Im russischen Fernsehen herrscht Meinungsfreiheit und echte intellektuelle Debatte
(Red.) Noch immer meinen die meisten Leute im Westen, im russischen Fernsehen gebe es nur eine erlaubte Meinung und keine Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt. Der an der Harvard University in den USA ausgebildete und heute in Brüssel lebende geopolitische Beobachter und Kommentator Gilbert Doctorow zeigt aber an einem konkreten Beispiel, dass dies überhaupt nicht zutrifft. (cm)
In meinen Berichten und Analysen habe ich oft auf die wichtigste politische Talkshow des Landes, „Abend mit Wladimir Solowjow“, und die wichtigste Nachrichten- und Analysesendung „Sechzig Minuten“ hingewiesen, weil sie die Denkweise der politischen und gesellschaftlichen Eliten Russlands aufzeigen und damit die Grenzen abstecken, innerhalb derer der Kreml seine Macht im Inland und in der Außenpolitik ausüben kann. Ich habe auch gelegentlich die Vermutung geäußert, dass die Moderatoren dieser Sendungen im Auftrag des Kremls handeln, um inoffizielle, aber maßgebliche Botschaften an den Westen zu senden.
Dabei war mir durchaus bewusst, dass die großen amerikanischen und britischen Medien die Moderatoren dieser Sendungen regelmäßig als bösartige Propagandisten anprangern. Solowjow zum Beispiel wurde in Italien zur „Persona non grata“ erklärt, weil er ein enger Vertrauter von Wladimir Putin sei, eine Behauptung, die völlig übertrieben ist und zur Folge hatte, dass seine Villa dort von Agenten der italienischen Regierung beschlagnahmt wurde. In der Zwischenzeit ist auch festzustellen, dass Solowjow vor etwas mehr als einem Monat als Präsident des russischen Journalistenverbandes wiedergewählt wurde, was wohl ein besserer Indikator dafür ist, warum er mit Sanktionen belegt ist.
Ich bin ganz und gar nicht damit einverstanden, Solowjow oder Olga Skabejewa oder Jewgeni Popow als „Propagandisten“ zu bezeichnen, und ich werde in diesem meinem Aufsatz mehrere Beweise anführen, um meinen Standpunkt zu untermauern. Was ich zugeben muss, ist, dass diese Fernsehmoderatoren in Bezug auf den laufenden Krieg in der Ukraine ausgesprochene „Hardliner“ sind. In ihren jüngsten Sendungen verurteilten sie die Idee, mit Kiew über Friedensbedingungen zu verhandeln, solange kein vollständiger Sieg auf dem Schlachtfeld errungen wurde, aufs Schärfste. Sie weisen stets auf die Gräueltaten des Selenskyj-Regimes hin, darunter in der vergangenen Woche die kaltblütige Ermordung russischer Kriegsgefangener, die gefilmt, in den sozialen Medien verbreitet und auch von der „New York Times“ als authentisch anerkannt worden ist. Sie argumentieren, dass die fortschreitende Zerstörung der Elektrizitätsinfrastruktur in der Ukraine Kiew, Lemberg und anderen ukrainischen Städten endlich die Rache für die neun Jahre zeige, in denen diese mit Artilleriebeschuss die gesamte zivile Infrastruktur ihrer eigenen Bürger im Donbass, die zufälligerweise ethnisch russisch sind, angegriffen haben, so dass es beispielsweise in der Stadt Donezk seit langem regelmäßig zu Stromausfällen kommt und es auch heute noch kein fließendes Wasser gibt und wo die Zivilbevölkerung jahrelang zur Sicherheit in Kellern gelebt hat. Ihre Experten aus dem Donbass erinnern uns daran, dass die wahllosen Bombardierungen der ukrainischen Städte und Dörfer im Donbass auch heute noch mehr Tote und Verletzte unter der Zivilbevölkerung fordern als die massiven russischen Raketenangriffe auf die ukrainische Energieinfrastruktur, die die Aufmerksamkeit der westlichen Medien jetzt so sehr auf sich gezogen haben. (Vergleiche dazu die Berichte «Die Stimme aus dem Donbass» jeweils in der Freitag-Ausgabe von Globalbridge.ch. Anm. der Redaktion.)
