Hiroshima ist überall! – oder: Der niemals endende Kampf
Der 6. August 1945 war der Tag Null der Weltgeschichte. Der Tag, an dem bewiesen wurde, dass Menschen fähig sind, die Menschheit als Gattung auszurotten und den Planeten komplett zu verwüsten. Der Kampf gegen diese Gefahr wird in alle Zukunft weitergehen müssen.
Vor 77 Jahren, am 6. August 1945, einem Montag, um 8 Uhr 16 Ortszeit wurde erstmals eine Atombombe über belebtem Gebiet gezündet – sie explodierte mit einer Hitzeentwicklung von fast 4.000 Grad Celsius 580 Meter über dem Shima-Krankenhaus der japanischen Stadt Hiroshima, in der am Katastrophentag um die 400.000 Menschen lebten und die bis zu diesem Zeitpunkt von Bombardierungen verschont geblieben war. Ausgeklinkt wurde sie in einer Höhe von fast zehn Kilometern aus dem amerikanischen B-29-Bomber „Enola Gay“, nachdem eine Dreiviertelstunde zuvor bereits ein anderer Bomber die Stadt überflogen hatte, um die Wetterbedingungen zu prüfen. Es war ein schöner sonniger Tag, ganz klarer Himmel. Die Bombe, in ihrer Sprengkraft vergleichbar mit einer heutigen ‚taktischen‘ Atomwaffe, hatten die US-Militärs auf den Namen „Little Boy“ getauft.
Hunderttausende von „Testopfern“
Mehr als 70.000 Menschen waren sofort tot. Die Bombe tötete 90 Prozent der Bevölkerung in einem Radius von 500 Metern um den Ground Zero. Die meisten Menschen verdampften oder verglühten. Innerhalb einer Sekunde zerstörte die Druckwelle 80 Prozent der Innenstadt. Ein Feuersturm vernichtete elf Quadratkilometer der Großstadt und trieb den für Atombomben charakteristischen Atompilz bis in 13 Kilometer Höhe, der zwanzig Minuten später als hochkontaminierter radioaktiver Fallout auf die Umgebung niederging.
Tote: 282.000. Davon 50 % am Tag des Bombenabwurfes, 35% in den folgenden drei Monaten, 15% seit November 1945. (Die Zahlen variieren. Aber auch wenn die niedrigste Variante, 170.000 Opfer, unterstellt wird, bleibt sich im Prinzip alles gleich.) Krankheiten der Überlebenden (u.a.): Blutkrankheiten (Perniziöse Anämie, Leukämie), durch Verbrennungen verursachte Hautwucherungen (Keloide), Lebererkrankungen, Katarakte, Posttraumatische Belastungsstörungen. Bis heute sterben Menschen an durch den Bombenabwurf verursachten Krebserkrankungen.
Drei Tage später, am 9. August um 11 Uhr 02, zündeten die USA eine weitere Atombombe – sie trug den Namen „Fat Man“ – über der im Südwesten Japans gelegenen Hafenstadt Nagasaki. Tote: Zwischen 60.000 und 80.000. Verletzte: Um die 75.000.
Monate später schickte das U.S. Strategic Bombing Survey Ärzte in die weitgehend zerstörten und verstrahlten Städte. Ihre Aufgabe war es jedoch nicht, den zahllosen verletzten, hochtraumatisierten Menschen medizinische Hilfestellung zu leisten. Ihr Job war es, die Auswirkungen der radioaktiven Strahlung auf den menschlichen Organismus wissenschaftlich zu erforschen. Bei den Hunderttausenden von Toten und Verletzten der beiden japanischen Städte hatte es sich aus US-amerikanischer Sicht – die ‚Feder‘ sträubt sich dies niederzuschreiben, aber der Zynismus der Fakten muss adäquat auf den Begriff gebracht werden – um „Testopfer“, um „menschliche Versuchskaninchen“ gehandelt. Die später verbreitete Behauptung, die Atombomben seien auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen worden, um Japan zur Kapitulation zu zwingen, war eine Propagandalüge.
Endzeit und Zeitenende
Der 6. August 1945 war nicht ein Tag irgendeiner schrecklichen Katastrophe. Schließlich wimmelt die menschliche Geschichte von Untaten und grausigen Verbrechen. Was dieses Datum zu einer Zäsur – und nicht nur der Menschheitsgeschichte, sondern auch der des gesamten Planeten – macht, ist die Tatsache, dass seit diesem Tage Menschen in der Lage sind, sich selbst als Gattung, möglicherweise gar sämtliches Leben auf diesem Globus zu vernichten.
