Hochgefährliche Rhetorik in der Ägäis: «Über Nacht können wir plötzlich kommen»
Spannungen zwischen Griechenland und der Türkei sind keine Neuigkeit. Im Hinblick auf politisch entscheidende Wahlen in beiden Ländern im nächsten Jahr und auf das 100-Jahr-Jubiläum des Vertrages von Lausanne 1923 – mit beidseits schlechten Erinnerungen – drohen die Spannungen diesmal zu einem echten militärischen Konflikt zu führen. (cm)
Könnte es tatsächlich zu einem Krieg zwischen dem NATO-Mitglied Türkei und dem NATO-Mitglied Griechenland kommen? Alle Zeichen in Griechenland standen Anfang September jedenfalls auf Alarm. Die EU und die NATO sollten besser die aufrührerische Rhetorik der Türkei rechtzeitig zügeln, oder aber sie riskieren eine weitere Situation wie in der Ukraine, stand in einem Brief, den die Athener Regierung an die NATO, an die Vereinten Nationen und an die Europäische Union richtete. Darin beschuldigte sie Ankara der Aggression, militärischer Drohungen und eklatanter Verstösse gegen das Völkerecht. Absurderweise schickte auch die Regierung in Ankara einen Brief an die Zentralen dieser drei internationalen Organisationen mit einem ähnlichen Inhalt. Die Gewässer in der Ägäis schienen, einmal mehr wie schon in den letzten Jahrzehnten auch, stürmisch aufgeheizt zu sein. Und dennoch mutet der Konflikt diesmal von einer anderen Qualität zu sein als zuvor.
Unverhüllte Kriegsdrohungen
Der in aller Öffentlichkeit heftig ausgetragene Schlagabtausch begann diesmal Ende August. Die Türkei beschwerte sich, dass die auf Kreta stationierte S-300-Luftabwehrbatterien aus russischer Produktion während einer NATO-Mission in der Ägäis und im östlichen Mittelmeer türkische F-16-Kampfjets ins Visier genommen hätten. «Ein feindlicher Akt», kommentierte Ankara. Noch wies Athen die Beschwerde des Nachbarn gelassen zurück.
Am 3. September aber drohte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan Griechenland erstmals mit Krieg: «Dass ihr Inseln besetzt, bindet uns nicht», sagte er auf dem Teknofest in Samsun am Schwarzmeer, der grössten Technologieveranstaltung des Landes. «Wenn die Zeit gekommen ist, werden wir tun, was notwendig ist. Über Nacht können wir plötzlich kommen». Es war auch das erste Mal, dass ein türkischer Politiker Griechenland beschuldigte, Inseln in der Ägäis besetzt zu halten.
Am 4. September liess der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar einen F-16-Kampfjet über die Ägäis fliegen und versprach, auf «die griechische Kühnheit» so zu reagieren, «wie es die Türkei immer getan hat und auch in Zukunft tun wird».
Bei einem Besuch in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo am 6. September kam Erdoğan an einer Pressekonferenz auf seine Erklärung in Samsun zurück. «Was ich sage, ist kein Traum», zitierte ihn die Presseagentur AP. «Wenn ich gesagt habe, dass wir über Nacht plötzlich kommen können, bedeutet dies, dass wir, wenn die Zeit gekommen ist, plötzlich über Nacht kommen können».
«Plötzlich über Nacht kommen» ist eine Strophe aus einem populären türkischen Liebeslied. Der türkische Staatsmann zitiert in den letzten Jahren diese Strophe ironischerweise aber immer kurz bevor seine Armee erneut zu einer Operation gegen die Kurden im Nordirak oder gegen die Kurden Nordsyriens ansetzt. Hatte er nun eine Operation auf die, wie er sagte, von Griechenland „besetzten“ Ägäis-Inseln vor?
