Israels konsequente Ermordung der Menschen in Gaza geht unbehindert weiter
Monatelang hatten die „unerschütterlichen“ Partner (O-Ton US-Außenminister Antony Blinken „ironclad support“) der israelischen Regierung in Washington, Berlin und Brüssel den israelischen Regierungschef Benjamin Netanyahu und die israelischen Streitkräfte vor einer Bodenoffensive auf die Stadt Rafah im Süden des Gazastreifens gewarnt. Doch ungerührt begann Israel am 6. Mai 2024 mit seiner Bodenoffensive auf die Stadt. Zwei Monate später präsentiert das israelische Militär ausländischen Journalisten stolz das Ergebnis seines Angriffs: Rafah liegt in Schutt und Asche. Israelische Soldaten mit Sturmgewehr und Maske posieren zwischen den Trümmern für die Fotografen. Die UNO spricht von möglicherweise 50.000 Palästinensern, die dort noch ausharren. Zu sehen sind sie nicht.
„Alles ist Absicht“
Noch im Februar hatte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock über soziale und Medienkanäle die Welt wissen lassen, dass sich „1,5 Millionen Menschen (in Rafah) nicht einfach in Luft auflösen“ könnten. „Eine Offensive der israelischen Armee auf Rafah wäre eine humanitäre Katastrophe mit Ansage“, so Baerbock. Die Kinder müßten geschützt werden, Hilfsgüter müßten zu den Menschen gelangen.
In weiteren Äußerungen der deutschen Außenministerin machte sie klar, was (für sie und die Bundesregierung) das eigentliche Problem in Rafah sei. Es gebe ein „unglaubliches Netz der Terrororganisation Hamas“, die die Bevölkerung zu „menschlichen Schutzschilden“ mache. „Wir stehen vor einem unglaublichen Dilemma, dass sich Terroristen ganz bewusst hinter Menschen, hinter Kindern, hinter Müttern, hinter Großeltern verstecken“, so Baerbock laut einem ARD-Bericht. Das „Drehbuch des Terrors“ dürfe nicht aufgehen. Gleichwohl gelte der „Kampf dem Terrorismus, nicht der unschuldigen Zivilbevölkerung.“ Israel solle „sichere Korridore“ einrichten, das „Recht auf Selbstverteidigung“ sei kein Recht auf Vertreibung.
Gleichzeitig plante Israel vor den Augen der Welt 15 Zeltlager für jeweils 25.000 Menschen aus Rafah, die von Israel aufgefordert worden waren, die Stadt zu verlassen. Tausende Lastwagen mit Hilfsgütern warteten auf der ägyptischen Seite des Grenzübergangs Rafah vergeblich auf Durchfahrt. Israel verweigerte das. Stattdessen wurden schließlich über einen von den USA gebauten Pier Lebensmittel über das Meer aus Zypern gebracht, wofür die „unerschütterlichen“ Partner Israels in Washington, Berlin und Brüssel bezahlten. Bezahlt wurde und wird auch für eine Hilfsorganisation namens „World Central Kitchen“, die sich rühmt, immer „die ersten an der Frontlinie zu sein“, um das „universelle Recht auf Nahrung“ für die Menschen zu gewährleisten. Dass in Gaza das „universelle Recht auf Leben“ der Menschen nichts wert ist, erfuhr die Organisation, als am 1.4.2024 sieben ihrer Mitarbeiter bei einem gezielten israelischen Angriff getötet wurden.
Ein „Versehen“, bedauerte Netanyahu. Die offizielle Zahl der Toten lag zu dem Zeitpunkt bei mehr als 32.600. Von den humanitären Mitarbeitern der UN in Gaza waren bereits 175 bei den israelischen Angriffen getötet worden und nur wenige Tage später, am 5. April, war die Zahl der getöteten humanitären Helfer laut UN auf 196 gestiegen.
Trotz Mahnungen, trotz Anordnungen des Internationalen Gerichtshofs (Den Haag), trotz UN-Resolutionen, die einen Waffenstillstand forderten, begann die israelische Armee am 6. Mai ihre „begrenzte“ Offensive auf Rafah. Die mahnenden Stimmen der „unerschütterlichen“ Partner Israels verstummten. Westliche Medien berichteten nur noch vereinzelt über das Geschehen in Gaza – das Morden ging weiter.
Rafah: Schutt und Asche
Zwei Monate später hat das israelische Militär nun ausländischen Journalisten das Ergebnis seines Angriffs auf Rafah präsentiert: Schutt und Asche. Israelische Soldaten mit Sturmgewehr und Maske posieren zwischen den Trümmern für die Fotografen. Nach Angaben der UN könnten sich noch 50.000 Menschen in der zerstörten Stadt aufhalten, auf den Bildern der Fotografen – die der Autorin zugänglich sind – sind sie nicht zu sehen.
