Heftige Demonstrationen in Belgien – und eine neue Waffenart der Russen?
(Red.) Gilbert Doctorow, ein in Brüssel lebender, Russland-kundiger Beobachter der geopolitischen Lage, berichtet diesmal über das andere «Brüssel», also nicht über die Hauptstadt der EU, sondern über die Hauptstadt von Belgien. Aber er schaut sich auch das Moskauer Fernsehen an und liest nicht zuletzt auch die «Financial Times». Dort nämlich wurde gleichentags über eine neue Waffe der Russen berichtet, die in den deutschsprachigen Medien bisher noch kein großes Thema war: die «Electromagnetic Pulse» EMP. Ihr Einsatz würde, so Gilbert Doctorows Einschätzung, den Kriegsverlauf in der Ukraine total verändern. (cm)
Nachdem ich kürzlich erläutert habe, wie die europaweite Energiekrise die Haushaltskasse der großen Mehrheit der Belgier jeden Monat in die roten Zahlen treibt, und nachdem ich darüber spekuliert habe, ob und wann diese unhaltbare Situation zu zivilen Unruhen führen wird, ist es meine Pflicht, über den jüngsten „landesweiten Streik“ in Belgien zu berichten: nämlich welche Forderungen die Gewerkschaftsführer, die zu dem Streik aufgerufen haben, gestellt haben, welche Auswirkungen ihre Aktion auf das tägliche Leben hier hatte und, was am wichtigsten ist, ob dies in irgendeiner Weise Veränderungen in Bezug auf die belgische Unterstützung der EU-Politik der Sanktionen gegen Russland und der militärisch-finanziellen Hilfe für die Ukraine ankündigt.
Der Streik wurde nicht als „Generalstreik“, sondern als „landesweiter Streik“ bezeichnet, da die beiden größten Gewerkschaften des Landes eigenständig handelten und mehrere klar definierte Wirtschaftssektoren vertraten, darunter vor allem das Transportwesen. Die belgische Eisenbahn wurde fast vollständig stillgelegt, ebenso wie die meisten kommunalen öffentlichen Verkehrsmittel, also U-Bahnen, Straßenbahnen und Busse, wobei einige Linien mit stark eingeschränktem Service trotz allem betrieben wurden. Von den beiden nationalen Flughäfen, die kommerzielle Flüge anbieten, wurde «Charleroi» vollständig geschlossen, während «Zaventem» bei Brüssel 60 Prozent seiner Flüge stornierte. Im Einzelhandel wurden die wichtigsten Supermarktketten geschlossen. Postämter, Krankenhäuser, Gefängnisse und viele andere öffentliche Dienste wurden auf dem für Sonntage typischen Mindestniveau gehalten. Die Schulen immerhin blieben geöffnet. Auch die meisten Geschäfte, Gaststätten und anderen privaten Unternehmen blieben geöffnet.
Die Gewerkschaftsbosse bezeichneten den Aktionstag als Erfolg. Es war ein Schuss vor den Bug der Regierung, um vor den Forderungen zu warnen, die die Gewerkschafter in den kommenden Wochen erfüllt sehen wollen. Diese Forderungen sind rein wirtschaftlicher Natur: Die Regierung soll dabei helfen, eine Obergrenze für Energierechnungen für Haushalte einzuführen und die gesetzlich vorgeschriebenen Kontrollen für zulässige Lohnerhöhungen aufzuheben, damit die Arbeitnehmer neue Verträge aushandeln können, mit denen die Löhne ausreichend erhöht werden, um die anhaltend hohe Inflation auszugleichen. Premierminister De Croo erklärte seinerseits, dass die geltenden Bestimmungen zur Lohnindexierung die belgischen Arbeitnehmer besser schützen würden als in den meisten anderen Ländern, und er rief die Bevölkerung dazu auf, an einem Strang zu ziehen und Uneinigkeit zu vermeiden.
Die Sanktionen gegen Russland blieben tabu
Was ist hiervon zu halten? Die wichtigste Schlussfolgerung ist, dass beide Seiten absichtlich den Elefanten im Raum ignorieren, nämlich die Sanktionen gegen Russland, die die Energiekosten im Laufe dieses Jahres absolut dramatisch in die Höhe getrieben haben. Wahrscheinlich haben die Gewerkschaften absichtlich beschlossen, die Vorrechte der Regierung nicht zu verletzen, indem sie politische Forderungen stellen. Um es mit den Worten der BBC-Wirtschaftsnachrichten zu sagen: Sie stellten keinen „Zusammenhang“ zwischen der Außenpolitik des Landes und den steigenden Lebenshaltungskosten her.
Das Problem ist, dass eine Indexierung oder noch höhere Gehaltserhöhungen in den kommenden Monaten die Inflation noch mehr verschärfen und sie noch hartnäckiger und länger anhaltend machen werden. Da zudem viele der jetzt Streikenden Staatsbedienstete sind, werden ihre Lohnerhöhungen in den kommenden Monaten den Bundeshaushalt in ein noch größeres Defizit treiben, was einen Verstoß gegen die EU-Finanzvorschriften darstellt und das Risiko von Sanktionen der einen oder anderen Art birgt. In der Zwischenzeit werden sich die privaten Arbeitgeber wahrscheinlich gegen größere Lohnerhöhungen wehren, die über das gesetzlich festgelegte Niveau hinausgehen, da dies die Kosten und ihre eigenen Verkaufspreise auf ein auf den Weltmärkten nicht mehr wettbewerbsfähiges Niveau treiben würde. Wir können davon ausgehen, dass das Kompetenzgerangel noch einige Zeit andauern wird und möglicherweise zu wilden Streiks und anderen Arbeitsunruhen führen wird.
