Die französische Zweiwochen-Zeitschrift «Le Point» macht darauf aufmerksam, dass wenn in den USA Donald Trump zum nächsten Präsidenten gewählt wird, Europa wieder auf sich selbst gestellt sein könnte. Auch gegenüber Russland. Wäre das nur negativ?

Ist Europa ohne Amerika verloren?

„Ein Vasallenstaat ist ein Staat, der gegenüber einem übergeordneten Staat oder Reich eine gegenseitige Verpflichtung hat, ähnlich dem Status eines Vasallen im Feudalsystem des mittelalterlichen Europas.“
Wikipedia

„Ein Verbündeter zu sein, bedeutet nicht, ein Vasall zu sein oder, dass wir nicht das Recht haben, für uns selbst zu denken.“
Emmanuel Macron

„Europa wird zum Vasallen der USA.“
European Council on Foreign Relations

„Die Europäer verhalten sich wie Vasallenstaaten der USA. Das sind zutiefst unpopuläre Regierungen in Europa, es gibt im Moment keinen populären Leader in Europa, sie verlieren eine Wahl nach der anderen.“ 
Jeffrey Sachs

„Wir sind nicht nur Partner, die Europäische Union und die Vereinigten Staaten sind gute Freunde.“
Ursula von der Leyen

„Es mag gefährlich sein, Amerikas Feind zu sein, aber Amerikas Freund zu sein, ist tödlich.“ 
Henry Kissinger

„Die NATO wurde gegründet, um die Sowjetunion draußen, die Amerikaner drinnen und die Deutschen unten zu halten“ 
Erster NATO-Generalsekretär Lord Hastings Lionel Ismay

Die US-Wahlen im November werden sicherlich das politische Ereignis des Jahres sein. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden Biden und Trump in einer Neuauflage der Wahl von 2020 gegeneinander antreten. Es sei denn, Trump wird von der Wahl ausgeschlossen: ihm wird vorgeworfen, die Proteste vom 6. Januar 2021 vor dem Kapitol in Washington angestiftet zu haben. Oder Joe Biden könnte von seiner Partei zugunsten eines jüngeren Kandidaten aus dem Rennen geworfen werden – was im Moment, trotz alledem, was man darüber schreibt, recht unwahrscheinlich erscheint.

Die amerikanischen Wahlen werden unweigerlich auch Auswirkungen auf Europa haben. Vor allem, wenn Donald Trump gewinnt. Das schwierige Verhältnis zwischen Trump und Europa ist bekannt und drehte sich vor allem um die Frage der Sicherheit. Trump deutete an, er wollte nicht für die Verteidigung Europas zahlen und wurde deshalb als „Isolationist“ verleumdet. Trump blieb in Europa und beim europäischen Establishment überhaupt nicht beliebt. Für Europa war es völlig unverständlich, wie eine Figur wie Trump gewählt werden konnte. Doch Politikern verzeiht man viele Dinge. Bill Clinton wurde verziehen, dass er im Oval Office des Weißen Hauses Sex mit einer Praktikantin hatte. George Bush Sohn wurde verziehen, dass er ohne Grund einen Krieg im Irak begonnen hat. Barack Obama wurde verziehen, dass er die meisten Drohnenangriffe durchführte, sogar in Pakistan, einem Land, mit dem sich die USA nicht im Krieg befanden – was dabei nicht störte, dass der erste schwarze Präsident in seinem ersten Jahr als Präsident mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Aber Trumps „Isolationismus“ sei eine Todsünde, die nicht verziehen werden kann. Trump sei das absolut Böse. Trump war ein Bruch mit dem System, er sagte sogar, er wolle aus der NATO aussteigen. Europa würde im Stich gelassen und müsste für sich selbst sorgen. All das waren natürlich künstlich aufgebauschte Ängste, denn Trump hat die Präsenz amerikanischer Soldaten in Europa nie in Frage gestellt. Als Trump 2020 besiegt wurde, sah es so aus, als ob die Welt zur Normalität zurückkehren könnte, als ob Europa und Amerika wieder Freunde sein könnten, Freunde wie früher, als ob nichts geschehen wäre. Die mögliche Wiederwahl Trumps wird die Frage nach der strategischen Autonomie Europas wieder aufwerfen. Zu den führenden Befürwortern dieser Idee gehört der französische Präsident Macron. 

