Der ehemalige und neue israelische Premierminister Benjamin Netanjahu

Israel – das im Jahr 2022 meist verdrängte Thema der Medien – und klare Forderungen aus Israel an die Adresse Europa

(Red.) Trotz Krieg in der Ukraine darf nicht übersehen werden, was gegenwärtig in Israel abläuft. Es muss international genau beobachtet werden, denn die neue Regierung unter Benjamin Netanjahu lässt eine äusserst negative und gefährliche Politik erwarten. Das schreibt nicht nur der US-amerikanische Autor Patrick Cockburn, das schreiben auch prominente ehemalige Politiker und Rechtsanwälte in Israel selber – mit der klaren Aufforderung an Europa, öffentlich zu reagieren.

Ab hier der leicht gekürzte Artikel von Patrick Cockburn:

Wenn es einen Preis für die wichtigste, aber am wenigsten verbreitete Geschichte in den Medien im Jahr 2022 gäbe, würde er wohl an die Nachrichtenagenturen gehen, die es versäumt haben, über die eskalierende Gewalt zwischen Israelis und Palästinensern zu berichten, die sich nun mit den zu erwartenden Folgen der neuen rechtsextremen Regierung in Israel verbindet.

Die Erklärung für die Vernachlässigung ist einerseits die Beherrschung der Nachrichtenagenda durch den Krieg in der Ukraine, anderseits und was schlimmer ist, die Angst eines Teils der Medien, dass jede Kritik an Israel heutzutage als antisemitisch eingestuft wird. Diese Haltung ist heute in Großbritannien verbreiteter als in den USA, während früher das Gegenteil der Fall war. (Aber nicht zuletzt auch in Deutschland gilt heutzutage Kritik am Staat Israel als antisemitisch. Red.)

Die jüngste düstere Episode dieses extremistischen Wandels in Israel ereignete sich in der letzten Dezember-Woche, als es dem designierten Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu gelang, eine Regierungskoalition zu bilden, in der viele hochrangige Posten mit religiösen und ethno-nationalistischen Eiferern besetzt wurden.

Eine «Regierung der Finsternis»

Die Zusammensetzung von Netanjahus neuem Kabinett liest sich wie eine Liste von Zutaten, die die Unterdrückung der Palästinenser garantiert vertiefen und die israelische Gesellschaft spalten werden. Offen antiarabische Minister werden mit erweiterten Sicherheitsbefugnissen gegenüber den Palästinensern ausgestattet. Antisäkularisten werden die Regeln für säkulare Israelis festlegen. Die richterlichen Befugnisse werden beschnitten.

„Er hat es geschafft, eine Regierung der Finsternis zusammenzustellen“, twitterte Avigdor Lieberman, ein säkularer nationalistischer Politiker und ehemaliger Verbündeter Netanjahus, nach der Bekanntgabe der neuen Koalitionsvereinbarung.

Was den Ultranationalismus der neuen Regierung so brisant macht, ist die Tatsache, dass sie ihr Amt zu einem Zeitpunkt antritt, zu dem die israelisch-palästinensischen Beziehungen von Tag zu Tag explosiver werden. Im Jahr 2022 wurden im Westjordanland und in Ostjerusalem rund 150 Palästinenser und 31 Israelis getötet. Die israelische Polizei erschoss vor ein paar Tagen einen israelischen Araber, der sie mit seinem Auto im Zentrum Israels gerammt haben soll, nachdem er zuvor das Feuer eröffnet hatte. Einen Tag zuvor wurde ein Palästinenser tödlich verwundet, als sich Palästinenser einen Schusswechsel mit israelischen Soldaten lieferten, die in Nablus im Westjordanland eindrangen, um jüdische Gläubige zu einer als Josefsgrab bekannten Stätte in der palästinensischen Stadt zu begleiten.

Das neue israelische Kabinett

Netanjahu, der bei den Parlamentswahlen am 1. November eine Mehrheit erlangte, hat die Präsenz religiöser und nationalistischer Fanatiker im Zentrum der israelischen Regierung normalisiert. Itamar Ben Gvir, der Vorsitzende der Partei „Jüdische Kraft“, soll Sicherheitsminister werden – ein neu geschaffener Posten, der ihm die Leitung der nationalen Polizei zuteilt.

