast täglich sterben Menschen an den anfliegenden ukrainischen Geschossen oder kleinen „Lepestok“-Minen, die auf Wegen verstreut herumliegen und die in ihrem hellen Grün wie Herbstblätter aussehen. Diese Minen, die Füße abreißen, werden mit speziellen Raketen abgeworfen. Sie landen auf Dächern, in Höfen und auf Fußwegen. 

Wenn es draußen mal ruhig ist, sieht man Leute spazieren gehen. Nach zwei Wochen habe auch ich meinen ersten Spaziergang gewagt. Die gelben und orangenen Herbstbäume leuchteten einfach zu verlockend. 

Ich ging am Kalmius-Fluss entlang. Der aufgestaute Fluss ist im Stadtzentrum 400 Meter breit. Der Blick aufs Wasser wirkt in der Abendsonne beruhigend. Zu beiden Seiten des Wassers gibt es Parks. Hier gehen die Leute langsamen Schrittes spazieren, allein oder in Gruppen. Sie sitzen auf Bänken, sinnen vor sich hin, versuchen sich zu entspannen. Unterhaltungen werden leise geführt. Man braucht viel innere Disziplin, um ein Leben unter diesen Umständen zu meistern. 

Es war einmal eine reiche Stadt

Die Volksrepubliken sind zwar wirtschaftlich mit ihren Kohlebergwerken und metallurgischen Fabriken potent. Insbesondere Donezk mit seinen zahlreichen Verwaltungsgebäuden und hohen, komplett verglasten Hochhäusern und Hotels sieht man an, dass hier einmal eine mächtige Industrie verwaltet wurde. 

Es gibt das Gerücht, dass die vielen verglasten Hotels und Business-Zentren bisher von ukrainischem Beschuss verschont wurden, weil die Besitzer an die Ukraine zahlten. Doch sollte dieses Gerücht stimmen, so ist es überholt, denn durch Beschuss beschädigt wurden seit August 2022 die Hotels „Donbass Palace“, „Central“ und schon zweimal das Hotel „Park Inn“.

Die Einstimmung nach dem Einchecken

Als ich am 25. September – das Referendum hatte gerade begonnen – in einem Hotel mein Gepäck auspacke, wurde ich eingestimmt auf die neue Realität in der Stadt. Draußen donnerten unablässig Artilleriegeschütze. Manchmal sieht man in der Entfernung von ein paar Kilometern nach Einschlägen Rauchwolken. Manchmal sieht man nachts glühende Teile vom Nachthimmel taumeln. Offenbar die Überreste von abgeschossenen ukrainischen Drohnen oder Raketen. 

Tagsüber donnern gelegentlich Kampfflugzeuge über die Stadt. Was sich zuerst anhört wie eine ukrainische Attacke, ist aber ungefährlich. Es sind russische Kampfflugzeuge, die, um der ukrainischen Luftabwehr zu entgehen, im Tiefflug zur Front unterwegs sind. Im örtlichen Internet kommen sofort Entwarnungen, wie „es waren die Unseren“.

Schon vier Luft-Boden-Raketen gingen in der DVR nieder

Die Raketen, welche die ukrainische Armee einsetzt, werden immer gefährlicher. Während bei meinem letzten Besuch im August bereits Geschosse der von den USA gelieferten HIMARS-Mehrfachraketenwerfer im Stadtzentrum von Donezk einschlugen, wurden seit Ende September schon viermal, zuletzt am 11. Oktober um 18:31 Uhr, Luft-Boden-Raketen vom Typ AGB-88 HARM eingesetzt. Der Stückpreis dieser Rakete, die von einem Flugzeug abgeschossen wird, liegt bei 284.000 US-Dollar. 

Der Donezker Telegram-Kanal des SCKK – „Gemeinsames Zentrum für Kontrolle und Koordination“ – berichtete, die Donezker Luftabwehr habe die HARM-Rakete am 11. Oktober getroffen. „Kritischen Schaden“ habe es nicht gegeben.

Eine Bemerkung zum SCKK. Es liefert nach meiner Einschätzung gründliche Daten über das Kriegsgeschehen in den „Volksrepubliken“. Das Zentrum wurde 2014 gegründet. Zunächst arbeiteten in dem Zentrum Vertreter der Ukraine, Russlands und der OSZE gemeinsam an der Überwachung der im Rahmen des Minsker Abkommens vereinbarten Waffenstillstände. 