Propaganda ist ein Wort, mit dem in diesen Tagen viel um sich geworfen wird und mit dem im Allgemeinen jede Informationsquelle bezeichnet wird, die den in Washington publizierten Medienmitteilungen widerspricht – jenen Medienmitteilungen, die ihrerseits von den US-amerikanischen und europäischen Medien einheitlich als Gottes ehrliche Wahrheit über den Stand des Krieges in der Ukraine verbreitet werden. Ich selber habe da einen etwas anderen Ansatz, was Propaganda ist: Propaganda ist per definitionem einseitig und schließt andere Sichtweisen völlig aus. In diesem Sinne sind praktisch alle Sendungen der „BBC“ und zum Beispiel praktisch alle Nachrichten über den Krieg in der „Financial Times“ reine Propaganda und dürfen nicht mit Journalismus verwechselt werden.
In diesem Sinne ist „Sechzig Minuten“ echter Journalismus, keine Propaganda. Obwohl Experten im Studio sitzen und die Moderatoren ihr eigenes Skript haben, um die Sendung zu leiten, wird ein großer Teil der Zeit, oft die Hälfte oder mehr, für ausführliche Videosegmente verwendet, die aus westlichen Medien stammen und die US-amerikanische, britische und andere unfreundliche Berichterstattung über die Nachrichten darlegen. Ich betone, dass es sich dabei nicht um „O-Töne“ handelt, sondern um ausreichend lange Abschnitte, um die Ansichten des Feindes deutlich zu machen. In diesem Sinne sehe ich heute in diesen Sendungen die gleiche Art von redaktioneller Ausrichtung, die ich im Jahr 2016 als Diskussionsteilnehmer in allen großen russischen Talkshows erlebt habe. Nur gab es damals, in der Zeit vor den Covid-Sperren und vor den im Februar dieses Jahres verhängten Reisebeschränkungen für Russland, US-amerikanische und andere westliche Gäste, denen das Mikrofon lange genug gegeben wurde, um die Sichtweise der CIA darzulegen, damit sie durch die überlegene Logik der russischen Positionen entlarvt werden konnte. Das heißt, dass die Produzenten des russischen Fernsehens heute wie schon in der Vergangenheit wenig Zweifel daran haben, dass die Zuschauer bei einem einigermaßen fairen Meinungsstreit die richtigen Schlüsse ziehen werden.
Für Wladimir Solowjow kann ich nun eine detailliertere Begründung dafür liefern, dass die Sendung guter Journalismus und keine Propaganda ist, indem ich auf einige Details des Ablaufs der Abendausgabe vom 22. November hinweise. Noch einmal möchte ich die Aufmerksamkeit auf die kleine Rede des Podiumsteilnehmers Karen Schachnasarow, Direktor von „Mosfilm„, lenken, den ich in meinen früheren Berichten über die Solovjow-Show als jemanden aus der kreativen Intelligenz charakterisiert habe, im Gegensatz zu den Politikwissenschaftlern und Duma-Abgeorneten, die sonst in diesen Sendungen das Wort ergreifen.
Es gab mehrere bemerkenswerte Punkte in Schachnasarows Ausführungen. Sie waren zum Teil im Voraus vorbereitet worden, zum Teil aber auch eine direkte Antwort auf das, was andere sagten, bevor er wieder an die Reihe kam. Zu letzterer Kategorie gehörte seine Bemerkung zu den Beziehungen Russlands zu den ehemaligen Sowjetrepubliken in der „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“ GUS, die der Politikwissenschaftler Sergej Michejew gerade als parasitär kritisiert hatte. Der Gedanke, die Satelliten von Russland abzuschneiden, sei 1991 weitgehend akzeptiert worden, als Jelzin dies zu einem zentralen Punkt seiner politischen Agenda machte, so Schachnasarow. Man nahm ihnen übel, dass sie den Reichtum Russlands abschöpften und einen höheren Lebensstandard als Russland selbst hatten. Schachnasarow sagte jedoch, dass sich kleine Länder fast überall so verhalten, das sei der Lauf der Welt. Und wenn man ihnen kein Geld gebe, dann tue es jemand anderes. Außerdem sprächen diese Republiken von Russland als der ehemaligen Kolonialmacht und erwarteten eine Art von Entschädigung. Und wie wir wissen, so Schachnasarow, antworten sie, wenn Russland eine Gegenleistung verlangt, dass sie jetzt unabhängig sind und sich nach „anderen Möglichkeiten“ umsehen. Diese Formulierung wurde vor ein paar Tagen vom kasachischen Präsidenten Tokajew in seiner Pressekonferenz nach seiner Wiederwahl verwendet.
