Es gab sie schon, Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine, Ende Februar und im März 2022. Aber es war der Westen, der die Ukraine aufforderte, die erreichten Ziele nicht zu akzeptieren, da er an einem Krieg interessiert war. Es war für den Westen DIE Gelegenheit, Russland zu schädigen.

Ist Russland zu Friedensgesprächen bereit?

(Red.) Unser Korrespondent in Russland, Stefano di Lorenzo, fragt sich natürlich zu Recht, warum in der Ukraine immer noch Krieg geführt wird und immer noch auf beiden Seiten Tausende von Menschen zu Tode kommen. Und er hat in dieser Sache auch mit prominenten russischen Politologen gesprochen. Hier erklärt er, wie das Problem aus russischer Sicht aussieht. (cm)

In den letzten Tagen häufen sich Berichte über mögliche Vereinbarungen zwischen den USA und Russland zur Beendigung des Krieges in der Ukraine. US-Präsident Donald Trump hat angedeutet, die USA und Russland seien bereits in Kontakt, um die ukrainische Frage zu lösen. Der stellvertretende russische Außenminister Sergej Rjabkow erklärte hingegen, dass es noch keine direkten Kontakte zwischen Russland und der Trump-Administration gegeben habe. Auch Kreml-Sprecher Dmitri Peskow soll gemeint haben, bis jetzt gab es zwischen den USA und Russland zum Thema Ukraine keine konkreten Gespräche.

Seit Beginn der letzten Phase des Ukraine-Krieges im Februar 2022 wurde jeder in Europa, der es wagte, die Möglichkeit von Verhandlungen mit Russland anzudeuten, beschuldigt, sich mit dem Bösen abfinden zu wollen, wie der britische Premierminister Chamberlain im Jahr 1939 in München. Es wurde ständig wiederholt, dass die „Faschisten“ (Russland) nur die Sprache der Gewalt verstehen. Pazifisten wurden als Putins nützliche Idioten und als Feiglinge beschimpft, die vor Putin, dem letzten in einer langen Liste neuer Hitler, kapitulieren wollten. Immer wieder wurde behauptet: Nachgeben gegenüber Putin würde bedeuten, dass Russland grünes Licht für neue territoriale Annexionen bekäme.

Den „Pazifisten“ erging es in Russland sicherlich nicht viel besser. Der Krieg ist vielen Leuten zu Kopf gestiegen. Einige schienen wie der antike Philosoph Heraklit davon überzeugt zu sein, dass der Krieg der Vater aller Dinge sei. Sie sahen in der Unterstützung des Krieges den Lackmustest, der einen Patrioten, der sein Land liebt, von einem Verräter unterscheidet. Ein Teil der russischen Bevölkerung sah den Krieg zwischen Russland und dem Westen auf dem Territorium der Ukraine als eine historische Rekonstruktion des Zweiten Weltkriegs und des Kampfes gegen den Faschismus. Das waren natürlich Anspielungen, die sich im kollektiven Bewusstsein gut festsetzen. Der Kampf gegen den Faschismus war einer der großen Motive des Bewusstseins der Sowjetunion und später der wiedergeborenen russischen Nation.

Kriege erfordern, klar Partei zu nehmen: Man muss sich für eine Seite entscheiden. Viele russische Bürger waren zwar nicht unbedingt Anhänger des Krieges, aber sie haben sich in die Enge getrieben gefühlt, und konnten sich am Ende instinktiv nur auf die Seite ihres Heimatlandes stellen. Einfache Menschen und prominente Medienkommentatoren haben sich in vielen Fällen von der Aufregung des Krieges mitreißen ließen und wiederholten oft, dass man bis zum Ende gehen müsse, ohne Kompromisse. Die Regierung Russlands andererseits hat in den letzten drei Jahren durch verschiedene offizielle Sprecher, einschließlich des russischen Präsidenten Putin selbst, oft wiederholt, dass Russland offen für Verhandlungen um die Ukraine und mit der Ukraine sei, ohne Vorbedingungen.

Kritische Stimmen in Europa behaupteten, der Kreml sei bei diesen Erklärungen offensichtlich nicht aufrichtig und es handele sich um nichts anderes als eine Falle Russlands, um aufzurüsten und dann eine neue Offensive zu starten. 

