Israel ist kein moderner Rechtsstaat! Ein Appell!
(Red.) Roger Köppel, professioneller Journalist und Herausgeber der Schweizer Wochenzeitung «Weltwoche», verdient echtes Lob. Seine Zeitung ist in der deutschsprachigen Schweiz die einzige unter den Großen, in der in Sachen West-Ost-Politik verschiedene Ansichten und Stimmen veröffentlicht werden. Roger Köppel hat mit dieser seiner offenen Politik für verschiedene Meinungen viele neue Sympathisanten gewonnen, auch in linken Kreisen. Was allerdings nicht heißt, dass er selber nicht auch mal ziemlich falsch liegen kann: zum Beispiel, wenn er glaubt und schreibt, Israel sei ein Rechtsstaat. Das hat denn auch die Zürcher Wissenschaftlerin Verena Tobler, die Israel und Palästina seit vielen Jahren genauestens beobachtet, dazu bewogen, genau aufzuzeigen, warum Israel das Attribut «Rechtsstaat» mitnichten verdient. – Ab Nr. 4 erläutert Verena Tobler in einer nicht ganz einfach zu verstehenden Sprache, wie sich unsere Gesellschaft generell ändern bzw. weiterentwickeln sollte. (cm)
Roger Köppel hat am 21.10.23 in der «Weltwoche» (1) behauptet, Israel sei ein Rechtsstaat. Er ist mit dieser Meinung nicht allein. Doch sehen wir genauer hin! Nach internationalen Kriterien ist Israel kein moderner Rechtsstaat. Wer noch genauer hinsieht, realisiert, dass in Netanyahus Israel derzeit sogar faschistische Kräfte mitregieren. Und wer um die Manöver weiss, welche die USA und die NATO seit Dekaden betreiben, wird sich darüber nicht wundern. Deshalb dieser Appell.
Israel ist aus den folgenden Gründen kein moderner Rechtsstaat
1. Israel hat bis heute keine Verfassung!
Das hat drei folgenschwere Konsequenzen (2):
1. Ohne eine Verfassung bleibt die Knesset allmächtig: eine Art permanente verfassungsgebende Versammlung. Eine Verfassung würde der Politik hingegen Grenzen auferlegen.
2. Als „Staat des jüdischen Volkes“ hat Israel seine Grenzen nie definiert: Es gibt kein bezeichnetes Staatsgebiet.
3. Das Verhältnis zwischen Staat und Religion ist unklar: Ist Israel ein theokratischer oder ein säkularer Staat?
Für viele orthodoxe Parteien ist die Thora die „jüdische Verfassung“. Siedlerbefürworter Bezalel Smotrich und heutiger Finanzminister hat erklärt, er wolle einen halachischen Staat, in dem das Recht des überlieferten Judentums gilt. Religions- und Volkszugehörigkeit sind derart eng miteinander verknüpft, dass Israel inzwischen ein Apartheidstaat ist.
2. Israel eignet sich über Krieg und in kolonialer Manier ständig neues Land an!
Israel dehnt sein Territorium seit Dekaden über den Siedlungsbau und die Siedler aus. Illustriert sei das mit Zahlen aus der Zeit vor der Hamas-Attacke, damit sie nicht mit Israels Verteidigungsrecht pariert werden können. Beispielhaft die Daten der OCHA, dem «Office for the Coordination of Humanitarian Affairs» der UNO, vom 21.9.23: Die Siedlergewalt in der Westbank hat in den letzten zwei Dekaden zu genommen – sie hat sich seit 2016 nahezu verzehnfacht.
2023 kam es in den ersten acht Monaten zu drei Siedlervorfällen pro Tag: „This is the highest daily average of settler-related incidents affecting Palestinians since the UN started recording this data in 2006.“ 2022 waren es zwei, 2021 war es einer pro Tag.