Warnungen vor einem besonders „schwierigen“ Jahr
Die griechische Öffentlichkeit war aufgebracht. Darf ein Nato-Mitgliedstaat seinen Bündnispartner in aller Offenheit Tag für Tag unbestraft mit Krieg drohen?, fragte man sich. Die Souveränität der ostägäischen Inseln hatte vor Monaten als erster der türkische Aussenminister Mevlut Cavusoglu in Frage gestellt. Er beanstandete damals, dass diese Inseln gemäss dem Vertrag von Lausanne von 1923 und dem Pariser Vertrag von 1947 demilitarisiert werden müssten. «Griechenland hat 16 der 23 Inseln bewaffnet und damit gegen das Völkerrecht verstossen», erklärte der türkische Aussenminister. Der rechtsextreme Devlet Bahceli liess sich stolz neben einer Karte ablichten, in der die Inseln Rhodos, Samos, Chios und Lesbos, aber auch Kreta als türkisch gezeigt werden. Devlet Bahceli ist in der Türkei kein gewöhnlicher Politiker. Als Alliierter der Regierung Erdoğan soll er massgeblich die Aussenpolitik der Türkei bestimmen.
Beobachter dies- und jenseits der Ägäis haben schon lange vor einem «schwierigen Jahr» in den bilateralen Beziehungen gewarnt. Im Jahr 2023 finden in beiden Ländern kritische Wahlen statt. Um die Reihen ihrer Parteien und Wähler zu schliessen, scheint Härte gefragt. «Der türkische Präsident würde seinem Volk viel besser dienen, wenn er sich auf die Wiederbelebung der kränkelnden türkischen Wirtschaft konzentrieren würde, anstatt neo-osmanischen, revisionistischen Fantasien nachzurennen», sagte bezeichnenderweise der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis. Ein Unterton der Arroganz war kaum zu überhören.
Die Wirtschaft droht tatsächlich zu Erdoğans wahren Achillesfersen zu werden. Die Inflation im Land hat laut offiziellen Angaben die 80 Prozent-Marke überschritten – inoffizielle Institutionen schätzen sie aber sogar als doppelt so hoch ein. Erdoğan könnte gemäss letzten Umfragen die Wahlen diesmal tatsächlich verlieren und damit umgehend in die Mühlen der Justiz geraten. Der Präsident und seine Familien werden von der Opposition der Korruption und des Machtmissbrauchs beschuldigt.
Ein historisches Ereignis von enormer Tragweite
Beobachter sind auch deshalb besorgt, weil sich ein geschichtsträchtiges historisches Ereignis von enormer Tragweite für beide Nationen in diesen Monaten zum 100. Mal jährt: Der 30. August wird in der Türkei als Tag des Triumpfes gefeiert. Er erinnert an den militärischen Sieg von Kemal Atatürks Streitkräften im Jahr 1922 über die griechische Armee, die nach dem Ersten Weltkrieg Teile Anatoliens besetzt hatte.
«Die Türken betrachten diesen Sieg und die Befreiung von Izmir von der dreijährigen griechischen Besatzung als einen der Grundsteine der türkischen Republik, die aus der Asche des Osmanischen Reichs gegründet worden war», umschreibt die türkische Journalistin Nazlan Ertan die Grundstimmung in ihrem Land. Weil das Osmanische Reich im Ersten Weltkrieg an der Seite der Mittelmächte kämpfte, besetzten nach Kriegsende die Siegermächte Grossbritannien, Frankreich und Italien jeweils ein Stück des auseinanderfallenden Reichs. Den Siegermächten schloss sich 1919 auch Griechenland an, indem es seine Truppen in die Region des ehemaligen multikulturellen Zentrums Smyrna (Izmir) schickte. Gemäss des türkischen Narrativs ist es allein General Kemal Atatürk zu verdanken, dass er 1919 sein verzweifeltes Volk zu einem Nationalen Befreiungskrieg gegen die Besatzungsmächte mobilisieren und ihr Land schlussendlich mit dem Sieg bei Izmir 1922 befreien konnte. Das türkische Narrativ hebt diesen heroischen Abschnitt der türkischen Geschichte besonders hervor – und verschweigt eisern die zweite «halbe Wahrheit».
Aus Sicht der Griechen markiert der 30. August 1922 die «grösste Tragödie und humanitäre Katastrophe, die die griechische Welt in ihrer jahrtausendjährigen Geschichte heimgesucht hat», so die Wissenschaftler Angelos Syrigos und Evanthis Chatzivasileiou in ihrem vor kurzem veröffentlichten Buch «Die Kleinasiatische Katastrophe». «Zum ersten Mal nach über 2000 Jahren gab es in Kleinasien keine griechischen Gemeinden mehr, ihre Sprache und Kultur wurden ausgelöscht». Laut griechischer Lesart begann die Tragik ihrer Geschichte allerdings nicht erst im Jahr 1919, sondern bereits sechs Jahre früher.