Ben Gvir, ein religiöser Siedler aus Kiryat Arba in der Nähe der Stadt Hebron im Westjordanland, wurde in der Vergangenheit wegen Anstiftung zum Rassismus und Unterstützung von Terror verurteilt. Er ist dafür bekannt, dass er Premierminister Yitzhak Rabin wenige Wochen vor dessen Ermordung 1995 mit dem Tode bedroht hat und dass er bis vor kurzem in seinem Haus ein Foto von Baruch Goldstein an der Wand hängen hat, der 1994 in Hebron 29 Palästinenser während eines Gottesdienstes erschossen hat.

Zu den weiteren Ministern im neuen israelischen Kabinett gehört Bezalel Smotrich, ein Siedlerführer aus dem Westjordanland, der der Ansicht ist, dass Israel die besetzten Gebiete annektieren soll, und der nun weitreichende Befugnisse über den Siedlungsbau im Westjordanland erhalten soll. In der Vergangenheit hat er sich für die Trennung von Juden und Arabern in israelischen Entbindungsstationen, für eine Regierung Israels nach den Gesetzen der Thora und für die Weigerung jüdischer Bauträger, Land an Araber zu verkaufen, eingesetzt.

Ein totales Durcheinander

Im Rahmen der neuen Gesetzgebung soll er mehr Befugnisse im Westjordanland erhalten, die bisher vom Verteidigungsministerium wahrgenommen wurden. Ein anderer Netanjahu-Verbündeter, Avi Maoz, der einer kleinen religiösen, gegen LGBTQ gerichteten Fraktion vorsteht, soll Teile des nationalen Bildungssystems kontrollieren.

Erst in den letzten Wochen wurden die Auswirkungen der Geschehnisse in Israel und den besetzten Gebieten auch im Ausland wahrgenommen. In einem Artikel mit dem Titel „What in the World is Happening in Israel?“ kommt Thomas L. Friedman, der einflussreichste amerikanische Kolumnist, der über Israel schreibt, zu dem Schluss, dass die Ankunft von Netanjahus ultrareligiöser, ultranationalistischer Regierung in Verbindung mit langfristigen politischen, demografischen und sozialen Trends zu chronischer Instabilität auf allen Ebenen führen wird.

„Wenn Sie mich fragen“, schreibt er, „was das wahrscheinlichste Ergebnis [der gegenwärtigen Situation] ist – ein totales Durcheinander, das Israel nicht länger zu einem Fundament der Stabilität für die Region und für seinen amerikanischen Verbündeten macht, sondern zu einem Kessel der Instabilität und zu einer Quelle der Besorgnis für die US-Regierung.“

Tückisches Manöver

Netanjahu spielt solche düsteren Vorhersagen herunter und behauptet: „Ich habe keine großen Befugnisse in Judäa, Samaria und dem Westjordanland abgegeben, ganz und gar nicht. In der Tat werden alle Entscheidungen von mir und dem Verteidigungsminister getroffen. Bezeichnenderweise folgte auf diese beruhigende Erklärung rasch ein Rückzieher, in dem er zugab, dass er, Netanjahu, tatsächlich Befugnisse im Westjordanland, vor allem in Bezug auf den Siedlungsbau und die Polizeiarbeit, an seine rechtsextremen Koalitionspartner übertragen hat.

Die Verwirrung darüber, wer das Sagen hat, bestätigt Friedmans These, dass ein großes und gefährliches „Durcheinander“ im Entstehen ist. Netanjahu besteht darauf, dass er seine extremistischen Partner im Zaum halten kann, und er hat dies in der Vergangenheit auch getan. Aber genau das könnte sein Problem sein, denn seine neuen Kabinettskollegen halten ihn für völlig unzuverlässig und sind geneigt, Zusagen und Allianzen schamlos zu brechen, wann immer es seinen Interessen dient. Sie werden deshalb alles tun, um zu zeigen, dass sie im Rahmen der Koalitionsvereinbarung echte Autorität ausüben, was erklärt, warum es so lange gedauert hat, diese Koalitionsvereinbarung auszuhandeln.