Der Philosoph Günther Anders (1902-1992), der sich als einer der Allerersten die Aufgabe gestellt hat, für diese präzedenzlose – von keinem Philosophen, selbst keinem Theologen jemals vorhergesehene – Möglichkeit der menschgemachten Apokalypse eine angemessene Sprache zu finden (denn was man nicht benennen kann, kann man auch nicht verstehen, nein: nicht vorstellen, nein: noch nicht einmal richtig wahrnehmen), hat diesen unerhörten Umstand Ende der Fünfziger Jahre auf klassische Formulierungen gebracht.
Hiroshima als Weltzustand. Mit dem 6. August 1945, dem Hiroshimatage, hat ein neues Zeitalter begonnen. Das Zeitalter, in dem wir in jedem Augenblick jeden Ort, nein unsere Erde als ganze in ein Hiroshima verwandeln können. Seit diesem Tage sind wir modo negativo allmächtig geworden; aber da wir in jedem Augenblick zugleich ausgelöscht werden können, bedeutet das zugleich: Seit diesem Tage sind wir total ohnmächtig. Gleich wie lange, gleich ob es ewig währen wird, dieses Zeitalter ist das letzte: Denn sein Charakteristikum, die Möglichkeit unserer Selbstauslöschung, kann niemals enden – es sei denn durch das Ende selbst.
Die Konsequenz: Das menschliche Dasein definiert sich nach Anders seitdem als „Frist“. Wir leben als „Gerade-noch-nicht-Nichtseiende“. Durch diese Tatsache hat sich die moralische Grundfrage verändert: Der klassischen Frage „Wie wollen wir leben?“ hat sich die Frage „Werden wir leben?“ untergeschoben. Anders: „Auf die ‚Wie-Frage‘ gibt es für uns, die wir in unserer Frist gerade noch leben, nur die eine Antwort: ‚Wir haben dafür zu sorgen, dass die Endzeit, obwohl sie jederzeit in Zeitenende umschlagen könnte, endlos werde; also dass der Umschlag niemals eintrete.‘“
Zeitweiliger Widerstand
Die scharfsinnigen Analysen von Menschen wie Günther Anders und Albert Einstein – „Die entfesselte Kraft des Atoms hat alles verändert – nur nicht unsere Art zu denken, und so treiben wir auf eine Katastrophe ohnegleichen zu. Eine neue Art von Denken ist notwendig, wenn die Menschheit weiterleben will.“ – blieben nicht völlig wirkungslos.
Im Juli 1955 rief der Philosoph Bertrand Russell zur Ächtung eines künftigen Weltkrieges auf, der unweigerlich mit Massenvernichtungsmitteln ausgetragen werden würde. Sein Aufruf wurde unter anderem von den Physiknobelpreisträgern Max Born und Albert Einstein unterzeichnet. Ende der Fünfziger Jahre entstanden in der alten Bundesrepublik als Reaktion auf die zeitweise geplante Ausrüstung der Bundeswehr mit taktischen Atombomben die Bewegung „Kampf dem Atomtod“ und die „Ostermarschbewegung“. Gegen eine – vom damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer als „Weiterentwicklung der Artillerie“ – verharmloste atomare Bewaffnung der Bundeswehr wandten sich im April 1957 auch 18 hochangesehene Atomphysiker der Bundesrepublik Deutschland (unter ihnen die Nobelpreisträger Otto Hahn, Max Born und Werner Heisenberg) in ihrem gemeinsamen „Göttinger Manifest“ und verbanden dies mit einem unzweideutigen Akt zivilen Ungehorsams: „Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichnenden bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.“
Die Ostermarschbewegung starb in den Sechziger Jahren zeitweise ab – die SPD hatte ihr auf amerikanischen Druck den Finanzhahn zugedreht –, erlebte aber erste Hälfte der Achtziger Jahre im Zuge des sogenannten NATO-Nachrüstungsbeschlusses zusammen mit der Neuen Friedensbewegung eine Renaissance. Nie gab es, was die Gefahr einer möglichen atomaren Vernichtung betrifft, so viele sensible (und aktionsbereite) Bevölkerungsgruppen wie in den Achtziger Jahren in Westeuropa, den USA und – unter sehr anderen Bedingungen – auch in einigen Staaten des Warschauer Paktes.
Für einen kurzen wunderschönen Moment erreichte in Gestalt von Michail Gorbatschows Politik des „Neuen Denkens“ Einsteins Postulat aus dem Jahre 1946 sogar die Höhen der Weltpolitik. Und keinesfalls vergebens: Vor allem dank der Entschlossenheit der damaligen Sowjetadministration wurden sage und schreibe 80 Prozent aller Atomsprengköpfe weltweit verschrottet!