1913 soll demnach in der Bewegung der regierenden Jungtürken der extrem-nationalistische Flügel die Oberhand gewonnen haben. Die Jungtürken hatten sich 1908 an die Macht geputscht und versprachen zunächst den unzähligen Völkern ihres Reichs die völlige Gleichstellung aller Bürger, unabhängig von Sprache, Religion und Volkszugehörigkeit. Alsbald wurden die Jungtürken aber von der Realität eingeholt. Nach 1912 verlor das osmanische Reich seine Provinzen in Afrika, auf dem Balkan und im arabischen Raum. Abertausende von türkischen Flüchtlingen strömten aus allen Himmelsrichtungen ins Reich. 1913 dann beschloss der extrem-nationalistische Flügel der Jungtürken, eine strikte «ethno-religiöse Homogenisierung des Vaterlandes» anzustreben. Noch machte der Anteil der christlichen Minderheiten, namentlich der Armenier, der Griechisch-Orthodoxen und der Assyrer rund 25 Prozent der Gesamtbevölkerung aus.
Im Jahr 1914 setzten die ersten Pogrome gegen die Griechisch-Orthodoxen in Ost-Thrazien ein. Innerhalb weniger Monate verloren über 150’000 Menschen ihr Heim. Ein Jahr später schickte die «Hohe Pforte» die armenische Minderheit auf Todesmärsche, bei denen nur die wenigsten überlebten. Intellektuelle sowie Geschäftsleute der Armenier und der Griechisch-Orthodoxen landeten in den berüchtigten Arbeitsbataillonen, wo sie beim Bau von Strassen und Eisenbahn an Erschöpfung, Seuchen und Hunger zugrunde gingen. Griechische Historiker gehen davon aus, dass der ehemalige griechische Regierungschef Elefterios Venizelos 1919 seine Truppen nach Kleinasien anordnete, in erster Linie weil er hoffte, in der Provinz Izmir und in Ost-Thrazien eine sichere Heimat für seine bedrängten Kompatrioten schaffen zu können.
Die jüngste, internationale Forschung hegt keine Zweifel mehr daran, dass dieses monströse Kriegsverbrechen den ersten zentral geplanten Genozid des 20. Jahrhunderts im europäischen Grossraum darstellt. Die Zahlen sprechen für sich. Die Armenier beziffern ihre Opfer auf 1,2 Millionen und die Assyrer auf 800’000. Laut griechischen Schätzungen sollen zwischen 1914 und 1922 bis zu einer Million Griechisch-Orthodoxe in Kleinasien ihr Leben verloren haben. Im Jahr 1923 hat der Vertrag von Lausanne die Grenzen Griechenlands und der Türkei festgelegt – und nebenbei auch den «Austausch» beinah der gesamten griechisch-orthodoxen Minderheit aus dem Territorium der heutigen Türkei (rund 1,2 Millionen) und der türkischen Minderheit aus Griechenland (über 350’000) besiegelt. Der Anteil der christlichen Bevölkerung in Anatolien schrumpfte von 25 auf 0,5 Prozent zusammen. In das historische Gedächtnis der Armenier, Griechen und Assyrer ist dieses historische Ereignis als «Grosse Katastrophe» eingebrannt – ein Begriff, der den Völkermord, die Vertreibung und die tiefe Trauer über Auslöschung ihrer Völker aus ihrer uralten Heimat in Anatolien bezeichnet.
Eigentlich wäre der 100. Jahrestag eine einmalige Chance für beide Völker, den Versuch zu wagen, gemeinsam dieses schreckliche Kapitel ihrer Geschichte zu verarbeiten, um künftige Konflikte auch wirklich auszuschliessen. Diese Chance wurde vertan. Stattdessen verschanzt man sich wieder hinter alten Vorurteilen. Seit dem 3. September mahnten der türkische Präsident, sein Verteidigungs- und sein Aussenminister die Griechen, «Smyrna (Izmir) nicht zu vergessen» und sich nicht wie 1922 als «Schachfiguren im Dienste verräterischer ausländischer Mächte gegen die Interessen der Türkei» einsetzen zu lassen.