Ebenfalls beispielhaft, aber auf 63 palästinensische Hirten-Gemeinden beschränkt: Im August 2023 erhob die UN und ihre Partnerorganisationen deren humanitäre Bedürfnisse: ca. 10 000 Menschen – davon 24% Frauen, 51% Kinder. Ausgewählt wurden diese Gemeinden wegen ihrer höheren Verwundbarkeit, der Nähe zu den Siedlungen und dem Grad, in dem sie der Siedlergewalt ausgeliefert sind. Ungefähr 93% der Gemeinden meldeten eine zunehmende Häufigkeit der Siedlergewalt; 90% berichteten, dass auch die Schwere der Siedlergewalt seit 2022 zugenommen hat.
Die häufigsten Siedler-Attacken haben die folgenden Formen:
Wer den Hamas-Terrorismus beklagt, darf vom Siedlerterrorismus nicht schweigen!
In der Westbank wurden im Jahr 2022 in 28 Gemeinden ca. 12% der Bevölkerung von ihrem Residenzort entweder direkt durch Siedlergewalt vertrieben oder aber verdrängt, weil ihnen die Siedler den Zugang zu ihrem Land versperrten. Viele wanderten in die Städte oder in rurale Gebiete ab, wo sie sich sicherer fühlten. Die meisten kamen aus Ramallah, Nablus oder Hebron, wo die Zahl der israelischen Siedlungen am höchsten ist. Vier Gemeinden wurden komplett verdrängt, zwei davon während der Erhebung geräumt. Sechs weitere Gemeinden wurden seit 2022 von 50%, weitere sieben von 25% der Bewohner verlassen. Entsprechend hat die Bevölkerungszahl im Westjordanland abgenommen.
Israel verdrängt und vertreibt die palästinensische Bevölkerung in der Westbank systematisch!
Dank einer Erhebung im Jahr 2013 sind Vergleichsdaten für 41 Gemeinden vorhanden: 24 Gemeinden berichten, dass ihre Bevölkerung um 39% geschrumpft ist; in allen 41 Gemeinden war das Bevölkerungswachstum 10% niedriger als das projizierte Wachstum, das auf die durchschnittliche Wachstumsrate in der Westbank abstellt. Nahezu alle Gemeinden rapportieren, dass die Zahl ihres Viehs und ihrer Viehherden zurückgegangen ist, mindestens 90% berichten von einem Rückgang des von ihnen kultivierten Graslandes. 79% der Gemeinden haben keinen Zugang mehr zu ihrem Land, 60% nannten als Gründe die gewaltsame Landübernahme durch Siedler sowie den Ausbau der Siedlungen.
3. Israel ist aus zwei weiteren Gründen kein moderner Rechtsstaat
Israel ignoriert seit 75 Jahren alle Beschlüsse und Resolutionen der UNO
Ich will kein weiteres Mal alle Verstösse Israels seit 1948 auflisten. Auch nicht die Zahl der Resolutionen, welche die USA mit einem Veto verhindert haben – jene Grossmacht, in der jüdische Milliardäre mit ihren Spenden massiv auf die Präsidentschaftswahlen einwirken. Hingegen sei hier auf dreierlei verwiesen:
• Seit 16 Jahren hat Israel den Gazastreifen abgeriegelt und damit das grösste Ghetto bzw. Konzentrationslager aller Zeiten geschaffen ein klarer Verstoss gegen das humanitäre Völkerrecht. Dabei hat Israel die Menschen im Gaza dafür bestraft, dass dort die Hamas 2006 – nota bene demokratisch! – die Wahlen gewonnen hat.
• Der israelische Staat hat gleichzeitig die Verbindung zwischen dem Gazastreifen und dem Westjordanland gekappt, so dass der einst von der UN versprochene palästinensische Staat gar nie entstehen konnte. Das Gerede, das die USA und die EU über die Zwei-Staaten-Lösung führen, ist lächerlich und extrem verlogen.