Aber es ist nicht nur das Misstrauen seiner Koalitionspartner, das Netanjahus hinterhältige Manöver weniger effektiv als in der Vergangenheit machen könnte. Die Geschichte hat sich sowohl für die Israelis als auch für die Palästinenser ja zwischenzeitlich weiterentwickelt. Die Zweistaatenlösung ist mit einer halben Million jüdischer Siedler im Westjordanland und in Ostjerusalem seit langem eine Farce. Die Behauptung, dass diese Option immer noch Bestand hat, ist lediglich eine bequeme Heuchelei, die es den USA und den europäischen Mächten ermöglicht, so zu tun, als ob diplomatische Fortschritte möglich wären.

Gewalt und Zwang

Die politische Realität ist, dass das Kräfteverhältnis zwischen Israel und den Palästinensern jahrzehntelang so sehr zugunsten Israels verschoben wurde, dass viele Israelis – und auch Nicht-Israelis – einen Kompromiss nicht mehr für notwendig halten. Doch in einem entscheidenden Punkt war die Wahrnehmung der palästinensischen Schwäche trügerisch, denn die Palästinenser machen heute etwas mehr als die Hälfte der 14 Millionen Menschen aus, die zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer leben. Geografisch mögen sie auf das Westjordanland, Ostjerusalem, den Gazastreifen und Israel selbst aufgeteilt sein, doch in der Praxis schafft diese Trennung zahlreiche mögliche Reibungspunkte, von denen sich jeder in Protesten und Widerstand entladen könnte.

Auch sind solche Ausbrüche nicht mehr so leicht zu isolieren wie früher, da sich Nachrichten über sie ungeachtet von Mauern und Stacheldrahtzäunen sofort über das Internet verbreiten. Ein Protest gegen die Vertreibung von Palästinensern aus einem Haus im Sheikh-Jarrah-Viertel in Ostjerusalem im Mai 2021 hatte schnell Auswirkungen auf die zwei Millionen Palästinenser, die im Gazastreifen eingeschlossen sind, und eine ähnliche Zahl in Israel, wo sie 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Die Angst vor einem erneuten Ausbruch war einer der Faktoren, die die israelischen Wähler bei den Parlamentswahlen in Richtung der extremen Rechten trieb.

Es wird deutlich, dass die Kontrolle über die Palästinenser in ihren separaten Enklaven ein immer größeres Maß an Gewalt und Zwang erfordern wird, um die jetzige israelische Vorherrschaft aufrechtzuerhalten, wie kontraproduktiv dies auch immer sein mag.

(Ende des gekürzten Textes von Patrick Cockburn auf «Counterpunch». Zum Originaltext siehe hier.)

Aber es gibt auch gewichtige Opposition in Israel – und klare Forderungen an Europa!

(Red.) Eine Gruppe von israelischen Politikern und Rechtsanwälten – die «Policy Working Group» PWG – hat den folgenden neuen Text veröffentlicht:

Die sechste Netanjahu-Regierung, die am 28. Dezember 2022 vereidigt wurde, stellt mehr als nur einen routinemäßigen Machtwechsel in einer normalen parlamentarischen Demokratie dar. Ihre eigentliche Absicht ist es, einen Regimewechsel herbeizuführen, der die Vollendung der Annexion des Westjordanlandes möglich macht.

Die Lage in den besetzten palästinensischen Gebieten (Occupied Palestinian Territory OPT) verschlechtert sich weiter, das Jahr 2022 war das Jahr mit den meisten palästinensischen Todesopfern seit der zweiten Intifada. Wir sind Zeugen einer eskalierenden Unterdrückung der Palästinenser, der Verletzung ihrer Menschenrechte und der Maßnahmen, die ergriffen werden, um Israels Griff auf die besetzten palästinensischen Gebiete zu festigen, zusammen mit dem beispiellosen Angriff der 37. israelischen Regierung auf alle Normen der zivilisierten Gesellschaft im eigenen Land, was zu einer tragischen Situation führt.

