
Ist ein Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine nur eine Illusion?
(Red.) Heute so, morgen anders. Fortschritte? Rückschritte? Neue Probleme? Gibt es überhaupt noch Gemeinsamkeiten der wichtigsten Beteiligten, Russlands, der Ukraine, der USA und der EU? Nicht ohne Grund kann man sich fragen, ob es sich überhaupt noch lohnt, zum Thema Ukraine-Krieg Nachrichten zu hören. Aber unser Beobachter in Russland, Stefano di Lorenzo, kommt zu einem anderen Schluss. Es gibt einen Fortschritt: Man redet wieder miteinander. (cm)
Die Hoffnungen waren groß, doch die Chancen auf einen baldigen Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine scheinen vorerst gescheitert zu sein. Das Treffen in London, bei dem die Außenminister der USA, Frankreichs, Englands und Deutschlands mit der ukrainischen Delegation zusammentreffen sollten, fand nicht in der geplanten Form statt. Die Ukraine war keinesfalls bereit, den Verlust der Krim, die sie schon seit 11 Jahren nicht mehr kontrolliert, auch nur de facto anzuerkennen. Vor dem Treffen in London herrschte großer Optimismus. Auch in Russland. Aber vielleicht ist auch noch nicht ganz alles verloren.
Nach mehr als drei Jahren Konflikt hatte der jüngste Oster-Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine die Diskussionen über eine mögliche Einstellung der Feindseligkeiten unter Vermittlung der Vereinigten Staaten neu entfacht. Obwohl der Oster-Waffenstillstand nur 30 Stunden dauerte und es Berichten zufolge Verletzungen auf beiden Seiten gab, war er ein Zeichen der Offenheit für substanziellere Verhandlungen.
Am 19. April 2025 hatte der russische Präsident Wladimir Putin anlässlich des Osterfestes einen 30-stündigen Waffenstillstand verkündet. Die Ukraine stimmte zu, meldete aber die Fortsetzung der russischen Angriffe und stellte die Ernsthaftigkeit der Initiative in Frage. Das russische Verteidigungsministerium seinerseits sprach von fast fünftausend Verstößen der Ukraine gegen die Waffenruhe. Trotzdem führte dieser unperfekte Waffenstillstand zu einer deutlichen Verringerung der Beschüsse in den Konfliktgebieten und verschaffte der Zivilbevölkerung eine kurze Atempause.
Nach Ansicht vieler – etwas böswilliger – westlicher Beobachter sollte der Oster-Waffenstillstand jedoch nichts weiter als eine Täuschung Russlands gewesen sein. Ein Versuch, die zunehmend ungeduldige Trump-Administration zu besänftigen und Moskaus Interesse an Friedensverhandlungen zu demonstrieren.
Seit mindestens einem Jahr hatte Russland seine Bereitschaft zu Verhandlungen über den Ukraine-Krieg immer wieder bekundet. Doch im Westen meinten viele, das sei nur eine Farce. Mit Russland sei es ja per Definitionem unmöglich zu verhandeln.
Die letzten direkten Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine liegen nun schon drei Jahre zurück, als in den ersten Wochen des Krieges in Istanbul ein Abkommensvorschlag erarbeitet wurde — ein Abkommen, das für die Ukraine keine Gebietsverluste vorsah, wenn man die seit 2014 von Kiew nicht mehr kontrollierten Gebiete Krim und einen Teil des Donbass nicht betrachtet. Nach diesem Abkommen hätte die Ukraine aber ein neutraler Staat außerhalb der NATO bleiben sollen.
Doch nach mehreren Überarbeitungen und Änderungen des Entwurfs eines möglichen Vertrages zog sich die Ukraine aus den Verhandlungen zurück – nicht zuletzt aufgrund des Versprechens des Westens, dem es gelang, die Ukraine zu überzeugen, dass es mit bewaffneter Unterstützung des Westens möglich sei, Russland auf dem Schlachtfeld zu besiegen. Leider für die Ukraine entpuppten sich der große Hype um die Gegenoffensive 2023 und die Einnahme einiger Dörfer in der Oblast Kursk in Wirklichkeit praktisch als Selbstmordmissionen, die keine nennenswerten militärischen Ergebnisse brachten. Trotz alledem leistet die Ukraine weiterhin bis heute Widerstand.