• Mit dem Vorgehen im Westjordanland verstösst Israel gegen das internationale Besatzungsrecht: Der Besatzer hat nämlich die Pflicht, das besetzte Land im Interesse von dessen Bevölkerung zu verwalten. Israel macht das pure Gegenteil! Zwar hat Israel die Verträge zum Humanitären Völkerrecht nie unterschrieben. Trotzdem gilt:
Israel verletzt seit vielen Dekaden das humanitäre Völkerrecht aufs Schwerste!
Vom Restland, das die UNO 1947 der palästinensischen Bevölkerung zuteilte, hat Israel sich weitere Teile kriegerisch angeeignet und hält heute sogar den kläglichen Rest unter Kontrolle oder besetzt. So erleiden die Palästinenser Tag für Tag, dass ihre Brunnen zerstört, ihre Häuser abgerissen, ihre Felder angezündet, ihre Olivenbäume ausgerissen werden, dass ihnen das Wasser gekappt, die Verbindung zu ihren Feldern unterbrochen, die Ernte gestohlen wird.
Und was tut Europa? Da wo der Antisemitismus erfunden und der Holocaust verübt wurde, sehen die heutigen Machtträger schier alle weg. Und wer auf Israels Fehlverhalten aufmerksam macht, wird als Antisemit gebrandmarkt.
Als ethnisch-religiöser Staat ist Israel das pure Gegenteil von einem modernen Rechtsstaat
Nathan Sznaider (3), Professor für Soziologie in Israel, hat dieses Dilemma präzis gefasst:
„Es gibt wenige Staaten, die ihre Existenz so sehr der internationalen Moralität verdanken wie Israel. Zwar ist das Bestreben, Juden vor Antisemitismus zu schützen, eine der Existenzgrundlagen des Staates Israel. ‚Nur ein starkes Israel kann einen erneuten Holocaust verhindern’ wurde zu einem der Pfeiler der israelischen Identität. Aber die Verurteilung des Holocaust und des ihn begründenden Antisemitismus verdankt seine Kraft einer Revolution der globalen Moralität. Jenseits der zionistischen Bemühungen der Juden, sich selbst als Nation zu definieren, hat die jüdische Nation ihre internationale Legitimation durch diese weltweite Verurteilung erhalten. Ohne sie kann sich Israel nur auf die gemeinsame Religion oder ethnische Identität berufen, eine Legitimationsbasis, die vom Großteil der Welt nicht akzeptiert wird.» Aber: «Just weil Israels staatliche Legitimität in der globalen Moralität des Anti-Antisemitismus verankert ist, wird Israel mit höheren moralischen Maßstäben gemessen als andere Staaten. Durch den Holocaust wurde Antisemitismus zum Gesinnungsverbrechen par excellence, damit aber zu einem Verbrechen, das auch Verpflichtungen an die ehemaligen Opfer stellt.“
Sznaider ist indes überzeugt: Israel braucht für seinen Zusammenhalt die Klammer seiner «ethnischen Identität».
«Ein von Liberalen angestrebter, säkular neudefinierter Staat kann die disparaten jüdischen Bevölkerungsgruppen nicht integrieren. Aber der jüdische Staat hat kein Konzept für seine Araber. Dass ihm von außen die Legitimität mehr und mehr abgesprochen wird, stärkt wiederum die Kohäsion im jüdischen Staatsvolk.»
Das heisst: Israel kann „seine“ Juden aus allen Herrenländern nur dank dem Gemisch aus einer religiösen und einer mythisch überhöhten völkischen Zugehörigkeit integrieren. Als brillanter Analytiker liefert uns Sznaider aber ein träfes Konzept, mit dem dieses konfuse Amalgam verstanden und aufgelöst werden kann: «die ultimative Reflexivität».
