Jemen: Zwischen Hoffnung und Leid
Zum Ende des Fastenmonats Ramadan – je nach geografischer Lage am 21. oder 22. April – feiern Muslime weltweit das Fest Eid al-Fitr. Es wird auch das „Kleine Fest“ oder „Zuckerfest“ genannt und ist von sozialen Aktivitäten geprägt. Es wird gebetet, Familien und Freunde treffen einander, essen miteinander. Die Kinder bekommen traditionell neue Kleidung geschenkt und auch die Gräber der Verstorbenen werden besucht.
In Damaskus dürfen Jungen – und inzwischen auch Mädchen – mit ihren Freunden und Freundinnen ohne Erwachsenenbegleitung allein durch die Altstadt streifen. In Gruppen sitzen sie hier und dort, schlecken ein Eis, teilen sich eine Waffel oder auch ein Glas Zitronensaft oder jagen im wilden Spiel durch die engen Gassen. Selbst brave Mädchen mit einem neuen Kopftuch umgebunden spielen heimlich Klingelmäuschen, um sich dann schnell aus dem Staub zu machen.
In der arabischen Welt ist das diesjährige Eid al-Fitr-Fest von Leid und Hoffnung gleichermaßen geprägt. Hoffnung gibt es aufgrund der aktuellen Entspannungspolitik der Regionalmächte Iran und Saudi-Arabien, die ihre langjährigen Interessenskonflikte beilegen und aufeinander zugehen. Doch Leid gibt es in den Kriegs- und Krisengebieten im Jemen, Syrien, im Libanon und in den besetzten palästinensischen Gebieten noch immer im Übermaß.
Tragödie an Eid al-Fitr
Eine furchtbare Tragödie traf die Menschen in Sanaa, der Hauptstadt des Jemen, die von der Houthi-Bewegung (Ansar Allah) kontrolliert wird. Dutzende Menschen starben am vergangenen Mittwochabend (19.04.2023) im Stadtteil Bab al-Jemen in Sanaa. Ort der Tragödie war eine Schule, wo lokale Geschäftsleute angekündigt hatten, vor dem Eid-Fest an die Menschen jeweils 5000 Jemenitische Rial zu verteilen, umgerechnet etwa 20 US-Dollar oder 18 Euro (wobei für diese 18 Euros vor Ort mehr eingekauft werden kann als für 18 Euros in Europa, Anm. der Red.). Der Ansturm war so groß, dass die Menschen, darunter auch viele Kinder, in dem Gedränge hinfielen und von der Menschenmasse geradezu zertreten wurden.
Nach Angaben der Gesundheitsbehörden in Sanaa wurden 85 Menschen getötet und 322 verletzt. Das Innenministerium teilte mit, zwei der Organisatoren seien festgenommen worden, um das Geschehen zu untersuchen.
Die Tragödie brachte die harte Realität zu der völlig verarmten und gesundheitlich geschwächten jemenitischen Bevölkerung zurück. Schon vor dem Krieg Saudi-Arabiens gegen die Houthis, der 2014 begann, galt der Jemen als „Armenhaus der arabischen Welt“. Mehr als 70 Prozent der Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Das UN-Nothilfeprogramm OCHA arbeitet seit 2010 im Land und weist seit Jahren auf einen Mangel an Hilfsgeldern für den Jemen hin. Anfang 2022 mussten rund zwei Drittel der großen UN-Hilfsprogramme heruntergefahren oder ganz eingestellt werden. Im OCHA-Jahresbericht 2022 heißt es aber auch, dass humanitäre Hilfe die Krise im Jemen nicht lösen könne. Die Wirtschaft des Landes müsse stabilisiert werden, damit eine grundlegende Versorgung der Bevölkerung von 33 Millionen Menschen aufgebaut und erhalten bleiben könne. Der Krieg sei das größte Probleme und müsse dringend beendet werden, so OCHA.
Mit dem iranisch-saudischen Tauwetter ist ein Ende des Krieges näher gerückt. Die Tragödie vor dem Fest Eid al-Fitr in Sanaa aber zeigt, wie verwundbar die Menschen im „Armenhaus der arabischen Welt“ weiterhin sind.
Hoffnung an Eid al-Fitr
Krisen und Kriege, Flucht und Vertreibung, politische und wirtschaftliche Unsicherheiten prägen den Alltag der Menschen im Nahen und Mittleren Osten seit Jahrzehnten. Einseitige Wirtschaftssanktionen von EU und USA verschärfen die Armut. Die jüngste Forderung des UN-Menschenrechtsrates, mit einer deutlichen Mehrheit von 33 zu 13 Stimmen bei 1 Enthaltung, diese völkerrechtswidrigen Strafmaßnahmen zu stoppen, verhallt in Brüssel, Washington, London, Paris und Berlin ungehört.
