Moshe Zuckermann, der Autor des untenstehenden Textes zum Thema Deutschland. (Bild SRF)

Ist Kritik am Vorgehen Israels in Gaza per definitionem antisemitisch?

Kein europäischer Historiker kann die Geschichte der Juden und die Geschichte Israels – was nicht dasselbe ist! – ignorieren. Auch ich als Herausgeber von Globalbridge.ch investiere viel Zeit, um auch in dieser Thematik informiert zu sein – siehe weiter unten. Aber es gibt Leser, die aus den auf Globalbridge.ch publizierten Beiträgen zum Krieg in Gaza den Schluss ziehen, ich hasse «die Juden». Dagegen muss ich mich in aller Form wehren.

Von einem deutschen Globalbridge.ch-Leser habe ich die folgende Email erhalten: „Ihren Hass auf die Juden teile ich nicht. Daher habe ich Ihren Newsletter storniert und werde das auch meinem Freundes-Bekannten-und Familienkreis empfehlen.“ Selbstverständlich darf jeder Leser und jede Leserin das Newsletter-Abonnement stornieren. Man soll Globalbridge.ch nur freiwillig lesen. Aber zu verbreiten, ich hasse „die Juden“, ist nicht nur unfair, sondern falsch, um nicht zu sagen eine Verleumdung.

Als promovierter Historiker und professioneller Journalist habe ich mich immer auch mit der Geschichte der Juden und mit Israel beschäftigt, auch wenn es nicht mein Forschungsschwerpunkt war. Aber um mich auf dem Laufenden zu halten, habe ich seit vielen Jahren die englische Ausgabe der israelischen Tageszeitung «Haaretz» abonniert – gegen Bezahlung notabene und also Volltext. Und ich habe die Analysen des «Institute for National Security Studies» INSS, ein Institut der Universität von Tel Aviv, abonniert. Und ich habe Gatestone und Mondoweiss abonniert. Und ich habe zu diesem Thema nicht wenige Bücher gelesen: Moshe Zuckermann: Der allgegenwärtige Antisemit (Westend), Israel Shahak: Jüdische Geschichte, Jüdische Religion (Lüthe-Verlag), Avraham Burg: Hitler besiegen (Campus), Norman G. Finkelstein: Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern (Diederichs), Peter Beinart: The Crisis of Zionism (Times Books), Evelyn Hecht-Galinski: Das Elfte Gebot: Israel darf Alles (Palmyra), Karin Wenger: Checkpoint Huwara (NZZ), Shlomo Sand: Die Erfindung des jüdischen Volkes (Propyläen), und andere. Alles aus politischem und historischem und eben auch beruflichem Interesse an diesem nicht ganz einfachen Thema.

Die in Deutschland verbreitete Anschauung, Kritik an Israel sei a priori antisemitisch, teile ich allerdings nicht. Nicht zuletzt in den letzten Monaten – nicht erst seit dem 7. Oktober! – gibt es auch in Israel selber Zehntausende – Juden notabene –, die mit der Politik der Regierung unter Benjamin Netanjahu mitnichten einig gehen und sich mit überwältigenden Demonstrationen Gehör zu verschaffen versuchten – bisher vergebens.

Wenn prominente israelische Intellektuelle, Journalisten, Buchautoren und auch Politiker die rassistische Okkupationspolitik der Regierung öffentlich hart kritisieren, dann ist das ein klares Faktum, dass diese Politik eben nicht die Politik „der Juden“ ist, sondern die Politik problematischer Personen und politischer Gruppierungen in Israel. Und warum sollen diese Gruppierungen und die von ihnen jetzt dominierte Regierung nicht auch von außen kritisiert werden dürfen? Bei allen anderen Ländern, USA, Russland, China, UK, Deutschland, ist es ja selbstverständlich, dass Kritik auch von außen kommt.

Dass Deutschland als Staat nach den grauenvollen Judenverfolgungen im Zweiten Weltkrieg, dem Holocaust, sich moralisch verpflichtet fühlt, Israel zu unterstützen, ist nachvollziehbar. Aber gerade deshalb gibt es zu diesem Thema, die Beziehung zwischen Deutschland und Israel, etliche interessante Publikationen. Gerade auch im Jahr 2023, aber noch vor dem 7. Oktober, ist im Verlag Westend das Buch «Denk ich an Deutschland …» von Moshe Zuckermann und Moshe Zimmermann erschienen, ein Dialog zwischen den beiden Intellektuellen und auf das Thema Antisemitismus spezialisierten Wissenschaftlern – beide waren Hochschuldozenten und auch in Deutschland unterwegs – aus Israel. Die in Deutschland propagierte These, dass Kritik an Israel per definitionem antisemitisch sei, musste sie und muss sie deshalb nicht kümmern.