Für Sznaider sind liberale Prinzipien «auch nichts anderes als Vorurteile, gleich den Grundvoraussetzungen aller Weltanschauungen. So lange Liberale nicht verstehen, dass das, was vor sich geht, nicht ein Kampf der vorurteilsvollen Religion gegen wertfreie Wissenschaft ist, sondern ein Kampf zwischen verschiedenen Wert- und Weltanschauungen», sind sie so intolerant wie ihre Gegner und blind obendrein.» Er ist überzeugt, dass die Liberalen, weltweit und jene in Israel, sich irren, wenn sie glauben, dass wir uns «ständig der Aufklärung nähern, (…) uns langsam, aber sicher aus unseren partikularistischen Standpunkten zu einem wertfreien Universalismus der Wahrheiten erheben, der von allen verstanden und erkannt wird.» Denn jede Perspektive basiert auf unhinterfragten Voraussetzungen, auch die eigene. Erst, wer das erkennt, «kann zu einem neuen Toleranzniveau vorstoßen». Nur wenn Liberale ihre eigene Irrationalität als die Basis des modernen Glaubens verstehen, realisieren sie, «wieviel Opferbereitschaft damit verbunden ist, diesen Glauben oder auch nur Teile davon aufzugeben», und können sie «verstehen, wieviel Opferbereitschaft sie von ihren Gegnern einfordern, ohne dass diese hoffen können, dafür entlohnt zu werden.» Diese Fähigkeit, sich «wirklich von außen her zu betrachten», nennt er «ultimative Reflexivität»: Sie erst erlaubt, «wirkliche Kompromisse schließen, nicht aus Schwäche heraus, sondern aus wahrem Verständnis. Das ist echter Liberalismus und kein liberaler Fundamentalismus: “eine zweite Aufklärung“ sozusagen.»
Ich stimme Professor Sznaider in dieser Sache voll und ganz zu. Noch wichtiger: «Ultimative Reflexivität» könnte nicht nur die Konfusion im Staat Israel lösen, sondern der Menschheit jene Quadratur des Kreises gestatten, mit der sich ideologische Kriege künftig verhindern liessen. Allerdings nur, wenn das Konzept konsequent zu Ende gedacht wird. Ich komme am Schluss darauf zurück.
4. Die wichtigste Frage, die sich stellt: Ist Israel derzeit ein faschistischer Staat?
Der Sozialwissenschafter Berthold Franke (4) fordert, den Faschismusbegriff so zu aktualisieren, dass er für heutige Politikverhältnisse brauchbar wird. D’accord! Franke hält zwar den Nationalsozialismus für «die extremste und destruktivste Variante des europäischen Faschismus», klärt aber nicht, was das konkret heisst. Seine eigene Analyse stützt er auf den Italo-Faschismus ab: auf jenes „Rückwärts in die Zukunft“, mit dem Mussolini Handwerker und Kleinbürger mobilisiert, Zukurzgekommene und Benachteiligte abgeholt haben soll – von Franke treffend beschrieben. Allerdings mit der Absicht, den zeitgenössischen Faschismus Putins Russland zuzuschreiben. Was für den deutschen Faschismus typisch war, lässt Franke dagegen im Dunkeln. Das irritiert! Hier mein eigener Klärungsversuch:
1. Der nationalsozialistische Faschismus war rassistisch! Hitler erhob das deutsche Volk in den arischen Adelsstand. Es galt, die Volksgemeinschaft der Arier herzustellen und rein zu halten: eine Ideologie, die Heidegger und viele Gebildete aktiv mitgetragen haben. Denn leider schützt Bildung nicht vor Torheit, vor Fanatismus, vor dem Faschismus.
2. Der nationalsozialistische Faschismus war auf das Vernichten programmiert! Es galt, alles auszumerzen, was unarisch war: Juden, Homosexuelle, körperlich und geistig Behinderte. Auch Geistliche und KommunistInnen wurden umgebracht – kurz: all jene, die sich der menschenverachtenden faschistischen Ideologie entgegenstellten.
3. Der nationalsozialistische Faschismus setzte auf gewalttätige Expansion! Der Russlandfeldzug zielte auf Land- und Rohstoffreserven, wurde aber rassistisch abgesegnet: Es galt, die minderwertigen Slaven auszumerzen. Das hat ca. 27 Millionen Sowjetbürgern das Leben gekostet: 14.8 Millionen (!!!) davon gehörten zur Zivilbevölkerung. Viele wurden beim Vormarsch der Reichswehr erbarmungslos getötet, andere sind im Kampf um Stalingrad verhungert.