So äußerte sich beispielsweise die Russland-Expertin Claudia Major in einem Interview in der ARD im September letzten Jahres: „Russland hat überhaupt kein Interesse [an Verhandlungen]. Es gibt Äußerungen von Kremlsprecher Peskow, der sagt: Die Spezialoperation muss zu Ende geführt werden. Die Sprecherin des Außenministeriums hat auch gesagt, dass es kein Interesse von russischer Seite gibt, an der Friedenskonferenz oder an anderen Konferenzen teilzunehmen. Und sie hat noch mal auf den Plan von Putin verwiesen, den er im Juni veröffentlicht hat: Er beinhaltet unter anderem, dass die Ukraine die vier Gebiete, die Russland annektiert hat — Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson — als russisch anerkennen muss.“

„Momentan spricht gar nichts dafür, dass Russland ein Interesse hat, den Krieg zu beenden. Und noch mal: Wenn wir uns die Angriffe der letzten Tage ansehen, eskaliert Russland jeden Tag weiter.“

Auch der britische Außenminister David Lammy hat vor einigen Tagen gemeint, die Erklärungen und Forderungen von Wladimir Putin lassen noch nicht vermuten, Russland sei bereit, Verhandlungen zur Beendigung des Krieges mit der Ukraine aufzunehmen.

„Zum jetzigen Zeitpunkt sehen wir nicht, dass Russland ernsthaft an Verhandlungen und Frieden interessiert ist. Und die Bedingungen, die Putin letztes Jahr gestellt hat, waren keine Grundlage, auf der man von einem souveränen Land ernsthaft erwarten könnte, dass es Verhandlungen aufnimmt“, sagte Lammy während eines Besuchs in Kiew.

Ist es dann naiv, auf eine diplomatische Lösung zu hoffen?

Diplomatie war am Anfang möglich

Eigentlich hatten die Ukraine und Russland schon bald nach dem russischen Einmarsch am 24. Februar 2022 Gespräche aufgenommen. Die Gespräche hatten zunächst in Belarus stattgefunden — wo bereits die Minsker Vereinbarungen von 2014 und 2015 geschlossen worden waren — und dann bekanntlich in Istanbul. Die Minsker Vereinbarungen, die eine Autonomie für den Donbass innerhalb der Ukraine vorsahen, waren im Laufe der Jahre bei einem aktiven Teil der ukrainischen Gesellschaft auf große Ablehnung gestoßen, der die Vereinbarungen als „Kapitulation“ vor Russland betrachtete. Auch Selenskyj, der im Mai 2019 mit dem Versprechen gewählt wurde, den Krieg im Donbass zu beenden, hatte auf der Bedeutung der Minsker Vereinbarungen bestanden, anders als sein Gegenkandidat Petro Poroschenko, Präsident von 2014 bis 2019, dessen nationalistischer Slogan „Armia, mowa, wera“, zu Deutsch „Armee, Sprache, Glaube“ lautete. 

Im März 2022 standen die Ukraine und Russland in Istanbul sogar kurz vor der Unterzeichnung eines Abkommens – doch aus vielen Gründen, darunter die Tatsache, dass der Westen die Ukraine in keiner Weise ermutigte, mit Russland zu verhandeln, sondern im Gegenteil versprach, die Ukraine bis zum Sieg zu unterstützen – scheiterten die Gespräche. Die Tragödie von Butscha, einem Vorort von Kiew, in dem nach dem Rückzug der Russen die Leichen mehrerer ukrainischer Zivilisten gefunden wurden — worüber sich Ukrainer und Russen gegenseitig beschuldigen — trug ebenfalls dazu bei, den Willen zu Verhandlungen zu begraben. (Fotos dieser Leichen in Butscha zeigen allerdings an der mitgetragenen Ausrüstung, dass es russische Soldaten waren. Anm. der Red.)

Im September 2022 kündigte Russland nach einer Abstimmung in den besetzten Gebieten die Eingliederung von vier Regionen der Ukraine in die Russische Föderation an: den Donbass, d. h. die Regionen Donezk und Lugansk (die sogenannte Volksrepublik Donezk und die Volksrepublik Lugansk sowie die noch unter ukrainischer Kontrolle stehenden Gebiete der Region) sowie die ebenfalls nicht vollständig unter russischer Kontrolle stehenden Gebiete Saporischschja und Cherson.

Daraufhin verhängte der Nationale Sicherheits- und Verteidigungsrat der Ukraine ein Verbot direkter Verhandlungen mit Putin, das auch heute noch in Kraft ist. Selenskyj erklärte, das Verbot sei ausgesprochen worden, um die Gefahr des Separatismus zu verhindern, „weil Putin sehr schnell begonnen hatte, in Zusammenarbeit mit Separatisten und Beamten anderer Staaten eine große Zahl verschiedener Kanäle einzurichten, um die Ukraine, unsere Unabhängigkeit und mich direkt zu beeinflussen“. Faktencheckers des deutschen Staatssenders Deutsche Welle haben aber gemeint, es gäbe kein Verbot, es gehe nur um „eine Feststellung des Sachstandes und keineswegs um ein Verbot, mit Russland als Kriegspartei zu verhandeln“. Die Rede von „Verbot“ sei nur russische Propaganda. Es ist in diesem Fall aber ziemlich merkwürdig, dass selbst ukrainische Medien die Sprache der ‘russischen Propaganda’ benutzen.