Europa als Vasall

Macron sorgte letztes Jahr für Aufregung, als er nach einem Besuch in China sagte, Europa solle kein Vasall der Vereinigten Staaten sein. Unter anderem schrieb die britische Zeitung The Guardian, Macron habe mit seinen Kommentaren Ärger ausgelöst. Der deutsche Verteidigungsminister Pistorius bezeichnete Macrons Worte als „unglücklich“. Ein heikles Thema, hat man den Eindruck, wenn es so heftige Reaktionen auslösen kann. Macron ist weder De Gaulle noch ist er ein systemfeindlicher Mann, der mit dem Status quo brechen will. Und die NATO ist der Status quo, sie ist die Machtstruktur unserer Zeit. Und der Status quo darf nicht gebrochen werden. Transatlantische Strukturen und Organisationen haben Einfluss auf die gesamte europäische Politik, auch auf die Medien. Man kann sich zum Beispiel an eine grafische Darstellung der transatlantischen Strukturen in den Medien erinnern, die vor einigen Jahren in der Satiresendung Die Anstalt gezeigt wurde. Eine Darstellung, die nur schwer als bloße Verschwörungstheorie abgetan werden kann, etwas, das unwissende und leichtgläubige Menschen aufgrund ihrer Unwissenheit falsch interpretieren. 

Aber warum eine so unverhältnismäßige Reaktion, wenn jemand sagt, dass Europa sich nicht den Vereinigten Staaten unterordnen sollte? Der Konflikt in der Ukraine hat dies ebenfalls verdeutlicht. Europa sieht sich mit einem Krieg vor seiner Haustür konfrontiert, der durch den Wunsch der USA ausgelöst wurde, die Ukraine über kurz oder lang in die NATO aufzunehmen. Als ob dies das offensichtliche Schicksal der Ukraine und Europas wäre, gegen das es keinen Sinn gäbe, sich zu wehren, weil dies der natürliche Lauf der Dinge sei und nicht ein Prozess, der von konkreten Menschen abhängt, die konkrete Entscheidungen treffen. Die Geschichte sei bereits geschrieben, und es sei eitel und töricht, sich ihr zu widersetzen. 

Und so findet sich Europa in einem Krieg wieder, der nicht seinen Interessen entspricht, und hat den Weg des Krieges gewählt, indem es jede diplomatische Lösung ablehnte. Natürlich wird man darauf antworten, dass die These vom Krieg, der durch die NATO-Erweiterung ausgelöst worden sei, nur russische Propaganda ist. Aber es genügt, daran zu erinnern, dass der Krieg in der Ukraine nicht über Nacht entstanden ist, sondern dass ihm monatelange (gescheiterte) Verhandlungen um die Jahreswende 2021-2022 vorausgegangen sind, in denen es genau um die NATO-Erweiterung ging. Und Russland hatte seit mindestens 15 Jahren über seine roten Linien in Sachen Sicherheit gesprochen, am bekanntesten auf der Münchner Konferenz 2007, auf der Putin seine berühmte Rede hielt. Aber die Interessen Russlands zählten nicht. Was würden wir oder die Vereinigten Staaten sagen, wenn China sein eigenes Militärbündnis gründen und beispielsweise Mexiko oder Serbien einbeziehen würde? Der Westen wäre wütend. Aber was gehen uns die Interessen der anderen an? Das ist sicherlich eine sehr merkwürdige Interpretation der internationalen Zusammenarbeit.