Der deutsche Faschismus gründete in völkisch-expansiven Grossartigkeits- und Gewaltvorstellungen!
Und just diese Form des Faschismus ist heute wieder „en vogue“: In Israel nicht rassistisch, sondern völkisch-religiös motiviert. Das ist nicht minder verheerend. Wir finden diese Faschismusform aber auch in Indien und in der Ukraine.
• Zu Israel nur soviel: Yoav Gallant sagte am 9. Oktober 2023 (5): “I have ordered a complete siege on the Gaza Strip. There will be no electricity, no food, no fuel, everything is closed. We are fighting human animals, and we are acting accordingly.” Damit fordert der Verteidigungsminister klar zu einem Genozid auf!
• In Modis Indien ruft die Hindutwa dazu auf, Muslime anzugreifen, zu vertreiben, zu töten. Der Jewish Current (6) mahnt am 28.6. 2023 die ideologische Verwandtschaft zwischen der Hindutwa und jener Ideologie in Israel an, die von den jüdischen Siedlern bzw. vom religiös-orthodoxen und aggressiven Judentum inspiriert ist. In den USA orientiert sich die „indienstämmige“ Modi-Anhängerschaft am American Jewish Committee (AJC) und am American Israel Public Affairs Committee (AIPAC). Die Hindu American Foundation (HAF) meldet, dass sie mit der Anti-Defamation League (ADL) und dem AJC kooperiert, was sowohl Interventionen am US-Bundesgerichtshof als auch im Kongress betrifft.
• Selbstverständlich ist die Bevölkerung in der Ukraine so wenig faschistisch wie jene in Israel. Doch haben die Faschisten in der Ukraine im Zweiten Weltkrieg eng mit Nazi-Deutschland zusammengearbeitet. Bis heute werden sie als Helden verehrt. Und faschistische Gruppierungen sind in der Ukraine nach wie vor aktiv und stark. 2014 stürzten sie, mit finanzkräftiger Hilfe von Victoria Nuland, der Lady MacBeth der USA, den demokratisch gewählten Präsidenten Janukowitsch und legten Feuer im Gewerkschaftshaus in Odessa. Viele der Geflüchteten verbrannten – bis heute wurde niemand dafür bestraft. Faschistische Bataillone führten den Krieg gegen die Donbass-Republiken: über 10 000 „minderwertige“ russische Ukrainer und Ukrainerinnen wurden getötet – so genau weiss das niemand, weil Tote Teil der Kriegspropaganda sind.
Sicher ist: Die Ukraine hat das MINSK-2-Abkommmen nie eingehalten. François Hollande und Angela Merkel haben öffentlich bekannt, dass sie das Abkommen nur unterzeichneten, um Zeit für die Aufrüstung der Ukraine zu gewinnen. Das Abkommen, immerhin ein völkerrechtsgültiger Vertrag, sprach dem russischsprachigen Teil Bevölkerung in der Ukraine eine gewisse Autonomie sowie das Recht zu, in ihrer Sprache zu kommunizieren – das war für die Faschisten zu viel. Im Westen wurden einschlägige Artikel aus jener Zeit aus dem Internet entfernt; ich habe sie aufbewahrt.
Die westliche Techtelmechtel mit dem Faschismus mag deshalb die jährliche UN-Resolution belegen mit dem Namen “Combating glorification of Nazism, neo-Nazism and other practices that contribute to fuelling contemporary forms of racism, racial discrimination, xenophobia and related intolerance”. Seit 2014 (!) stimmen die Ukraine und die USA gegen diese Resolution. 2021 waren noch 130 Staaten dafür, 49 Staaten praktizierten Stimmenthaltung, zwei Staaten stimmten „nein“ – erneut die Ukraine und die USA. Der Stimme enthalten haben sich die EU- und die NATO-Länder. Seit 2022 stimmen sämtliche (!) NATO-Staaten, auch Deutschland, gegen die Resolution. Und was ist mit der Schweiz? 2021 enthielt sie sich der Stimme, nachher nahm sie an der Entschliessung ganz einfach nicht mehr teil.