Lange Zeit hatte die Ukraine die Möglichkeit eines Waffenstillstands vehement abgelehnt. Die Ukraine hatte immer gehofft, dass die Lieferung immer perfekterer Waffen durch den Westen – zunächst Himars-Raketen, dann Abrams- und Leopard-II-Panzer, Storm Shadow-Raketen, dann F-16-Kampfflugzeuge und jetzt möglicherweise Taurus-Raketen – den Ausschlag geben und Russland eine militärische Niederlage zufügen würde.
Dann, im März 2025, nach dem Streit im Weißen Haus zwischen Trump und dem US-Vizepräsidenten Vance auf der einen und Wolodymyr Selenskyj auf der anderen Seite, und nachdem die USA ihre Waffenlieferungen zeitweilig eingestellt hatten, kam plötzlich eine Wende. Die Ukraine erklärte sich bei dem Treffen in Dschidda offen für einen 30-tägigen Waffenstillstand. Die Waffenlieferungen aus den USA würden wieder aufgenommen. Trotz der deklarierten Offenheit Russlands für einen Dialog und sogar für einen Waffenstillstand war der Vorschlag von Dschidda in dieser Form aber inakzeptabel. Die Ukraine würde den Waffenstillstand lediglich dazu nutzen, ihre Wunden zu lecken und wieder aufzurüsten, so fürchtete man in Russland.
Der Kreml hat ja mehrmals erklärt, Russland bestehe auf einem Abkommen, das die Ursachen des Konflikts betrifft, und nicht nur auf einem vorübergehenden Waffenstillstand. Doch in den letzten Tagen schienen von Russland auch Signale zu kommen, die versöhnlicher waren. Der Kreml zeigte sich offen für einen weiteren Waffenstillstand vor der Aufnahme von Verhandlungen.
Zu den Friedensbedingungen Russlands gehören nach wie vor die Aufrechterhaltung der Kontrolle über die derzeit besetzten Gebiete und die Verpflichtung der Ukraine, nicht der NATO beizutreten. Von der Entmilitarisierung der Ukraine ist keine Rede mehr. Selbst der Entwurf des Istanbuler Abkommens von 2022 sah keine vollständige Entmilitarisierung der Ukraine vor.
Die Ukraine lehnt jedoch jegliche territorialen Zugeständnisse strikt ab. Und das, obwohl Selenskyj im vergangenen Dezember zugab, dass die Ukraine nicht über die Kräfte verfügt, um die verlorenen Gebiete militärisch zurückzuerobern. Donald Trump scheint die Sturheit der Ukraine nicht zu gefallen. So schrieb der amerikanische Präsident auf Truth Social: „Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj brüstet sich auf der Titelseite des Wall Street Journal mit den Worten: ‚Die Ukraine wird die Besetzung der Krim rechtlich nicht anerkennen. Hier gibt es nichts zu diskutieren‘. Diese Aussage ist sehr schädlich für die Friedensverhandlungen mit Russland.“
Westliche Medien verbreiten fragwürdige Zahlen über russische Kriegsopfer. Aber vor allem auch die Ukraine hat in den letzten drei Jahren enorme Verluste erlitten. Das Personalproblem des ukrainischen Militärs ist für alle sichtbar, unbestreitbar. Täglich patrouillieren Rekrutierungsoffiziere durch die Straßen der ukrainischen Städte, um Männer für den Einsatz an der Front zu holen, oft mit Gewalt. Zehntausende Männer haben das Land illegal schon verlassen, um nicht in die Armee aufgenommen zu werden. Aber bisher haben die ukrainischen Streitkräfte noch keine Niederlagen erlitten, die das Fortbestehen des Widerstands in Frage stellen würden.
Eine letzte große Militäroffensive?
In Russland sind viele der Meinung, Russland habe gegen die Ukraine nur halbherzig gekämpft, es habe nur einen kleinen Teil seines militärischen Potentials und Arsenals benutzt.
„Die Wirkung von Kampfhandlungen besteht nicht darin, die feindlichen Truppen zu töten, sondern ihren Geist“, schreibt der ehemalige Oberst und Militärexperte Michail Chodarenok in der russischen Online-Zeitung gazeta.ru. „Bleibt man bei der realistischen Einschätzung der Lage, so kann man sagen, dass dies bei den ukrainischen Streitkräften noch nicht erreicht wurde. Daher scheint es keine andere Möglichkeit zu geben, die offizielle Position Kiews zu den Fragen der Beendigung des Konflikts aufzuweichen, als dass die russischen Streitkräfte im Frühjahr und Sommer eine Kampagne mit rein offensivem Charakter und mit den entscheidendsten Zielen durchführen“, so der Experte weiter.