Ein schweres Erdbeben verschärfte Anfang Februar das Leid der Menschen im syrisch-türkischen Grenzgebiet, löste aber gleichzeitig eine große Hilfsbereitschaft der arabischen Staaten aus. Nach zwölf Jahren Krieg in Syrien, für den die reichen Golfstaaten mit Geld- und Waffenlieferungen wesentlich Mitverantwortung tragen, wird Syrien nun zurück in die arabische Gemeinschaft geholt. Möglich geworden ist die Entspannung durch die iranisch-saudische Annäherung, die Menschen in Syrien atmen auf. Noch prägen Armut, Krankheit und Mangel das Leben in Syrien, doch es gibt Hoffnung am diesjährigen Fest Eid al-Fitr.
Auch im Jemen ist die Hoffnung trotz der schrecklichen Tragödie groß. Seit 2015 hatte eine von Saudi-Arabien geführte Allianz einen erbarmungslosen Krieg gegen die Houthis geführt. Die regionale Entspannungspolitik führte innerhalb weniger Tage zu einer Annäherung verfeindeter Kriegsparteien und zu einem Gefangenenaustausch.
Die Vorgeschichte
Die Houthis im Jemen waren seit langem Ziel politischer Diskriminierung, die nicht zuletzt von Saudi-Arabien in dem südlichen Nachbarland forciert worden war. Nach Massenprotesten 2011, die auch als Jemenitische Revolution bekannt wurden und an denen auch die Houthi Bewegung beteiligt war, war der langjährige Präsident Ali Abdullah Saleh im Februar 2012 zurückgetreten. Es folgten innerjemenitische Machtkämpfe, in deren Verlauf Saleh sich (2014/15) auf die Seite der Houthi-Bewegung stellte. Gestärkt durch viele Überläufer der jemenitischen Armee nahmen die Houthis (Ansar Allah) die Hauptstadt Sanaa ein. Saleh wechselte 2017 erneut die Seiten und schloss sich dem von Saudi-Arabien unterstützten Politiker Abed Rabbo Mansour Hadi an. Die Houthi-Bewegung sprach von „Verrat“. Im Dezember 2017 wurde Saleh unter unklaren Umständen in Sanaa ermordet.
Hadi und dessen Regierung, die als „international anerkannt“ galt, pendelten zwischen dem Exil in Saudi-Arabien und dem Präsidentenpalast in der südjemenitischen Hafenstadt Aden. Im Februar 2022 trat ein Waffenstillstand in Kraft, im April 2022 trat Hadi zurück und übergab die Regierungsgeschäfte an einen achtköpfigen Regierungsrat unter Leitung von Rashad al-Alimi. Der Regierungsrat solle während einer „Übergangsphase“ die politischen, militärischen und Sicherheitsangelegenheiten entscheiden. Kern der „Übergangsphase“ sei es, mit der Houthi-Bewegung einen anhaltenden Waffenstillstand für ganz Jemen und eine endgültige politische Lösung zu verhandeln. Al-Alimi, der neue starke Mann des Regierungsrates in Aden, war lange Berater von Hadi und Innenminister der Hadi-Regierung. Er verfügt über enge Beziehungen mit Saudi-Arabien.
Seit 2015 kontrollieren die Houthis die Hauptstadt Sanaa und weite Teile im Nordwesten des Landes. Sie kontrollieren auch Houdaida, den zweitgrößten und strategisch wichtigen Hafen des Jemen an der Küste des Roten Meers. Über Houdaida erreichen 80 Prozent der humanitären Hilfsgüter, Benzin und Handelsgüter den Norden des Landes. Wie der Flughafen von Sanaa wurde auch der Hafen Houdaida wiederholt von Streitkräften der saudisch-geführten Allianz blockiert.
Da die Houthis militärische Beratung und Unterstützung aus dem Iran erhalten, während die Aden-Regierung von Saudi-Arabien unterstützt wird, wird der Krieg im Jemen als ein Stellvertreterkrieg zwischen Saudi-Arabien und Iran beschrieben. Die Vereinigten Arabischen Emirate unterstützen im Osten des Landes islamistische Gruppen. Seit 2009 gibt es im Osten Jemens und in angrenzenden Wüstengebieten Saudi-Arabiens Al-Qaida auf der arabischen Halbinsel (AQAP).
„Arabia Felix“
Jemen liegt im Südwesten der arabischen Halbinsel. Im Norden grenzt das Land heute an Saudi-Arabien, im Osten an das Sultanat Oman. Im Süden hat der Jemen eine lange Küste mit dem Golf von Aden, der in das Arabische Meer übergeht. Im Westen grenzt Jemen an das Rote Meer. Jemen kontrolliert die Meerenge Bab al-Mandab (Tor der Tränen), den geostrategisch wichtigen Zugang zum Roten Meer und zum Suez-Kanal. Im Westen wird die Meerenge von Dschibouti kontrolliert.