Nota bene: Albert Einstein und Hannah Arendt warnten bereits 1948 vor der zionistischen Variante des Faschismus. In ihrem Aufruf in der New York Times verwiesen sie darauf, dass die „Freiheitspartei“ mit der Irgun, einer rechtszionistischen – je nach Lesart – Terror- oder Freiheitsorganisation verbunden war: Methoden, politische Philosophie, Sozialappelle waren mit jenen von nationalsozialistischen und faschistischen Parteien verwandt. Und sieht man genau hin, stützt sich Israel unter Netanyahu auf Parteien mit dieser Gesinnung ab – sie sind derzeit sogar „unheimlich“ mächtig!
Ich bin überzeugt: Wer dem erneut wachsenden Antisemitismus Einhalt gebieten will, tut gut daran, sich vom völkisch-religiösen Faschismus zu distanzieren. Leider treibt er nicht nur in Israel seinen Spuk, sondern in Form von religiösem Fundamentalismus auch in den USA. Mit Blick auf Deutschland, mit seiner blinden Staatsraison für Israel und seiner neuerlichen Kriegstreiberei und Kriegshetzerei gegen Russland, geht es mir indes wie einst dem Heinrich Heine:
„Denk ich an Deutschland in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht“
In Deutschland wird versucht, die Geschichte umzuschreiben und Russland die Schuld am Zweiten Weltkrieg zu unterstellen. Und erneut wird intensiv mit jenen kooperiert, die zur Zeit des Nazi-Regimes Deutschlands engste Verbündeten waren. «German Foreign Policy» (7) kommentiert diese Entwicklung am 21.4.22 so:
„Im Schatten der militärischen Formierung des Westens gegen Russland zeichnet sich eine Verschiebung in der offiziellen Berliner Gedenkpolitik ab. Dies ergibt sich aus den Terminplänen für die Reise von Außenministerin Annalena Baerbock in die drei baltischen Staaten, die gestern in Lettland begonnen hat. Neben ihren Gesprächen bei militärischen Stellen will Baerbock heute in Estland ein Denkmal für die Opfer des Kommunismus besuchen; ein Gedenken an die Opfer der NS-Besatzer und baltischer Kollaborateure, durch deren Terror fast die ganze jüdische Bevölkerung zu Tode kam, ist nicht eingeplant.»
Nicht nur werden die einstigen NS-Kollaborateure in allen baltischen Staaten noch heute öffentlich geehrt, sondern die Russen, die seit vielen Dekaden dort wohnen, werden benachteiligt und vertrieben. Das Wort „Remigration“, von der deutschen Rechten benutzt, wurde von der Ampelregierung mit Entsetzen quittiert. Aber wo denn, bitte, ist denn da der Unterschied zum Vorgehen in Lettland, Estland oder in der Ukraine gegen die dort ansässigen Russen? Zugegeben: Deutschland ist mit seiner Kriegshetzerei nicht allein. Was uns die Schweizer Mainstreammedien derzeit servieren, ist keineswegs besser – kein Land ist davor gefeit, rassistische und völkische Hasstiraden zu verbreiten.
5. Was also tun?
Als eine, die jahrelang an den weltwirtschaftlichen Rändern gearbeitet und sich lebenslang mit Fragen der interkulturellen Vermittlung und Integration beschäftigt hat, habe ich gelernt: Die fremden Anderen haben selten keine Moral! Sie haben in der Regel «nur» eine andere Moral. Deshalb nun zurück zum Konzept der «ultimativen Reflexivität».
Denn Nathan Sznaider geht der Sache nicht ganz auf den Grund. Immerhin sieht er, dass Israel, obwohl es auf eine «ethnisch-religiöse Identität» abstellt, voll in die globalen Märkte bzw. in das liberale und neoliberale Weltwirtschaften integriert ist. Deshalb möchte ich sein brillantes Konzept nun in einer Weise fassen, dass es effektiv universell anwendbar wird und künftig allerorts Konfusionen um ideologische Konflikte klären und vermitteln kann.