Die amerikazentrierte Weltordnung

Nach Ansicht der Verfechter der pax americana – der Weltordnung, deren alleiniger Garant die USA seit 1989 sind – sind die Vereinigten Staaten die „unverzichtbare Nation“, um einen Ausdruck einer ehemaligen US-Außenministerin zu verwenden. Die Befürworter der pax americana argumentieren, dass die Alternative zu einer von den USA geführten Welt nicht eine multipolare Welt wäre, in der die Interessen und Stimmen aller berücksichtigt werden. Sie meinen, der Multipolarismus wäre eine Welt der Anarchie, des Chaos und der Konflikte. Die USA haben jedoch nie einen großen Hehl daraus gemacht, dass das Hauptmotiv ihrer Außenpolitik in der Wahrung der Hegemonie, des Status quo und der Erlangung der kompletten Vorherrschaft („full-spectrum dominance“) besteht. Im Jahr 1945, als Europa nach fünfeinhalb Jahren Krieg verwüstet war, verfügten die USA über 50 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts und sie trugen zur Schaffung einer Reihe von Organisationen bei (Weltbank, Internationaler Währungsfonds, UNO), in denen die amerikanische Dominanz institutionalisiert werden konnte. Heute ist die Macht der USA im Vergleich zu damals natürlich relativ gesehen geringer geworden, doch üben sie nach wie vor großen Einfluss in Europa und der übrigen Welt aus. Zu den wichtigsten Grundsätzen der US-Politik gehört, das Entstehen eines Rivalen zu verhindern, der die hegemoniale Stellung der Vereinigten Staaten gefährden könnte. Dies wird auch dadurch erreicht, dass die Beziehungen zwischen Europa und Russland sabotiert werden. Berühmt ist die These des amerikanischen Politikwissenschaftlers George Friedman, der die Verhinderung eines Bündnisses zwischen Deutschland und Russland – das in der heutigen Zeit ohnehin unmöglich ist – als das Hauptziel der amerikanischen Geopolitik bezeichnete.

US-EUROPA BEZIEHUNGEN AUF EINEN BLICK

Sicherheit – Es wird oft behauptet, dass Europa heute in Bezug auf seine Sicherheit vollständig von den Vereinigten Staaten abhängig wäre. Doch heute gibt es weniger als 65.000 amerikanische Soldaten in Europa. Die amerikanische Präsenz in Europa ist etwa so groß wie die rumänische Armee. Deutschland hat 171.000 Soldaten, Italien 165.000 und Frankreich, die größte Armee in Europa, mehr als 200.000. Sind die Vereinigten Staaten wirklich so unverzichtbar für die Sicherheit Europas? Sicherlich werden Kriege heute nicht mehr durch die schiere Zahl der Soldaten gewonnen.
Theoretisch verpflichten die NATO-Regeln jedes Mitgliedsland dazu, 2 % des BIP für die Verteidigung auszugeben. Viele haben sich im Laufe der Jahre darüber beschwert, dass Europa zu passiv sei und es die Vereinigten Staaten und den von ihnen bereitgestellten Sicherheitsschirm ausnutzen würde. Doch auch europäische Staaten verfügen über beträchtliche Militärbudgets. Das Vereinigte Königreich und Frankreich geben 68,5 bzw. 53 Milliarden Euro pro Jahr aus, was 2,2 % bzw. 1,9 % ihres BIP entspricht. Frankreich und England verfügen auch über ein riesiges Atomwaffenarsenal, das potenzielle Feinde abschrecken kann. Deutschland gibt ebenfalls 58 Milliarden Euro aus, was gemessen am BIP zwar weniger als 2% ist, aber angesichts der von Bundeskanzler Olaf Scholz im letzten Jahr angekündigten Zeitenwende werden die Militärausgaben auch in Deutschland noch steigen.

Siehe die Zahlen der US-Truppen in Europa hier.

Wirtschaft: Was den Handel betrifft, so ist das Handelsvolumen zwischen Europa und den USA (die Summe der Exporte und Importe) nur geringfügig höher als das Handelsvolumen mit dem Vereinigten Königreich. Was den Warenverkehr betrifft, so hat Europa heute ein größeres Handelsvolumen mit China als mit den USA. Wirtschaftliche Zusammenarbeit muss nicht gleichbedeutend mit Unterordnung sein.

Siehe einige Zahlen dazu auf Eurostat.

Strategische Vision: Die USA standen als Garant, insbesondere nach 1989, der Pax Americana und genossen einen unipolaren Moment. Sie waren die alleinstehende Weltmacht. Die Geschichte war zu Ende und viele glaubten daran. Viele wollen auch heute noch daran glauben und sehen eine multipolare, nicht-amerikanisch geführte Welt weiterhin als eine Bedrohung an, die unterdrückt oder um jeden Preis vermieden werden muss. Eine Welt ohne amerikanische Führung wäre eine Welt des Chaos und der Konflikte. Europa ist anscheinend nicht in der Lage, der amerikazentrierten Welt eine Alternative anzubieten.