Wie es dem Programm der von Netanjahu gebildeten extremen, ultrarechten und fundamentalistischen Koalition entspricht, propagiert die neu verabschiedete Regierungsplattform offen das souveräne Selbstbestimmungsrecht ausschließlich für das jüdische Volk auf dem gesamten Land zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer. Die Schritte, die die Umsetzung dieser Perspektive in die reale Politik ermöglichen, sind in den Koalitionsvereinbarungen verankert, die die Übertragung der Verantwortung für die besetzten palästinensischen Gebiete von der militärischen auf die zivile Behörde vorsehen.

Die Fiktion einer „vorübergehenden“ Besetzung ist vorbei, ebenso wie die Lippenbekenntnisse zum „Friedensprozess“. Der Glaube der internationalen Gemeinschaft an den israelischen Friedenswillen, der auf der Anerkennung der Rechte des palästinensischen Volkes beruht, ist angesichts der Erklärung der israelischen Regierung, für immer im «Occupied Palestinian Terrytory» bleiben zu wollen, unhaltbar – nicht, weil es „keinen Partner gibt“ und nicht aus Sicherheitsgründen, sondern weil all dies nun als ein von Gott verordnetes Gebot angesehen wird.

Die Aufgabe Europas

Es ist die Aufgabe Europas, diese neue Realität zu erkennen und unverzüglich Maßnahmen zu ergreifen, um der israelischen Regierung klar zu machen, dass ihre fortgesetzte Unterdrückung der Palästinenser ihren Preis haben wird und dass der Erfolg ihrer Bemühungen, die Demokratie im eigenen Land zu unterdrücken, sie zu einem Pariastaat machen könnte. Europa muss seine Erwartung bekräftigen, dass die Grundwerte, die das Fundament der internationalen Beziehungen bilden – Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Unantastbarkeit der Menschenrechte – im Verhalten der israelischen Regierung auf beiden Seiten der Grünen Linie zum Ausdruck kommen werden.

Die neue Situation erfordert die Wiederholung der europäischen Anerkennung des gleichberechtigten Selbstbestimmungsrechts beider Parteien im Heiligen Land und die Bekräftigung der Resolution 2334 des UN-Sicherheitsrats als wichtigste Grundlage für künftige Friedensverhandlungen.

In Anbetracht der erklärten Absicht Israels, seine Herrschaft über die besetzten Gebiete aufrechtzuerhalten, sollten die führenden europäischen Länder ihre Haltung zum Ersuchen des «Internationalen Gerichtshofes» IGH um ein Rechtsgutachten über die Besetzung und ihre Folgen überdenken und sowohl dieses Vorhaben als auch die Entscheidung des «Internationalen Strafgerichtshofes» IStGH, zu untersuchen, ob die Konfliktparteien seit 2014 Kriegsverbrechen begangen haben, unterstützen.

Wir fordern Europa auf, sich auf diplomatischem und öffentlichem Wege mit den Konfliktparteien auseinanderzusetzen, um die Abwärtsspirale einzudämmen und letztlich umzukehren, da die Instabilität in unserer Region nicht nur das Wohlergehen der direkten Konfliktparteien, sondern auch das der benachbarten arabischen Länder sowie die strategischen europäischen Interessen in der Region bedroht.

Bis eine Einigung zwischen den Parteien erreicht ist, fordern wir Europa auf, seine Werte in der Region zu verteidigen, indem es Menschenrechtsverletzungen auf beiden Seiten beobachtet und unverzüglich energisch darauf reagiert.

(Red.) Diese öffentliche Aufforderung an Europa, auf das widerrechtliche Programm der neuen israelischen Regierung zu reagieren, ist vom ehemaligen Botschafter Ilan Baruch, vom ehemaligen Botschafter Prof. Eli Bamavi, vom ehemaligen Botschafter Dr. Alon Liel und von der Kommunikationsdirektorin Susie Becher unterschrieben. Zum Originalaufruf in englischer Sprache siehe hier. – Die Leserinnen und Leser der Plattform Globalbridge.ch seien aufgefordert, dieses Papier der «Policy Working Group» an ihnen bekannte Parlamentarierinnen und Parlamentarier weiterzuleiten. (cm)

Achtung, siehe dazu auch den gestrigen Beitrag der Schweizer Radio-Informationssendung «Echo der Zeit», in der das Thema „Beschränkung der Justiz“ in Israel ausgeleuchtet wird.