Globalbridge.ch hat die Bewilligung erhalten, das letzte Kapitel dieses Buches wörtlich abzudrucken. Es betrifft die Solidarisierung Deutschlands mit Israel.

Von Moshe Zuckermann an Moshe Zimmermann:

«Du hast am Beispiel von Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir das wesentlich Krankhafte der gegenwärtigen politischen Struktur Isra­els dargelegt. Dass Netanjahu die Parteien der beiden sowie die or­thodoxen Parteien als seine »natürlichen Verbündeten« bezeichnet, hängt mit der unerbittlichen Verfolgung seiner Privatinteressen zu­sammen, denen er die nationalen Interessen und das kollektive Ge­meinwohl unterstellt. Die »Justizreform«, die eher auf einen Staats­streich hinausläuft, gilt ja nicht zuletzt der Verhinderung seiner Verurteilung in dem gegen ihn laufenden Prozess. Bedrückend ist aber vor allem, dass diese populistischen Politiker offenbar auf eine Riesenmasse von Menschen zählen können, die sie und mithin auch ihre rassistischen, chauvinistischen und faschistischen Anschauun­gen gewählt haben. Die Melange aus Faschismus und religiösem Fundamentalismus, die jetzt in Israel an die Macht gelangt ist, ist in der Tat etwas, das wir zwar jahrelang als Möglichkeit vor Augen hat­ten, das uns jetzt aber trotzdem entsetzt, da es sich tatsächlich ver­wirklicht hat. Zwar hat sich eine beeindruckende Protestbewegung gegen diese Entwicklungen gebildet (und man kann ihre Agitation in den letzten Monaten mit einiger Bewunderung registrieren). Trotz­dem sollte man auf keinen Fall unterschlagen, dass ein anderer Ele­fant im Raum steht und von den Hunderttausenden energisch De­monstrierenden ignoriert wird bzw. nicht zum Thema ihrer Protestemphase gemacht wird: Von der Okkupation, geschweige denn von einer politischen Lösung des Konflikts mit den Palästinen­sern, darf weiterhin kaum geredet werden. 

Ich möchte aber an den zweiten Teil Deiner Darlegung anknüp­fen und auch in diesem Kontext über Deutschlands Beziehung zu Israel sprechen. Deutschlands unverbrüchliche Solidarität mit Israel ist historisch nachvollziehbar. Deutsche haben an Juden Monströ­ses verbrochen; in Israel haben zionistische Juden ihren National­staat errichtet; und so war es nur zu verständlich (und realpolitisch praktisch), dass Deutschland (bzw. die alte BRD) seine den Juden gegenüber zu erbringende Sühne auf den Staat Israel übertrug und ab 1952 materialisierte. Über die sogenannte Wiedergutmachung hinaus, und letztlich als integralen Bestandteil von ihr, verpflichtete sich das staatsoffizielle Deutschland, seine Solidarität mit Israel nie abreißen zu lassen – bis hin zum Bekenntnis der deutschen Kanzle­rin im Jahre 2008, dass Israels Sicherheit Teil der deutschen Staats­räson sei. Das Hauptargument für diese selbst auferlegte Radikalver­pflichtung formuliert sich in der Parole, dass Israel den Juden nach der im Holocaust kulminierten Verfolgungsgeschichte endlich eine Zufluchtsstätte biete – und diese gelte es zu erhalten, wofür Deutsche eine besondere historische Verantwortung trügen. 

Angesichts der Erfahrung des Zivilisationsbruchs war das nach 1945 zweifellos richtig und die so begründete Staatsgründung darf aus damaliger Sicht gar als historische Notwendigkeit gewertet wer­den. Aber wie schon mehrfach an anderer Stelle dargelegt, darf be­zweifelt werden, dass dem heute noch so ist bzw. dass der Zionismus seinem Versprechen nachgekommen ist, den Juden in aller Welt eine Zufluchtsstätte zu errichten, wo sie in Frieden und Sicherheit leben können. Was immer der komplexe Zusammenhang dafür sein mag, lässt sich heute doch mit Bestimmtheit sagen, dass der Jude als Jude nirgends auf der Welt so bedroht ist wie gerade in dieser vermeint­lichen Zufluchtsstätte, und zwar sowohl individuell als tendenziell auch kollektiv.