Schachnasarows wichtigster Punkt ist, dass die Russen realistisch sein müssen. Der Krieg ist nicht gut gelaufen. Zu Beginn hatten sie sogar auf westliche Militärexperten gehört, die voraussagten, dass er in einer Woche vorbei sein würde. Stattdessen haben die Russen gelernt, dass ihre Armee nicht das ist, was sie erwartet hatten, und dass sie umstrukturiert werden muss. Sie haben gelernt, dass dies ein langer und harter Kampf sein wird. Und auch das Ausland hat aus den Ereignissen gelernt, und das hat die Ansichten über Russland bei seinen Freunden etwas erschüttert. Im Moment kann man nichts anderes tun, als den Tatsachen in die Augen zu sehen. Amerika und der Westen mögen von fanatischen Feministinnen und Schwulen regiert werden, aber es geht ihnen gut: Sie haben Geld und Streitkräfte in Hülle und Fülle, um ihre Verbündeten in Schach zu halten. So funktioniert die Welt nun einmal. In der Zwischenzeit müssen wir weiter für den Sieg kämpfen, denn es gibt keine Alternative, so Schachnasarow.
Dann kam Schachnasarow auf einige noch unerwartetere und spannendere Themen zu sprechen, die sich um die Frage der Ideologie drehten: Wir glauben nicht, so Schachnasarow, dass wir eine Ideologie haben, aber wir haben eine. Es ist die Ideologie der liberalen Bourgeoisie. In diesem Sinne sind wir unseren Feinden, insbesondere der Republikanischen Partei Amerikas, viel näher als den Ländern, die heute unsere Freunde sind: dem sozialistischen Indien, dem kommunistischen China und Vietnam und Nordkorea. Unsere Freunde sind alle links, während unsere Feinde konservativ sind wie wir. Unsere Freunde halten zu uns, so Schachnasarow weiter, obwohl sie sich alle daran erinnern, wie wir sie 1991 verraten haben, als Jelzin zum Beispiel die Beziehungen zu Kuba vollständig abbrach. Und auch heute noch halten wir an den Sanktionen gegen Nordkorea fest, obwohl dies echt unsinnig ist.
Damit genug. Mein Punkt ist ganz einfach: Alles, was Schachnasarow im russischen Staatsfernsehen sagte, war so frei und kritisch gegenüber seiner eigenen Gesellschaft und ihrer Regierung, wie man es sich in einem Staat, der die Presse- und Meinungsfreiheit achtet, nur wünschen kann.
Zum Original dieses Artikels in Englisch. Die Übersetzung besorgte Christian Müller.
Meinungen in Beiträgen auf Globalbridge.ch entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Zum Autor Gilbert Doctorow: «Gilbert Doctorow is an independent political analyst based in Brussels. He is a magna cum laude graduate of Harvard College and holds a doctorate in Russian history from Columbia University. From a position as postdoctoral fellow at Harvard’s Russian Research Center in 1975 he transitioned to corporate business, serving major U.S. corporations in their ambition to establish industrial projects in the USSR under conditions of detente. His twenty-five year business career culminated in the position of Managing Director, Russia during the years 1995-2000. Since 2010, Doctorow has published collections of his weekly essays on US-EU-Russian relations and most recently brought out a two volume edition of his diaries and reminiscences. Volume I of „Memoirs of a Russianist,“ bears the subtitle „From the Ground Up“ and sets out the background to his analytic mindset on Russia, on the United States that we see in his present-day essays. Volume II – „Russia in the Roaring 1990s“ is one of the first monographs devoted to the life and times of the foreign community of corporate managers in Moscow and St Petersburg that numbered 50,000 families in the capital alone in 1995. It documents in diary entries and newspaper clippings how the Russian market was won by foreign interests in the 1990s, only to be lost in the spring of 2022 by the sanctions and „cancel Russia“ policies of the Collective West. A Russian language edition in a single 780 page volume was published by Liki Rossii in St Petersburg in November 2021. – Zu Gilbert Doctorows Website hier anklicken.