Ist Schwedens Demokratie der NATO zum Opfer gefallen?
Der türkische Präsident Erdoğan hat den NATO-Mitgliedstaaten in Vilnius den Plan einer langen to-do-Liste vorgelegt. Schweden muss die Forderungen befolgen.
Yavuz Baydar, einer der renommiertesten türkischen Journalisten, wundert sich über die Resultate des NATO-Gipfels im litauischen Vilnius: «Bis vor einem Jahrzehnt setzten europäische Demokratien wie Schweden Massstäbe, die der Türkei halfen, sich zu einer liberalen Gesellschaft zu entwickeln», schreibt er in seinem Portal «Turkish Free Press». Jetzt sei aber das genaue Gegenteil der Fall: «Nach einem albtraumhaften Jahrzehnt (in der Türkei) hat die NATO als Gesprächspartner einen knallharten Autokraten und ein krisenerschüttertes Land, das als unzuverlässiger Verbündeter agiert. Und nun ist es die Türkei von Erdoğan, die einer der ältesten Demokratien der Welt (wie Schweden) ihre Bedingungen böswillig aufzwingt und diktiert – und diese beugt und verbeugt sich. Dies ist zweifellos die grosse Ironie der Geschichte.»
Wie konnte es nur so weit kommen?, fragen sich mit Yavuz Baydar nicht nur die linken und liberalen Türken. Was wurde beim NATO-Gipfel in Vilnius genau vereinbart?
Die westliche Auslegung
Schenkt man den Erklärungen des NATO-Generalsekretärs Jens Stoltenberg Glauben, so konnte Mitte Juli in Vilnius eine drohende Katastrophe buchstäblich im allerletzten Moment abgewendet werden, auch dank dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, der plötzlich eine radikale Wende seiner Politik vollzogen und Schweden das langersehnte Ja zum NATO-Beitritt erteilt habe.
Ein ganzes Jahr lang spielte der Machthaber in Ankara mit Stockholms Hoffnungen ein demütigendes Katz-und-Maus-Spiel: Im Laufe von monatelangen, bilateralen Verhandlungen beschuldigte er Schweden unablässig, allzu «lasch mit Terrorismus» umzugehen, und er forderte die Umsetzung strengerer Terrorgesetze für Schweden – dem Stockholm, wenn auch zähneknirschend, Folge leistete. Dann verlangte er die Auslieferung mal von 7, dann wieder von 103 vermeintlichen «Terroristen», was die Gerichtshöfe des skandinavischen Staates meist als verfassungswidrig zurückwiesen. Kurz vor seinem Eintreffen in Vilnius verknüpfte Erdoğan schliesslich sein Ja zum NATO-Beitritt Schwedens mit einer EU-Perspektive für sein Land. Und weil diese letzte Forderung sich so absurd unerfüllbar anhörte, sahen Presse und Diplomatie bereits das verhängnisvolle Scheitern des Vilnius-Gipfels voraus.
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg zeigte sich erleichtert. Ihm sei es gelungen, faktisch “5 Minuten vor 12” bei einem Dreiertreffen zwischen dem türkischen Präsidenten, dem schwedischen Regierungschef Kristersson und ihm als Vermittler Erdoğan umzustimmen, sagte er freudig der Presse. Erdoğan wolle das Beitrittsprotokoll Schwedens so bald wie möglich dem türkischen Parlament zur Ratifizierung vorzulegen. Im Artikel 4 eines mit 25 Seiten umfassenden, erstaunlich langen “Summit Communiqué” steht entsprechend: “Wir freuen uns darauf, Schweden als vollwertiges Mitglied des Bündnisses willkommen zu heissen und begrüssen in diesem Zusammenhang die erzielte Vereinbarung des Dreiertreffens”.
Handelt es sich um ein Geschenk für Jens Stoltenberg persönlich? Der Oberste Chef des westlichen Militärbündnisses rühmt sich schliesslich seit langem, ein “guter Freund” des türkischen Präsidenten zu sein. Oder wurde Erdoğan zu einem Rückzieher gezwungen, weil Vilnius diesem «unberechenbaren Partner» keine andere Wahl liess, wie das Fazit fast der gesamten westlichen Presse und Diplomatie lautete?
Die türkische Auslegung
Wenige Tage nach Vilnius spricht allerdings vieles gegen den vom Westen herbeigewünschten “Schwenk” Erdoğans. Kaum zurück in Ankara, machte der türkische Präsident öffentlich kund, was ihm in Vilnius von besonderer Bedeutung war: Demnach sollten Mitgliedstaaten der NATO fortan ihre Einschränkungen für den Waffenhandel mit der Türkei aufheben. Schweden müsse ferner in Bezug auf die Terrorismusbekämpfung “im Rahmen eines neuen NATO-Sonderkoordinators” viel enger mit Ankara zusammenarbeiten. Schliesslich sollte die EU ihre Zollunion mit der Türkei aktualisieren und eine Visa-Liberalisierung für türkische Bürger ermöglichen.
Vieles spricht nun dafür, dass die NATO den Vorgaben Erdoğans Folge leistet. Gleich nach Vilnius hat Kanada als erster Bündnispartner Verhandlungen mit Ankara angekündigt, um “die Exportkontrollen für Waffenverkäufe an die Türkei wieder aufzuheben”. Kanada hatte 2020 den Verkauf sensibler, kanadischer Linsen für die türkische Drohne Bayraktar eingestellt. Damit protestierte es gegen den massiven Einsatz der Bayraktar- Drohnen im Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um Berg-Karabach. Diese Drohnen hatten gerade die einzige Entbindungsklinik der von Armeniern besiedelten Region Berg-Karabachs sowie den Gemüsemarkt im Zentrum der Hauptstadt Stepanakert getroffen.