Europäischer Deklinismus (Glaube an den Untergang der Gesellschaft) – amerikanischer Optimismus. Nach Jahrhunderten der Vorherrschaft und des Kolonialismus verlor Europa mit dem Zweiten Weltkrieg sein moralisches Recht, die Welt zu beherrschen. Aber in der Folge seien die Europäer, angewidert vom Krieg, zu Vegetariern in einer Welt von Fleischfressern geworden. Die amerikanische Führungsrolle sei daher nur eine natürliche, unvermeidliche Folge der neuen Weltanpassung.

Weltgeschichte und Schicksal

Die Dominanz der USA über Europa war das Ergebnis konkreter Ereignisse im historischen Kontext, nicht das Resultat des unvermeidlichen Verlaufs eines historischen, ideellen, geistigen und materiellen Prozesses à la Hegel oder Fukuyama. Die amerikanische Ära begann nach zwei Weltkriegen, die von Europa ausgingen, den beiden blutigsten Konflikten in der Geschichte der Menschheit, und dem Holocaust (auch dies sind Produkte der großen europäischen „Zivilisation“ – die Evangelisten der westlichen Werte sollten sich öfter daran erinnern). „Es gab eine doppelte Logik dahinter. Es gibt einen gewissen Paternalismus, da die Europäer nicht als reif genug angesehen wurden, um auf sich selbst aufzupassen und aufzuhören, sich gegenseitig zu bekriegen. Und dann gibt es eine wirtschaftliche Logik, die gleiche wie beim Marshallplan: Wenn wir nicht beim Aufbau Europas helfen, werden die Kommunisten ihre Hände im Spiel haben“, argumentierte der französische Journalist und Historiker Rémi Kauffer.

Aber die Geschichte hat weder 1945 noch 1989 aufgehört. Die Welt von heute ist nicht die Welt von 1945 und auch nicht die Welt des Kalten Krieges. Auch wenn einige uns das glauben machen wollen. Die Sowjetunion, die größte Bedrohung für Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, hat sich aufgelöst und mit ihr ihre Ideologie, die der kommunistischen Revolution.

Und die Vereinigten Staaten haben als Hegemon nicht gerade den Frieden garantiert. Die pax americana war ein rein europäisches Phänomen, in der übrigen Welt war das Zeitalter der Kriege mit dem Zweiten Weltkrieg nicht beendet. Im Gegenteil, die USA beteiligten sich an Konflikten, und sie entzündeten sie sogar, wie in Vietnam, wie im Irak und an vielen anderen Orten. Auch in der Ukraine gossen sie Benzin ins Feuer. Was Europa angeht, könnte man behaupten, dass achtzig Jahre Frieden und Zusammenarbeit ausreichen sollten, damit die überzivilisierten Europäer gelernt haben, Konflikte und Divergenzen von Interessen friedlich zu lösen und sich nicht für Krieg zu entscheiden. Doch gibt es noch viele, sehr viele, die darauf bestehen, dass Europa ohne den wohltuenden Schutz der Vereinigten Staaten verloren wäre. Die Europäische Union ist wahrscheinlich kein CIA-Projekt, wie einige behauptet haben, aber die wichtige Rolle der USA und ihrer Geheimdienste bei der Förderung der europäischen Integration ist grundlegend und unbestreitbar gewesen. Viele europäische Staaten, insbesondere in Osteuropa, scheinen heute bessere Beziehungen zu den Vereinigten Staaten als zu den anderen Staaten Europas zu haben.