Aber das sei hier nur nebenbei bemerkt. Zu fragen gilt es gleich­wohl, ob man in Deutschland wirklich weiß, mit was für einem Staat man sich solidarisiert, wenn man Israel gegenüber eine solch beharrliche Loyalität bezeugt. Oder lässt man sich etwa durch die Pathosformel der Zufluchtsstätte dermaßen blenden, dass man die Realität dieses Staates gleichsam ausblendet, um sich ungestört und bar jeglicher Wirklichkeitsrelevanz der längst schon zum verding­lichten Fetisch mutierten Sühnearbeit hingeben zu können? Weiß man in Deutschlands politischer Klasse wirklich nichts von der jahrzehntelangen Barbarei des israelischen Okkupationsregimes und seinen Auswirkungen auf Palästinenser und jüdische Israelis? Weiß man nicht, dass man sich mit einem Land solidarisiert, das Kriegsverbrechen begeht, das Völker- und Menschenrecht systema­tisch übertritt, das schon längst zu einem Apartheidstaat verkom­men ist? Und wenn man das weiß, meint man nicht, die notwendige Verurteilung dieser barbarischen Praxis in irgendeiner Weise arti­kulieren zu sollen? 

Diese Frage stellt sich nun mit umso größerer Dringlichkeit an­gesichts der vor einem halben Jahr in Israel eingeschworenen neuen Regierung. Wenn diese Regierung die Regierung des zionistischen Staates ist, dann kann dem Postulat, der Zionismus sei rassistisch, endgültig nicht mehr widersprochen werden. In der israelischen Gesellschaft feiert der Rassismus schon seit vielen Jahren Urständ, seit geraumer Zeit auch im Parlament des radikal nach rechts ge­rückten Staates, und nun ist er zum integralen Bestandteil des mit Verve proklamierten Parteiprogramms der zentralen Koalitionspart­ner Netanjahus (seiner »natürlichen Verbündeten«) avanciert. Man hasst die Araber, man hasst Homosexuelle, man hasst Linke, man redet über Frauen, als sei man noch gar nicht im 20., geschweige denn im 21. Jahrhundert angelangt. Und man ist dort letztlich auch noch nicht angelangt: Die klerikal-mystische Grundlage dieser Ko­alitionsparteien amalgamiert sich mit chauvinistisch-faschistischen Ideologemen; das erklärte Ziel einiger dieser Parteien, die in der neuen Regierung zentrale Ministerien besetzen, ist es, Israel in eine Theokratie verwandeln zu wollen. Die Angriffe auf das (bereits jetzt merklich geschwächte) Justizsystem Israels korrespondieren mit der Tatsache, dass alle Führer der Koalitionsparteien vorbestraft sind; und das wiederum verwundert nicht, wenn man bedenkt, dass Ne­tanjahu selbst der Korruption, des Betrugs und der Veruntreuung angeklagt ist. Lüge, Korruption und offene Übertretung des Geset­zes sind zur Matrix des regierenden Teils der Knesset verschmolzen. Entsprechend werden Gesetze konstruiert und jetzt schon verab­schiedet, die dieses illegale Unwesen legalisieren, mithin Netanjahu helfen sollen, seinem Prozess und einer möglichen Gefängnisstrafe zu entkommen. 

In den 1990er Jahren sagte mir einmal ein berühmter deutscher Philosoph, nachdem er vom Fachbereich Philosophie an der Univer­sität Tel Aviv gebeten wurde, eine Petition zu unterschreiben, die Is­rael für ein gerade begangenes horrendes Verbrechen der IDF im Li­banon verurteilte: »Das kann ich leider nicht machen. Kein Mensch meiner Generation in Deutschland würde je eine Verurteilung Isra­els unterschreiben.« Mutig war das nicht, aber nachvollziehbar. Seine Generation war ja noch aktiv am Ende des Zweiten Weltkriegs mit allem, was er implizierte, beteiligt. Wegen seiner lebensgeschicht­lichen Erfahrung räumte er der Zufluchtsstätten-Doktrin Vorrang gegenüber einem Urteil über das aktuelle Verbrechen ein. Juden und Israel waren ihm da ein Abstraktum – anders war ihm der Umgang mit der deutschen Geschichte (in seinem Fall, wie gesagt, nachvoll­ziehbar) nicht möglich. 