2017 verließen die russischen Offiziere die SCKK. Sie beklagten Behinderungen und Schikanen der ukrainischen Behörden. Die Arbeit der SCKK wird seitdem von Vertretern der „Volksrepubliken“ fortgeführt.

Steiler Anstieg von Beschuss

Die Zahl des ukrainischen Beschusses nahm in den letzten Tagen rasant zu. Während das SCKK für den 10. Oktober 52-mal ukrainischen Artillerie-Beschuss meldete, wurde in der Tageschronik vom 11. Oktober, 6 Uhr, bis zum 12. Oktober, 6 Uhr, fast die dreifache Zahl gemeldet. 148 ukrainische Geschosse seien am 11. Oktober auf die „Volksrepublik Donezk“ (DVR) niedergegangen. 

Getroffen wurden am 11. Oktober verschiedene Stadtbezirke von Donezk sowie die Städte und Dörfer in der DVR, Sajzewo, Gorlowka, Rosowka, Nowoabachmutowka, Jasinowata, Kaschtanowoje, Makejewka, Aleksandrowka. 

Ein Mann in Alexandrowka wurde getötet, fünf Menschen wurden verletzt, 17 Wohnhäuser und ein Infrastrukturobjekt wurden beschädigt. 

Informationen über Beschuss im Minuten-Takt

Angesichts der ständigen Bedrohung aus der Luft werden die örtlichen Telegram-Kanäle zum wichtigen Begleiter nicht nur für Journalisten, sondern auch für die Bewohner der Stadt. Die Kanäle informieren im Minuten-Takt, in welchen Stadtteilen und Straßen Minen gefunden wurden, wo Häuser von Geschossen beschädigt und Menschen verletzt oder getötet wurden. 

Kaum bin ich aufgewacht, gucke ich mir die neuen Beschussmeldungen an. Ich möchte möglichst hautnah vom Kriegsgeschehen berichten, mich aber auch nicht unnötig in Gefahr begeben. So würde ich unmittelbar nach einem Beschuss den Ort nie aufsuchen, denn unter den Korrespondenten in Donezk wird erzählt, dass es nach dem ersten – nach einer kurzen Pause – oft noch einen zweiten Beschuss gibt, der eben diejenigen treffen soll, die gewöhnlich am Ort der Katastrophe eintreffen, Journalisten, Rettungssanitäter und Anwohner.

Wie morgens das Leben beginnt

Wenn ich morgens aus dem Hotelfenster schaue, so ist der Blick erstmal beruhigend. Im Morgennebel sehe ich, wie Menschen geduldig an Autobushaltestellen warten. Es halten Trolleybusse und Kleinbusse. Anwohner führen in den gepflegten Grünstreifen entlang der Straßen ihre Hunde aus. 

Es wirkt alles ganz normal und erinnert an deutsche Städte. Aber nein, die Menschen haben Angst. Sie schätzen jede Minute, in der kein Artilleriefeuer zu hören ist und sie mit ihren Kindern oder Eltern einen Spaziergang machen können. 

Seit Februar sind die Kindergärten und Schulen geschlossen. Das Leben spielt sich in den eigenen vier Wänden ab. Nur zum Einkaufen geht man nach draußen. 

Bewohner der Stadt erzählten mir, dass die Häuser zurzeit nur zur Hälfte bewohnt sind. Viele sind nach Russland, manche auch in die Ukraine, gefahren. Offiziell hat die Stadt immer noch eine Einwohnerzahl von 950.000.

Mal ist es die russische Luftabwehr, mal ist es die ukrainische Artillerie, die täglich Geschosse nach Donezk schickt, vor allem in die frontnahen, nordwestlichen Bezirke der Stadt. Aber seit den letzten drei Monaten wird zunehmend auch die Innenstadt beschossen. 

Die Bürger der DVR haben zwar im Referendum (Photoreportage) mit überwältigender Mehrheit für die Vereinigung mit Russland gestimmt. Jetzt versprechen sich besonders die älteren Menschen einen besseren sozialen Schutz. Aber niemand hat die Illusion, dass der ukrainische Beschuss jetzt abrupt aufhört. Allen ist klar, dass, solange die ukrainische Armee 15 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt steht, der Beschuss nicht aufhören wird. 