Wo auch immer die 1,5 Millionen Menschen aus Rafah sein mögen, sie werden weiter täglich angegriffen. Täglich werden im gesamten Gazastreifen Zeltlager, Notunterkünfte in Schulen, Menschen in bereits zerbombten Ruinen und Flüchtlingslagern von der israelischen Armee bombardiert. Täglich sterben Dutzende Menschen, täglich verlieren mindestens 10 Kinder durch die Angriffe Arme, Beine, Hände, Füsse.
Täglich ordnet das israelische Militär neue Evakuierungen an und zwingt Tausende Menschen erneut zur Flucht. Aktuell sollen die Menschen in Gaza-Stadt zum wiederholten Mal den Weg für die israelischen Angriffe freimachen, davor war es Khan Younis, die Flüchtlingslager im gesamten Gazastreifen sind seit 9 Monaten dem mörderischen Kreislauf ausgesetzt. Der israelische Angriff auf Rafah scheint in Washington und Berlin – wo die größten der „unerschütterlichen“ Waffenlieferanten des barbarischen Vernichtungsfeldzugs regieren – vergessen.
Die „Massenmordfabrik“
Das israelische Internetportal www.972.mag.com hat zusammen mit „Local Call“ interne Informationen über das militärische Vorgehen der israelischen Armee gegen die Bevölkerung im Gazastreifen zusammengetragen. Die Untersuchung basiert auf Gesprächen mit „sieben aktuellen und ehemaligen Angehörigen des israelischen Geheimdienstapparates – einschließlich des militärischen Geheimdienstes und der Luftwaffe, die an den israelischen Angriffen auf den belagerten Küstenstreifen beteiligt waren.“ Hinzu kommen palästinensische Zeugenaussagen, Daten und Dokumentationen aus dem Gazastreifen, offizielle Erklärungen des Sprechers der israelischen Streitkräfte und von verschiedenen israelischen Institutionen.
Der Bericht ist in englischer Sprache verfasst und trägt den Titel „Eine Fabrik für Massenmorde“: Israels kalkulierte Bombardierung des Gazastreifens“ und beschreibt die genehmigten israelischen Luftangriffe auf nichtmilitärische Ziele im Gazastreifen. „Der Einsatz eines Systems der künstlichen Intelligenz“ hätten es der israelischen Armee ermöglicht, „einen der tödlichsten Angriffe auf die Palästinenser seit der Nakba 1948“ zu führen.
Wer wissen will, wie die israelische Armee gegen die palästinensische Bevölkerung vorgeht, muss den Bericht lesen. Alles geschieht mit Wissen und Zustimmung der Regierungen, die bis heute „unerschütterlich“ an der Seite Israels stehen.
„Nichts geschieht zufällig“ wird eine der Quellen aus der israelischen Armee in dem Bericht zitiert. „Wenn ein dreijähriges Mädchen in einem Haus in Gaza getötet wird, dann deshalb, weil jemand in der Armee entschieden hat, dass es keine große Sache ist, sie zu töten. Dass es den Preis wert ist, um (ein anderes) Ziel zu treffen. Wir sind nicht die Hamas. Das sind keine zufälligen Raketen. Alles ist beabsichtigt. Wir wissen genau, wie viel Kollateralschaden es in jedem Haus gibt.“
Die Ziele der israelischen Luftwaffe werden demnach „grob“ in vier Kategorien eingeteilt. „Taktische Ziele“ bezeichnen demnach Zellen von Kämpfern, Waffenlager, Raketenwerfer usw. „Untergrund Ziele“ bezeichnen Tunnel, einschließlich der darüber befindlichen Gebäude. „Energieziele“ (original: power targets) bezeichnet Hochhäuser, auch hohe Wohnblocks mitten in Städten, Universitäten, Banken, Regierungsgebäude). „Familienhäuser“ oder „operative Häuser“ bedeutet, dass private Wohnhäuser zerstört werden können, um eine einzige Person zu töten, die (vermutlich) der Hamas oder dem Islamischen Dschihad angehört. Der Sprecher der israelischen Streitkräfte erklärte am 11. Oktober 2023, dass in den ersten fünf Tagen des Angriffs auf Gaza die Hälfte der Ziele – 1.329 von 2.687 – Hochhäuser, Wohnblocks, Universitäten, Banken Regierungsgebäude waren.