„Nur eine Reihe von vernichtenden Niederlagen der ukrainischen Streitkräfte kann in kürzester Zeit zum Abschluss von Friedensvereinbarungen führen“.
Es würde sich um eine russische Großoffensive handeln, die sich qualitativ von dem langsamen Vormarsch der Armee unterscheiden würde, der seit mindestens einem Jahr zu beobachten ist. So eine große russische Offensive wäre aber ein Grenzfall.
Auch im Westen haben viele unabhängige Beobachter, vor allem diejenigen, die der offiziellen Darstellung im Westen kritisch gegenüberstehen, seit mindestens einem Jahr eine bevorstehende russische Großoffensive angekündigt, die den Krieg in der Ukraine endgültig zugunsten Russlands beenden sollte. Doch ist diese Offensive aus vielen Gründen nicht zustande gekommen.
An eine rein militärische Lösung des Krieges in der Ukraine scheinen auch in Russland nicht viele zu glauben.
Die Rückkehr der Diplomatie
US-Präsident Trump wurde von seinen Kritikern für sein Versprechen, den Krieg in der Ukraine innerhalb von 24 Stunden zu beenden, heftig angegriffen und unendlich verspottet. Doch ist es der Trump-Administration alleweil gelungen, die diplomatischen Bemühungen um ein Friedensabkommen zwischen Russland und der Ukraine deutlich zu intensivieren. Das ist schon ein Erfolg. Seit 2022 hatten die USA und Russland kaum noch miteinander gesprochen.
Die Trump-Administration soll Russland bedeutende Zugeständnisse vorgeschlagen haben, darunter die Anerkennung der Krim als russisches Territorium und die Blockierung der Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO. Diese Vorschläge haben bei den Europäern Besorgnis ausgelöst. In der Ukraine riefen sie zum Teil Unzufriedenheit und Wut hervor. Doch die Ukraine ist seit Jahren von den USA abhängig, und nur dank den USA konnten die ukrainischen Kriegsanstrengungen aufrechterhalten werden. Auch in der Ukraine scheint ein Schimmer von Realismus zu dämmern: Der Krieg kann nicht ewig weitergehen. Die Ukraine ist nicht nur Selenskyj. Die Mehrheit der Ukrainer ist heute eher für Verhandlungen als für einen Krieg bis zum Tod. Auch unter ukrainischen Parlamentariern mehren sich die Rufe nach einem Verhandlungsfrieden.
Trotz der Schwierigkeiten gibt es also Anzeichen für Fortschritte. Am 19. April führten Russland und die Ukraine den größten Gefangenenaustausch seit Beginn des Konflikts durch, der von den Vereinigten Arabischen Emiraten vermittelt wurde.
In Russland klang vor einigen Tagen der berühmte Politologe Sergej Markow, Direktor des Instituts für politische Studien, einer russischen Denkfabrik, recht optimistisch: „Alles wird ziemlich schnell gehen. Das hängt damit zusammen, dass Trump am 30. April 100 Tage seiner zweiten Amtszeit als Präsident hat. Und er möchte irgendeine Art von Ergebnis erzielen. Deshalb bitten Trumps Leute seine Partner und Russland, Europa und die Ukraine, innerhalb dieser Frist ein Ergebnis zu erzielen“, schrieb Markow auf seinem Telegram-Kanal.
Aber das Treffen in London, wo die USA den Vorschlag eines Friedensabkommens präsentieren wollten, scheiterte noch bevor es begann. Die USA meinen sogar, sie könnten sich von den Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine komplett zurückziehen. Der Optimismus war übereilt. Doch es ist unmöglich, nicht zu bemerken, dass sich die Töne geändert haben. Jahrelang schien eine Einigung zwischen Russland und der Ukraine unmöglich. Jeder Versuch diplomatischer Öffnung gegenüber Russland wurde wütend verpönt. Viele im Westen hielten es für absurd, mit Putin zu verhandeln. Die Wiederaufnahme der Kontakte zwischen den USA und Russland zeigt jedoch, dass mit ein wenig politischem Willen eine Lösung für den Krieg in der Ukraine möglich ist. Es mag keine perfekte Lösung sein. Aber sie ist immer noch besser als ein Krieg bis zum bitteren Ende, den selbst die Ukrainer nicht mehr wollen.