Als Mitglied jenes Judentums, das bei der kapitalgetriebenen Organisation der Lebenszusammenhänge von Anfang aktiv mitgewirkt hat, entgeht dem Professor nämlich, was auch für die Liberalen, Neoliberalen und sogar für die klassische Linke, erst recht für die postmodernen Woken gilt: Er blendet aus, dass die Moderne auf durchmonetarisierte Strukturen, Institutionen und Rollen abstellt. Und dass dafür ein gewaltiger energetisch-technologischer, finanzieller und juristischer Machtapparat nötig war. Er hat jenen, die in den Kapitalzentren residieren, den grenzenlosen Zugriff auf die globalen Ressourcen ermöglicht und erlaubt, von mehreren Planeten zu leben: Verhältnisse, die nur für einen kleinen Teil der Weltbevölkerung zutreffen. Zwar braucht man inzwischen «schier» allerorts Geld zum Überleben. 2021 hatten aber 4.1 Milliarden Menschen (8) keine formelle monetäre Absicherung. Das heisst: die Hälfte der Weltbevölkerung ist für eine einigermassen verlässliche Solidarität auf verbindliche Geschlechts-, Generationen- und Verwandtschaftsrollen angewiesen. Gleichzeitig wird der überfamiliale Ausgleich «vor Ort» nicht über den Staat, sondern über die Religion und die Religionszugehörigkeit gesichert – etwas, das auch für die Juden in Europa noch lange Zeit gegolten hat. Und vielleicht ist das ja die Erklärung für den blinden Fleck in Nathan Sznaiders Analyse und Konzept? Zwar arbeiteten viele Juden mit Kapital oder waren als Handwerker, Kleinhändler, Intellektuelle etc. früh in die Kapitalzirkulation integriert. Aber sie warem während Jahrhunderten von der Solidargemeinschaft der christlichen Kirchen und Staaten ausgeschlossen. Deshalb waren sie – bis jüngst – auf eine verlässliche völkisch–religiöse Solidarität angewiesen.
Sznaiders „ultimative Reflexivität“ ist deshalb auszuweiten: Der IS und Boko Haram sind nämlich in jenen Regionen aktiv und stark, in denen die Bevölkerungsmehrheit bis heute formell von der modernen, d.h. von der monetären Absicherung ihres Lebens ausgeschlossen ist. Dasselbe gilt für die Taliban. Es handelt sich um Bevölkerungssegmente und Weltregionen, in denen die Menschen für ihr Überleben nach wie vor auf vormoderne – traditionale und religiöse – Glaubensvorstellungen angewiesen sind. Diese Menschen sind weder ohne Ratio noch ohne Moral, aber sie haben eine «ultimativ» andere Ratio und Moral als wir.
Deshalb nun zurück zu meinem Appell, der auch für Herrn Köppel gilt: Bitte, sehen Sie genauer hin!
Die Weltwoche hat mit Blick auf den Ukraine-Krieg allseitig und umfassend informiert. Samt all den Widersprüchen, die mit jeder sachbezogenen Informationspraxis verbunden sind, weil halt alles zwei Seiten hat. Dabei trüben Affekte und starke Emotionen unseren Blick auf die Realität ebenso wie materielle Interessen und die Gier nach Ressourcen (9). Deshalb war die Informationspraxis der Weltwoche um den neuen grossen Feind, Russland, richtig und mutig: Einseitige Information ist nicht hilfreich für alle, die sich in unserer überkomplexen Welt zurechtfinden wollen. Erst recht nicht für jene, die in Frieden leben wollen. Wir alle sind herausgefordert: Es gilt, jene Komplexitätsintelligenz zu entwickeln, die Widersprüche erkennen und verstehen kann, sowie eine Moral, die ihren Schatten sehen und mitdenken kann.