In der Woche, als die neue Regierung in der Knesset eingeschwo­ren wurde, schrieb der israelische Publizist Yossi Klein in der Tages­zeitung Haaretz: »Die Bildung der Regierung heute ist ein histori­sches Ereignis. Einmalig. Bedeutend wie die Ermordung Rabins. Es ist das erste Mal, dass Juden eine Regierung bilden, deren Gesetze denen ähneln, in deren Namen ihr Volk ermordet wurde.« Es wäre interessant, eine offizielle deutsche Stimme dazu zu hören. Aber die gab es eigentlich schon: Am 2. November 2022 wurde Andrea Sasse, Sprecherin des Auswärtigen Amtes, auf einer Pressekonferenz um einen Kommentar zur sich bildenden »rechtsradikalen Koalition« in Israel gebeten. Die Sprecherin gab zur Antwort: »Zum einen weisen wir das zurück, was in Ihrer Frage mitschwingt.« Als der Fragende wissen wollte, was es sei, das da zurückgewiesen würde, es seien ja Faschisten in der neuen Koalition, antwortete die Sprecherin resolut: »Die Bewertung, die in Ihrer Frage liegt, machen wir uns nicht zu eigen.« Das ist die ganze Story in nuce: Der israelische Publizist ist entsetzt über die rechtsradikale, faschistische Regierungskoalition, die in den kommenden Jahren sein Land beherrschen wird, und die Sprecherin des deutschen Außenministeriums kann sich die Be­nennung dessen, was sein Entsetzen auslöst, nicht zu eigen machen. Dass sie das als Angehörige der Diplomatengilde nicht kann, ist ein­zusehen. Aber haben sie und ihresgleichen, hat man in Deutschland überhaupt begriffen, dass man mit derlei »israelsolidarischen« Re­aktionen gerade den Untergang des Landes, das man realitätsfern noch immer als Zufluchtsstätte »der Juden« zu beschützen vorgibt, mutatis mutandis mitbewirkt und vorantreibt? 

Und eine Frage sei im Zusammenhang mit der von Dir erwähnten Feier anlässlich des Europatags, die man wegen der Teilnahme Ita­mar Ben-Gvirs absagte, zum Abschluss noch gestattet: Wenn nicht Itamar Ben-Gvir als Vertreter Israels bei der EU-Feier eingesetzt worden wäre, sondern ein Regierungspolitiker mit moderateren Anschauungen – in welcher Hinsicht wäre das offizielle Israel samt seiner ungestört betriebenen Okkupationsbarbarei mit den vorgeb­lichen Werten der EU vereinbar gewesen? Und wenn die Besatzungs­realität den EU-Werten nicht widerspricht, ist es nicht ein lediglich gradueller Unterschied, ob Ben-Gvir oder ein geschliffener Diplo­mat Israel beim EU-Festtag vertritt?

Anschauungen – in welcher Hinsicht wäre das offizielle Israel samt seiner ungestört betriebenen Okkupationsbarbarei mit den vorgeb­lichen Werten der EU vereinbar gewesen? Und wenn die Besatzungs­realität den EU-Werten nicht widerspricht, ist es nicht ein lediglich gradueller Unterschied, ob Ben-Gvir oder ein geschliffener Diplo­mat Israel beim EU-Festtag vertritt?»

Ende des Textes von Moshe Zuckermann.

Das Buch ist, für Israel-Interessierte, äusserst lesenswert.

Zu einem älteren Artikel von Christian Müller: «Israel darf und muss kritisiert werden – sagt Moshe Zuckermann»

Siehe auch: «Moshe Zuckermann: „Israel wollte nie Frieden“»

PS: Einige Stunden nach der Publikation dieses Artikels ging – unter anderen – auch diese Zuschrift ein:

«Lieber Christian Müller
Vielen Dank für den heutigen Beitrag auf globalbridge über die Kritik an Israel’s Vorgehen in Gaza und ob die Kritik antisemitistisch sei.
Wenn Sie aus Deutschland solche ablehnenden Zuschriften bekommen, sollen Sie hier – ebenfalls von einem Deutschen – eine völlig andere, nämlich unterstützende Zuschrift erhalten. Ich lese Ihre Beiträge seit Jahren, schätze Ihre kritische Position, weiss, wie fundiert Sie arbeiten, und kann nur hoffen, dass Sie sich von solchen ablehnenden Zuschriften nicht irritieren lassen. Sie haben eine lange Reihe ähnlich denkender Menschen hinter sich, eben auch viele nachdenkliche Israelis, die mit der Politik ihrer derzeitigen Regierung überhaupt nicht einverstanden sind und sich erhebliche Sorgen um Israel machen.
Wer immer Ihnen da aus Deutschland geschrieben hat, es ist offensichtlich, dass er Ihnen als Historiker und politischer Journalist nicht das Wasser reichen kann.
Und wenn es Sie auch bestärkt, sage ich Ihnen gern, dass ich die Empfehung Ihres Newsletters im Familien-, Bekannten- und Freundeskreis nicht nur fortsetzen, sondern verstärken werde. Aufklärung tut wieder einmal not, scheint es.
Auf ein besseres und etwas friedlicheres Neues Jahr!»

Dafür sei herzlich gedankt! Auffällig ist auch, dass Globalbridge.ch gestern und heute besonders viele Neuabonnenten des Gratis-Newsletters erhalten hat. Auch dafür herzlichen Dank! Das zunehmende Interesse an den auf Globalbridge.ch veröffentlichten Stimmen freut mich sehr.

Christian Müller