Erdogans «Diplomatie und Führungsstärke».
Von seinem tiefen Wunsch nach einem NATO-Beitritt getrieben, hatte Schweden bereits am NATO-Gipfel von Madrid vor einem Jahr akzeptiert, ein 2018 gegen die Türkei verhängtes Waffenverbot wieder aufzuheben. 2018 fühlten sich westliche Staaten wie Schweden noch zum Schutz der kurdischen Minderheit im Nordsyrien verpflichtet. Seit 2015 kämpften die jungen, bewaffneten Männer und Frauen der kurdischen Peshmerga (YPG) auf Seiten der USA und anderer europäischen Staaten gegen die Dschihadisten des IS, während ihr politischer Arm (PYD) in der tief patriarchalischen Gesellschaft Nordsyriens Reformen anstrebten, wie demokratische Institutionen, Frauenquoten und eine Gleichstellung für ethnische Minderheiten. 2018 marschierten türkische Truppen zum ersten Mal völkerrechtswidrig in die von Kurden kontrollierte Provinz Afrin im Nordwesten Syriens ein und trieben rund 300.000 Menschen in die Flucht. Stockholm hatte 2018 mit seinem Waffenembargo auf diesen offensichtlichen Völkerrechtsbruch der Türkei reagiert.
«Wie sich die Dinge doch geändert haben», stellt Yavuz Baydar in seinem Bericht ratlos fest. Schweden hebt sein Embargo auf, obwohl türkische Truppen mittlerweile grosse Teile seines Nachbarlandes besetzt halten. Der amerikanische Präsident Joe Biden sichert nach einem langen Gespräch mit Erdoğan in Vilnius zu, den im US-Kongress noch heftig umstrittenen Verkauf von F-16-Kampfbomber an die Türkei zu beschleunigen und bedankt sich bei seinem türkischen Gesprächspartner für seine «Diplomatie, seinen Mut und seine Führungsstärke». Dabei war es derselbe Biden, der noch vor kurzem ein Treffen mit dem «Autokraten Erdoğan» nach Möglichkeit mied.
Der Teufel steckt im Detail
Der Teufel steckt im Detail, kommentiert der amerikanische Menschenrechtsexperte Michael Rubin das trilaterale Abkommen in Vilnius. Laut Rubin hat die Türkei Schweden eine lange «to do»-Liste vorgelegt, der Stockholm nun gemäss einem genauen Fahrplan folgen müsste. Dazu gehört etwa auch, die syrischen Kurden (YPG/PYD) und die Anhänger der islamistischen «Fethullah Gülen Bewegung» (FETÖ) in Schweden künftig als «terroristische Organisationen» einzustufen und zu verfolgen. «Auf Stoltenbergs Drängen hin ist (der schwedische Premier) Kristerson nun bereit, die schwedische Demokratie über den Haufen zu werfen. Er verwandelt Schweden von einem Zufluchtsort für Dissidenten in ein Jagdrevier für diese», so Rubin.
Das 25 Seiten lange “Summit Communiqué” von Vilnius fängt mit dem Satz an: «Wir, die Staats- und Regierungschefs des Nordatlantischen Bündnisses, die wir durch gemeinsame Werte wie individuelle Freiheit, Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verbunden sind….». In den Ohren der syrischen Kurden, die im Kampf gegen die Dschihadisten über 30.000 Tote zu beklagen hatten und sich plötzlich als «terroristisch» eingestuft sehen, hört sich die Phrase allerdings als Hohn an. Gleich nach Vilnius meldete die politische Führung der syrischen Kurden, dass Schweden jeden Kontakt zu ihnen abgebrochen habe.
Als Hohn oder zumindest als besonders selektive Wahrnehmung von Menschenrechten empfinden auch die Anhänger der FETÖ-Bewegung diesen Anspruch des NATO-Gipfels. Zur Erinnerung: Von 2002 und über ein Jahrzehnt teilten Erdoğan und Fethullah Gülen als eng Alliierte die Macht über die Bewegung des politischen Islams in der Türkei, bis 2013 dann der Bruch die Bewegung in zwei sich unerbittlich bekämpfende Flügel teilte. Spätestens nach dem unaufgeklärten Putschversuch 2016 nahm die Verfolgung der FETÖ-Anhängern in der Türkei die Züge einer wahren Hexenjagd an: Erdoğan prangerte Fethullah Gülen als Urheber des Putsches an und liess Abertausende Offiziere, Richter, höhere und niedrigere Staatsbeamte, Lehrer und Unternehmer festnehmen und deren Besitz beschlagnahmen. Wer fliehen konnte, ging ins Exil. Schweden, das als eines der ältesten Demokratien galt, war Kurden und türkischen Dissidenten allen Couleurs dabei ein bevorzugter Zufluchtsort.
Noch nicht unter Fach und Dach
Der Beitritt Schwedens ist noch nicht unter Dach und Fach, solange das türkische Parlament die Beitrittsgesetze nicht ratifiziert hat. Erdoğan hat zwar angedeutet, den schwedischen Antrag dem türkischen Parlament nach Ende der Sommerpause im Oktober vorzulegen. Das bedeutet aber, dass der türkische Präsident genug Zeit hätte, um, getreu seiner Manier, den Einsatz nochmals zu erhöhen.
Zum NATO-Gipfeltreffen in Vilnius siehe «Einem dritten Weltkrieg einen Schritt näher» (von Christian Müller)