Kurz: Wir brauchen jene «ultimative Reflexivität», die Professor Sznaider einfordert.
Universell wird sie, wenn wir die Moral- und Rechtsvorstellungen auf ihre unideologischen Voraussetzungen befragen: Hängen die beiden denn nicht in jeder Gesellschaft oder Gruppe von deren wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen ab? Der Schlüssel zur «moralischen Verfassung» wäre dann der Machtapparat, mit dem eine Gesellschaft sich ihren Zugriff auf Ressourcen sicherstellen kann. Ein Zugriff, der in unserer derzeit so ungleichen Welt hoch unterschiedlich ist. Am weltwirtschaftlichen Rand erfolgt er primär über die menschliche Muskelenergie – deshalb haben hier oft, wenn auch nicht überall, die Männer das Sagen. Im hoch entwickelten Staat steht – den Männern und den Frauen gleichermassen – ein raffinierter technologischer, finanzieller und juristischer Machtapparat zur Verfügung. Der wiederum setzt viel nicht-menschliche Energie und eine überdurchschnittliche Kapitalakkumulation voraus. Universell aber gilt: der Zugriff auf die Ressourcen ist die Voraussetzung dafür, dass die Menschen allerorts ihre Bedürfnisse befriedigen können. Wird das ignoriert, haben wir es mit Moralismus und einem struktur- und systemblinden Moralisieren zu tun. Und vielleicht ist ja das derzeitige Begriffswirrwarr just unserer hyperglobalisierten Weltwirtschaft entsprungen, weil diese für unsere menschlichen Spatzenhirne zu gross geworden ist? Sicher ist: Sie, Roger Köppel, gelten als «rechts», ich bin «links». Und so fragt sich, ob wir zusammen ausreichend klug wären, um an jener Komplexitätsintelligenz und Ambiguitätstoleranz zu arbeiten, die es für den ökologisch und sozial nachhaltigen Umgang mit der Natur und der menschlichen Mitwelt so dringend braucht.
Zum Schluss an alle, die am Lagerdenken festhalten und die mein Appell und mein Aufruf zum Dialog nur enerviert:
Alles zu verstehen heisst nicht, alles zu akzeptieren.
Alles zu verstehen ist aber die Voraussetzung für Verständigung und Veränderung.
Anmerkungen:
(1) https://weltwoche.ch/daily/israels-gerechter-krieg-gegen-die-hamas/
(2) Ich habe mich u. a. orientiert an einem Text vom Zentrum Liberale Moderne: Warum Israel keine Verfassung hat, von Richard C. Schneider 23. Feb 2023.https://libmod.de/warum-israel-keine-verfassung-hat/
(3) Nathan Sznaider; Professor für Soziologie, in Tel-Aviv-Yafo, Israel natan@serverm.soc.mta.ac.il. In: International Politics and Society 1/2003: Israel: Ethnischer Staat und Pluralistische Gesellschaft. https://www.fes.de/ipg/IPG1_2003/ARTSZNAIDER.HTM
(4) https://www.blaetter.de/ausgabe/2023/oktober/fuer-einen-neuen-faschismusbegriff
(5) https://www.youtube.com/watch?v=oxWXYoK4Nv0&list=WL&index=13&t=120s
(6) Jewish Current. June 28, 2023 . Aparna Gopalan; The Hindu Nationalists Using the Pro-Israel Playbook
(7) In German Foreign Policy 21.4.22: Das Gedenken der Wehrhaften.
(8) In: Eine Welt: DEZA-Magazin 27.6.2022: 25.
(9) Vgl. z. B. den Bericht des Oakland Instituts: 2023 Ukraine. War & Theft.pdf
Eine bemerkenswerte Stimme über Roger Köppel auf RT: hier zum Podcast.
PS: Auch der Chefredakteur der meistgelesenen Schweizer Zeitung «Die Schweiz am Wochenende», Patrik Müller, hat Israel als einen «demokratischen, modernen Rechtsstaat» bezeichnet.