Zweitausendfünfhundertmal ein Zweiter Weltkrieg
Seitdem haben die Zeiten allerdings gehörig gewechselt. In den vergangenen beiden Jahrzehnten wurden – ausschließlich auf Initiative der USA – fast sämtliche Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträge geschleift, unter anderem der bedeutendste Abrüstungsvertrag der Weltgeschichte, der Ende 1987 von Michail Gorbatschow und Ronald Reagan unterzeichnete INF-Vertrag.
Nicht erst seit Russlands Krieg gegen die Ukraine bekommen die Kalten Krieger wieder Oberwasser: Atombomben sind längst wieder salonfähig, eine neue, noch gefährlichere nukleare Aufrüstungsspirale steht unmittelbar ins Haus, Szenarien für einen möglichen Ersteinsatz – sowohl in den USA als auch in der Russischen Föderation – und einen angeblich begrenz- und gewinnbaren Atomkrieg liegen bereits in den Schubladen und deutsche Politiker/innen, besonders in einer bestimmten ehemals pazifistischen Regierungspartei, faseln von „nuklearer Teilhabe“. Und dies, obwohl die gegenwärtig weltweit gelagerten Atombomben zusammen noch über eine Sprengkraft von rund zweitausendfünfhundert Zweiten Weltkriegen verfügen!
Widerstand gegen diese Entwicklung, wie beispielsweise in Gestalt der 2017 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Internationalen Kampagne für die Ächtung und Abschaffung von Atomwaffen (ICAN), der Internationalen Organisation „Ärzte gegen den Atomkrieg“ (IPPNW) oder der Initiative „Justitia et Pax“, regt sich momentan erst zaghaft.
Die dunkle Wolke
Und die Aufgabe die vor uns liegt, ist nichts weniger als gigantisch: Das Ziel muss nicht nur mit beispielloser Hartnäckigkeit verfolgt werden, sondern auch illusionslos und – endlos!
Auch dies hat Günther Anders bereits Ende der Fünfziger Jahre meisterhaft auf den Begriff gebracht: „So gewaltig der Mensch sein mag – eines kann er nicht: Sein eigenes Können kann er nicht widerrufen! Und so großartig die Fähigkeit seines Lernens sein mag, eines kann er nicht lernen; nämlich dasjenige, was er kann, zu verlernen. Die Atomwaffen, die er gerade hat, die kann er zwar abschaffen; aber seine Kenntnis der Herstellung, die kann er nicht wieder loswerden.“
Das heißt: Selbst wenn es keinen einzigen Atomsprengkopf mehr gäbe, keine Versuchsexplosion, keinen Testflug, keine Abschussrampe und kein Land, das an der Herstellung dieser Waffen arbeiten würde – behoben wäre damit die Gefahr nicht! Da durch die momentane Abschaffung der bedrohenden Geräte die Fähigkeit, diese Geräte herzustellen nicht mit-abgeschafft wäre, würden wir uns noch immer, und zwar für alle Zukunft, in der apokalyptischen Situation befinden, also in der Situation, in der sich die Menschheit durch sich selbst zugrunde richten könnte.
Der notwendige Kampf für eine physische Vernichtung aller existierenden Massenvernichtungsmittel – für die sich in den letzten Jahren der mittlerweile 91jährige Michail Gorbatschow wiederholt ausgesprochen hat – muss daher nach Günther Anders durch Maßnahmen einer anderen Kategorie ergänzt werden, durch Maßnahmen, die uns davon abhalten, dasjenige zu tun, was wir tun können, sprich: diejenigen Geräte herzustellen, deren Herstellungsart zu vergessen wir unfähig sind.
„Das heißt aber: Die Verwandlung des Menschen wird eine Verwandlung seiner Moral sein müssen. Das Bewusstsein, dass es sich hier um ein absolutes Tabu handelt, wird in jedem von uns Milliarden Menschen so tiefe Wurzeln schlagen und wird so allgemein werden müssen, dass, wer auch immer in Betracht zöge, sich zur Durchsetzung seiner politischen Ziele dieser Mittel zu bedienen, sich der Ächtung der gesamten Menschheit gegenübersähe.“
Kurz und ohne Illusionen: Der Kampf gegen die Gefahr der atomaren Selbstvernichtung der Menschheit wird ein niemals mehr endender Kampf sein müssen. Denn jeder der noch kommenden Generationen – sofern es sie geben wird – wird diese Gefahr als Möglichkeit wie eine dunkle Wolke vorausziehen. – Lassen wir dem großen Philosophen des Atomzeitalters das letzte Wort:
„Jeder gewonnene Tag wird zwar ein gewonnener Tag sein. Aber kein gewonnener Tag wird eine Garantie für die Gewinnung des morgigen Tages darstellen. Ankommen werden wir niemals. Was vor uns steht, ist also die Endlosigkeit der Unsicherheit. Und unsere nicht endende Aufgabe wird sein, dass mindestens diese Unsicherheit kein Ende nehme.“