Heute, zweieinhalb Jahre später, insbesondere nach der Wahl Trumps, haben sich die Töne geändert, auch in der Ukraine. Selenskyj sagt nun, er sei bereit, sogar mit Putin zu sprechen, um den Krieg zu beenden. 

Und Russland? Ist Russland heute wirklich bereit, mit der Ukraine und dem Westen zu reden?

Was einige russische Experten sagen

„Im Vergleich zu 2022 hat sich Putins Position eigentlich verhärtet. Russland war in Istanbul zur Versöhnung bereit. Aber andererseits ist Putin heute auch der Einzige, der den Krieg zu mehr oder weniger günstigen Bedingungen für die Ukraine beenden kann. Ein anderer wäre nach drei Jahren Krieg zum Weiterkämpfen gezwungen“, sagt Dmitry Babich, Journalist und Experte für Auslandspolitik bei der Zeitung „Komsomolskaja Prawda“.

„Nach dem zu urteilen, was russische Beamte sagen, ist Moskau bereit, über die Ukraine zu sprechen“, sagt der russische Politikwissenschaftler Dmitri Trenin, bis 2022 Direktor des Carnegie Moscow Centre.

„Wir müssen uns Folgendes vor Augen halten“, so Trenin weiter, „Russland ist am Frieden interessiert, nicht an einem Waffenstillstand oder einem ‘Einfrieren’ des Konflikts. Die Bedingungen für die Aufnahme von Verhandlungen wurden von Putin in einer Rede vor dem russischen Außenministerium am 14. Juni 2024 festgelegt. Die Ziele der Sonderoperation (Neutralität der Ukraine, Entmilitarisierung und Entnazifizierung) müssen erreicht werden. Die Rechte der russischen Sprache und Kultur sowie der Status der russisch-orthodoxen Kirche (UOK-MP) müssen auf dem in der Ukraine verbleibenden Gebiet wiederhergestellt werden. Mit anderen Worten: Die Fragen, die zu der besonderen Militäroperation geführt haben, müssen gelöst werden.“

„Die geopolitischen Realitäten (4 Regionen plus die Krim und Sewastopol als Teil der Russischen Föderation) müssen offiziell anerkannt werden. Der Frieden sollte zur Aufhebung der Sanktionen führen. Russland ist bereit, mit den USA zu verhandeln. Neben der Ukraine-Krise werden bei diesen Verhandlungen auch Sicherheitsfragen in Europa zur Sprache kommen (die Position Russlands hierzu ist in dem Entwurf des Abkommens vom 15.12.2021 dargelegt). Russland wird das Abkommen nur mit den absolut rechtmäßigen Vertretern der Ukraine unterzeichnen.“

„Diese Positionen sind miteinander verknüpft und implizieren eine umfassende Lösung. Trumps teilweise Akzeptanz dieser Positionen wird nicht zu einem dauerhaften Frieden führen. Ein Kompromiss ist nur in sekundären Fragen möglich.“ 

„Trump steht nun vor einem Dilemma: Er muss Russlands Sicherheitsinteressen anerkennen, einen Deal mit Putin eingehen und sich eine Lawine von Anschuldigungen wegen Verrats westlicher Interessen und Werte einhandeln – oder er muss versuchen, Russland zu einem Frieden zu zwingen, der für unser Land unbefriedigend ist, und sich in einen unnötigen und für die USA gefährlichen Krieg verstricken“, so Dmitri Trenin.

Andere russische Experten sehen ein anderes Szenario. Der einst dem Kreml (und angeblich den russischen Geheimdiensten) nahestehende russische Politologe Sergej Markow rechnet mit einem Waffenstillstand bis zum 20. April, dem orthodoxen Ostertag, und der Unterzeichnung eines Friedensabkommens vor dem 9. Mai, dem Tag des russischen Sieges im Zweiten Weltkrieg, der sich in diesem Jahr zum 80. Mal jährt.

Die Ukraine würde nicht in die NATO aufgenommen, so schreibt Sergej Markow auf seinem Telegramm-Kanal, aber NATO-Soldaten würden (ohne Beteiligung der USA) als Peacekeepers auf ukrainischem Gebiet stationiert werden. Der Plan würde auch Finanzmittel für die Ukraine in der Größenordnung von 500 Milliarden über einen Zeitraum von zehn Jahren vorsehen sowie eine Sondersteuer, die Russland auf Rohstofflieferungen nach Europa zahlen würde, eine so genannte „Ukraine-Reconstruction-Steuer“.

Ist das realistisch? Es ist zu früh zu wissen. Aber gute Vorsätze müssen nicht unbedingt in die Hölle führen.