Hobbes und Kant

Braucht die Welt einen Hegemon? Braucht die Welt ein Land, das stärker ist als andere? Der englische Philosoph Thomas Hobbes plädierte in seinem Hauptwerk, dem Leviathan, der in den turbulenten Zeiten der englischen Revolution geschrieben wurde, für die Herrschaft eines absoluten Monarchen. Nach der hobbesschen Vorstellung von der Welt als einem feindlichen Ort des Existenzkampfes, wo homo homini lupus, alle gegen alle sind, kann nur die Übermacht eines Hegemons für Ordnung sorgen. Es ist sicherlich schwierig, diese Vorstellung der Weltordnung mit dem Demokratiekult in Einklang zu bringen, der heute ständig zur Schau gestellt wird. Die Notwendigkeit eines Hegemons, eine äußerst pessimistische Vorstellung, lässt sich kaum mit der optimistischen Weltsicht einer freiwilligen und friedlichen Zusammenarbeit zwischen den Nationen, mit der Vorstellung von Menschenrechten und den Werten von Freiheit und Demokratie vereinbaren, im Sinne der Aufklärung à la Kant. 

Und welche Art von moralischer Führung kann Amerika nach Vietnam, Irak und Libyen haben? Aber das sollte keine Rolle spielen, würde man erwidern: Die Präsenz eines Hegemons ist notwendig, weil er für Ordnung sorgt, egal, ob es sich um das Römische Reich und die pax romana oder um Dschingis Khan und die pax mongolica handelt. Der Status quo ist immer richtig, einfach weil er da ist. Macht ist Recht. Ordnung muss sein. Schließlich geben die Mächtigen nur selten von sich aus und aus freien Stücken ihre Macht ab. Die Privilegierten, die Starken, haben eine eigene Stimme und können sprechen. Die Unterdrückten sprechen nicht.

Die Macht der Ideen

Die Vereinigten Staaten werden heute noch trotz allem als der Leuchtturm der westlichen Zivilisation angepriesen. Sie sprechen ständig von Demokratie und symbolisieren deshalb die Demokratie. Wer gegen die Vereinigten Staaten ist, ist gegen das Prinzip der Demokratie selbst. Und wie kann man gegen die Demokratie sein? Niemand will das. Es ist eine Politik der symbolischen Geste, der einfachen Worte. Niemand hat sich ein verführerischeres Konzept ausgedacht als Demokratie, Macht und Freiheit für alle, die „Regierung des Volkes, durch das Volk, für das Volk“. Die Realität sieht jedoch ganz anders aus. Die USA, das Land, das sich selbst mit der Demokratie identifiziert, ist im Westen das Land mit der größten sozialen Ungleichheit. Dies scheint die USA jedoch nicht daran zu hindern, weiterhin Einfluss auf viele andere Nationen zu nehmen.

Heute wird die Macht in erster Linie durch die Überzeugung von Hunderten Millionen Europäern erlangt, die weiterhin an die Vorherrschaft Amerikas und ihr Recht auf Machtausübung glauben. Schließlich ist Amerika vom Mars und Europa von der Venus, um einen Ausdruck aus einem berühmten Essay von vor einigen Jahren zu verwenden. Die Amerikaner seien energische und pragmatische Macher, die Europäer müde, depressive Meckerer und neigten dazu, zu viel nachzudenken, ohne jemals etwas entscheiden zu können. Das mag wie ein Klischee klingen, aber wie so viele Klischees läuft es Gefahr, wahr zu werden, wenn die Menschen anfangen, daran zu glauben. Die klassische sich selbsterfüllende Prophezeiung. Auch dies ist ein Ausdruck des Deklinismus, einer pessimistischen, defätistischen und fatalistischen Vorstellung von einem Europa, das ohne den Schutz und die Aufsicht der Vereinigten Staaten verloren wäre. Wie selbstmitleidig muss Europa sein, wie viel Selbstachtung muss es verloren haben, nachdem es keine Reaktion auf den Nord-Stream-Anschlag, den größten Akt der Industriesabotage in der Geschichte, gegeben hat? Auf dieser Selbstgeißelung, auf diesem Gefühl der Ohnmacht, haben die Vereinigten Staaten 80 Jahre lang ihre Vorherrschaft über Europa aufgebaut. Vielleicht ist es an der Zeit, aufzuhören, zu sagen und zu glauben, dass eine andere Weltordnung unmöglich ist, dass es keine Alternative zur amerikanischen Übermacht gibt, und an der Zeit zu versuchen, etwas zu tun, damit Europa sich von den Vereinigten Staaten lösen kann.

Siehe dazu auch: «Jetzt machen die Transatlantiker auf ‹du›» (von Christian Müller)