Geostrategisch gesehen hat der Jemen eben wegen dieser Lage eine wichtige Bedeutung für Handel und Kommunikation bis nach Asien. Im 8. Jahrhundert v. Chr. war das Land grün, fruchtbar, nicht zuletzt wegen regelmäßiger Regenfälle. Es kultivierte Weihrauch, Myrrhe und Gewürze, die über die Gewürzstraße durch die arabische Wüste nach Syrien/Palästina und bis nach Europa gelangten. Jemen ist als das Land bekannt, in dem als erstes die Kaffeebohne kultiviert wurde. Wegen des Reichtums wurde Jemen von Griechen und Römern, die Südarabien bereisten, auch „Arabia Felix“ genannt, das glückliche Arabien.
Die geostrategische Lage macht den Jemen bis heute für viele Akteure interessant. Bab al-Mandab gehört neben der Straße von Hormuz und dem Suez-Kanal zu den weltweit wichtigsten Meerengen für den Transport von Öl, allgemeinen Handel und das Militär. Die US-Armee hat allein in Saudi-Arabien fünf Militärbasen, um den Transport von Öl und (Flüssig-)Gas zu kontrollieren. Insgesamt sollen es in der Region mindestens 30 US-Militärbasen sein.
Die USA haben inzwischen ihre Interessen nach Osten, auf China gerichtet, das sie versuchen militärisch einzukreisen. Der Krieg in der Ukraine gegen Russland (seit 2022) verschlingt Milliarden US-Dollar. Manche Stimmen in den USA wollen weitere Kriege gegen Iran und China, um die Vormachtstellung der USA als „einzige Weltmacht“ zu behaupten. Allerdings haben die USA wichtige internationale Entwicklungen nicht ernst genommen.
Der Wind hat sich gedreht
Denn der Wind hat sich gedreht. Die Region des Nahen und Mittleren Ostens erlebt intensive Diplomatie. Die zügigen Entwicklungen sind das Ergebnis langjähriger Vermittlungen durch Irak und Oman. Verschiedene Friedensbemühungen seit 2019 – u.a. von Russland und Iran – tragen Früchte. Die Entwicklungen werden von China unterstützt und weisen auf eine neue internationale Ordnung hin. Die selbst ernannte „Weltmacht Nummer Eins“ – die USA – hat ihren Einfluss im Mittleren Osten verloren. China und Russland gehen auf die Länder des globalen Südens in der arabischen Welt, in Afrika und Lateinamerika zu und vermitteln. Der Zusammenschluss der BRICS-Länder – Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika – wächst.
Im Jemen begannen am 10. April 2023 saudisch-jemenitische Friedensgespräche, die von einer Delegation aus dem Oman begleitet wurden. Der saudische Botschafter im Jemen, Mohammed Al-Jaber, reiste nach Sanaa, um sich dort mit einer Delegation der Houthis (Ansar Allah) zu treffen, die von Mahdi al-Maschat geleitet wurde, dem Vorsitzenden des Obersten Politischen Rates der Houthis. Ziel der Gespräche war, den Waffenstillstand und einen Dialog zu stärken, um den Krieg zu beenden.
Sanaa: Waffenstillstand wird verlängert
Am 20. März hatten sich Vertreter der international anerkannten jemenitischen Regierung (Regierungssitz Aden) und der Houthis (Regierungssitz Sanaa) in Genf auf den Austausch von 880 Gefangenen geeinigt. Die Houthis ließen 181 Gefangene frei, darunter 15 saudische und drei sudanesische Staatsbürger. Die jemenitische Regierung ließ im Gegenzug 706 Gefangene frei. Wenige Tage später ließ Saudi-Arabien weitere 103 Houthi-Gefangene frei. Vermittelt worden war der Gefangenenaustausch von der UNO und dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK).
Als erstes Ergebnis der Gespräche zwischen den Saudis und den Houthis in Sanaa wurde bekannt, dass der von der UNO vermittelte Waffenstillstand um sechs Monate verlängert wird. Damit soll der Weg zu Verhandlungen geebnet werden. Während einer zweijährigen Übergangszeit soll ein Dialog zu einer politischen Lösung führen.
UN: Fortschritt in Richtung Frieden
Der UN-Sicherheitsrat begrüßte in einer gemeinsamen Erklärung die Entwicklung. Eine Fortsetzung des Waffenstillstands und ein innerjemenitischer Dialog unter Leitung des UN-Sonderbeauftragten für den Jemen in Übereinstimmung mit den entsprechenden UNSR-Resolutionen habe die „starke Unterstützung“ des Sicherheitsrates. Der UN-Sonderbeauftragte für Jemen, der schwedische Diplomat Hans Grundberg, erklärte, seit Beginn des Krieges (März 2015) sei dieses „der größte Fortschritt in Richtung Frieden“.