Journalismus läuft nach anderen Regeln

Ich arbeite schon seit 2014 als Journalist im Donbass. Und noch nie habe ich mich so unsicher gefühlt wie bei dieser Reise. Auch stelle ich fest, dass es schwieriger geworden ist, mit offiziellen Stellen Interviews zu führen. Man muss lange telefonieren und manchmal Fragen einreichen, die man stellen will. 

Der Besuch in einem Krankenhaus ist nur mit Genehmigung der übergeordneten Behörde, dem Gesundheitsministerium, möglich und von dort bekam ich keine Antwort. 

Immerhin konnte ich in der „Volksrepublik Donezk“ zwei Flüchtlingsunterkünfte besuchen. Dabei fiel mir auf, dass nur die Flüchtlinge einigermaßen frei sprachen, deren Verwandte bereits alle in Russland leben. Die Anderen, deren Verwandte noch in den Gebieten leben, die jetzt von den ukrainischen Truppen zurückerobert wurden, waren sehr wortkarg oder wollten gar nicht mit mir sprechen. 

Diese Menschen fürchten, dass ihre Aussagen in einem Interview für ihre Verwandten in den von der Ukraine kontrollierten Gebieten Verhaftung, Verhöre und vielleicht sogar Tod zur Folge haben, da man sie der Kollaboration mit Russland verdächtigt. 

Flüchtlingsunterkünfte in der DVR durfte ich kategorisch nicht fotografieren. Die Flüchtlinge fürchten direkten Beschuss durch die ukrainischen Truppen, insbesondere dann, wenn Flüchtlinge kritische Interviews gegeben haben. 

Meine Schwierigkeiten bei der journalistischen Arbeit laste ich den Machtorganen in der „Volksrepublik“ nicht an. Ich weiß, die Nerven aller Menschen hier sind bis zum Äußersten gespannt. Ständiger Beschuss absorbiert viel Kraft der Verwaltungsstrukturen. 

Zudem sorgen Journalisten aus „unfreundlichen Ländern“ – so nennt man in Russland die Länder der NATO – auch oft für Verstimmung. Immer wieder baten mich Menschen auf der Straße, „Schreib die Wahrheit!“, „Verfälsche nichts!“.

Wenn Vertreter großer westlicher Medien mal an einer von der DVR organisierten Presse-Tour teilnehmen – was schon selten passiert – dann berichten sie meist nicht über die von der ukrainischen Armee zerstörten Krankenhäuser und Schulen. Ich traf auch Menschen, die eben aus diesem Grund nicht bereit waren zu einem Interview. Sie sagten, „ihr berichtet ja doch nicht darüber, was hier passiert“.

Dass ich trotzdem sehr viel Material und Eindrücke sammeln kann, liegt daran, dass ich immer wieder auf den Straßen von Donezk unterwegs bin und Passanten anspreche. Die Hälfte der Angesprochenen war zu kurzen Interviews bereit. Einer dieser Passanten lud mich sogar zum Bier ein und kutschierte mich in seinem Auto durch sein Wohnviertel, zeigte mir zerschossene Wohnungen, von russischen Baufirmen wieder eingesetzte Fenster und ausgebrannte Autowracks, die noch in den Höfen stehen. 

Trotz Enttäuschung und auch Entsetzen über die deutschen Medien und die deutsche Regierung sind die Menschen in Donezk einem Deutschen gegenüber in der Regel ausgesprochen freundlich und fast nicht misstrauisch. Ich werde Donezk immer wieder besuchen, auch wenn es mit dem Frieden noch länger dauert.

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Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel erschien zuerst auf der Plattform der «NachDenkSeiten», eine der besten und auch grössten Online-Plattformen in Deutschland, die es wagen, der einäugigen und NATO-getreuen Berichterstattung der Mainstream-Medien zu widerstehen. Die NachDenkSeiten können ohne jeden Vorbehalt zur Lektüre empfohlen werden! Mit grossem Dank für die Erlaubnis, diesen Beitrag von Ulrich Heyden auch auf Globalbridge.ch zu veröffentlichen. Er bestätigt die Berichte aus Donezk von Elena Malinowa, die wir seit ein paar Wochen jeweils am Freitag auf Globalbridge.ch veröffentlichen. (cm)