Der Grund für die hohe Zahl an zivilen Opfern auf palästinensischer Seite ist dem Bericht zufolge ein System der Künstlichen Intelligenz namens „Habsora“, auf Deutsch: „Das Evangelium“. Dieses System, so ein ehemaliger Geheimdienstoffizier, sei im Wesentlichen eine „Massenmordfabrik“. Auch wenn nur eine vermutliche Zielperson in das System eingegeben war, wurden Dutzende andere Personen, die sich in der Umgebung befanden, getötet. Auf diese Art wurden ganze Familien ermordet und ganze Wohnviertel vernichtet.
Asmaa Ajour, drei Monate alt
Der katarische Nachrichtensender Al Jazeera berichtet rund um die Uhr von Toten, Verletzten und Vertriebenen in Gaza. Unter den vielen tragischen Berichten fand auch das Schicksal eines drei Monate alten Babies dieser Tage Aufmerksamkeit. Die kleine Asmaa Ajour hatte als Einzige den Angriff auf das Haus von Verwandten überlebt, berichtete seine Großmutter Um Ramzi Qwaider, die das Kind in das Kamal Adwan Krankenhaus (Nordgaza) bringen konnte.
Die Familie des Mädchens war wenige Tage zuvor aus dem Stadtviertel Tuffah im östlichen Teil von Gaza-Stadt vor den israelischen Angriffen in den Westen der Stadt zu Verwandten geflohen, in den Stadtteil Sina. Die Familie war dem israelischen Aufruf gefolgt, Al Tuffah zu verlassen. Kaum angekommen habe die israelische Armee auch den Stadtteil Sina bombardiert, so die Großmutter. „Die Mutter (von Asmaa), der Vater, die Schwestern, Cousinen und Onkel“ seien bei dem Angriff getötet worden. Ihr Mann, der Großvater von Asmaa, habe das Baby im Schoß seiner toten Mutter gefunden. Dort habe das Kind 12 Stunden überlebt, bis der Großvater, trotz anhaltendem Beschuss durch die israelische Armee, das Haus erreichen konnte. „Was wird aus diesem Waisenkind“, so die ratlose Großmutter. „Ohne Vater und Mutter, wie kann es allein in dieser Welt leben?“
Die Toten in Gaza zählen: schwierig aber notwendig
So ist eine “Korrespondenz” in dem britischen medizinischen Fachblatt The Lancet überschrieben, die Anfang Juli veröffentlicht wurde. Der kurze Text befasst sich mit der schwierigen Aufgabe des palästinensischen Gesundheitsministeriums (Gaza), die Opferzahlen des israelischen Angriffs auf den Küstenstreifen zu dokumentieren.
Israel weist die Zahlen regelmäßig zurück. Westlichen Medien stellen die Richtigkeit in Frage, indem sie das Gesundheitsministerium mit dem bewaffneten Arm der Hamas mehr oder weniger gleichstellen und die israelische Vorgabe übernehmen, indem sie von „das von der Hamas kontrollierte Gesundheitsministerium in Gaza“ sprechen. Die Vereinten Nationen übernehmen die Zahlen des Gesundheitsministeriums unter dem Vorbehalt, dass die Zahlen nicht überprüft werden können, da das Gebiet eine Kriegszone ist und viele Opfer nicht geborgen werden können. Die UNRWA, das UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge, dokumentiert in ihren wöchentlichen Berichten – unter Berufung auf teilweise eigene Quellen vor Ort – so genau wie möglich die Angriffe und Opferzahlen. Israel will die UNRWA als „Terrororganisation“ verbieten.
In dem Text in The Lancet heißt es, Untersuchungen der jüngsten Konflikte hätten ergeben, dass die Zahl der indirekten Todesfälle „3- bis 15-mal so hoch“ sein könne, wie die Zahl der direkten Todesopfer. Gehe man von den gemeldeten Todesfällen in Gaza (zum Zeitpunkt der Veröffentlichung am 5.Juli waren es 37.396, kl) aus und wende eine „vorsichtige Schätzung von vier indirekten Todesfällen an“ könnten in Gaza von „bis zu 186.000 oder sogar noch mehr Todesfällen“ gesprochen werden. Bei einer Bevölkerung von 2,375.359 Einwohnern (2022) würde das „7- 9 % der Gesamtbevölkerung des Gazastreifens entsprechen“.
Am 10. Juli 2024 ist die Zahl der getöteten Palästinenser im Gazastreifen auf 38.295 gestiegen.
Siehe dazu auch das Interviev mit dem israelischen Historiker Amos Goldberg: in der rechten Spalte unter «Empfohlene Artikel auf anderen Plattformen»