Im Osten nichts Neues?
So viel zu Belgien. Was Russland betrifft, so ist das, was ich gerade beschrieben habe, nicht sehr vielversprechend, um einen Politikwechsel im Westen herbeizuführen, der das Ende des Krieges durch die Kürzung der militärischen und finanziellen Unterstützung für Kiew näher bringen würde. Es entspricht der realistischen Einschätzung der Lage, mit der Russland konfrontiert ist, wie sie im staatlichen Fernsehen immer häufiger zu hören ist. Die Morgenausgabe der Nachrichten- und Kommentarsendung ‚Sixty Minutes‘ war ein typisches Beispiel dafür. Wie die Diskussionsteilnehmer und die Moderatoren sagten, versprechen die Ergebnisse der Wahlen in Amerika keine schnelle Wende in der Außenpolitik Washingtons. Und Westeuropa seinerseits scheint wirtschaftlich oder politisch noch nicht zusammenzubrechen. Die Schlussfolgerung: Der Krieg wird nur als Folge des russischen Sieges auf dem Schlachtfeld enden, nicht aufgrund anderer Ereignisse.
Wie aber verläuft der Krieg vor Ort? Nach Ansicht der Experten in „Sixty Minutes“ haben die rund 80.000 kürzlich mobilisierten russischen Truppen an der Front das Ziel erreicht, die Linien zu halten, so dass sie seit einigen Tagen stabil sind und sich trotz täglicher ukrainischer Angriffe auf bestimmte Punkte kaum bewegen. Die Angreifer werden mit großen Verlusten auf ukrainischer Seite zurückgeschlagen, ohne dass dies jedoch strategische Folgen hätte. Die Russen sprechen von 10.000 ukrainischen Toten in der Kampfzone um Cherson im Laufe des Monats Oktober. Gleichzeitig erklären sie, dass sie sich aus der Stadt Cherson zurückziehen, da sie gesehen haben, dass die logistischen Herausforderungen bei der Versorgung ihrer Truppen am Westufer des Dnepr derzeit zu groß sind; sie werden den Kampf aber auf der anderen Seite des Flusses, am Ostufer, fortsetzen. Bereits haben sie 110.000 Zivilisten aus der Stadt Cherson nach Osten evakuiert, das heißt im Wesentlichen auf die Krim und in die südlichen Regionen des europäischen Russlands.
Der Krieg befindet sich im Moment also in einer Patt-Situation. Das wird sich erst ändern, wenn die weiteren rund 140.000 Reservisten ihre Ausbildung abschließen und für die russische Gegenoffensive im Jahr 2023 in die Schlacht geschickt werden. Das könnte den Ausschlag geben, vielleicht, oder auch nicht, je nachdem, welche neuen hochmodernen Waffen Washington bis dahin nach Kiew liefern wird.
Haben die Russen eine neue Waffenart zur Verfügung?
All diese Überlegungen bringen mich zu einem Thema, das ich bisher als „taktische Atomschlag“ abgetan hatte. In einem Artikel in der «Financial Times» wird dieser Begriff jedoch in einer sehr spezifischen Form formuliert, die sich von den für den Einsatz auf dem Schlachtfeld konzipierten Atomwaffen mit geringer Sprengkraft, die die Russen angeblich nicht benötigen, deutlich unterscheidet. Es handelt sich um einen „elektromagnetischen Impulsschlag“ (Electromagnetic Pulse EMP), der das militärische Potenzial der Ukraine mit einem Schlag ausschalten können soll, indem er alle elektronischen und elektrischen Geräte am Boden im ganzen Land und auch Satelliten im Weltraum außer Gefecht setzt. Es handelt sich dabei um einen nuklearen Sprengsatz, der durch eine Hyperschallrakete befördert und in großer Höhe gezündet wird. Es gäbe keine Wolke, keine physische Zerstörung von Gebäuden und keine Todesopfer am Boden. Und die Russen sollen dies bereits über der Barentssee getestet haben.
Diese hochmoderne Waffe, die bisher von niemandem eingesetzt wurde, würde in der Tat der Aussage Wladimir Putins zu Beginn des Krieges entsprechen, dass Russland über „militärisch-technische Mittel“ verfüge, um die Oberhand zu gewinnen – ein Ausdruck, der viele westliche Analysten rätseln ließ, als er gebraucht wurde. Es würde auch Putins jüngste Erwähnung der amerikanischen Bombenangriffe auf Hiroshima und Nagasaki in einen angemessenen Kontext stellen. Sowohl im Fall von 1945 als auch im möglichen aktuellen Fall bestand und besteht das Motiv derjenigen, die die neuen Waffen einsetzen, darin, das Leben Zehntausender eigener Soldaten zu schonen und einen Krieg schnell zu beenden. Der Unterschied bestünde allerdings darin, dass der amerikanische Einsatz von Atomwaffen Hunderttausende von japanischen Zivilisten das Leben kostete, während der mögliche russische Einsatz eines taktischen «elektromagnetischen Impulses» praktisch keine Menschenleben kosten würde.
Ich überlasse es dem Leser zu entscheiden, ob dies darauf hinauslaufen würde, die Büchse der Pandora des nuklearen Schreckens zu öffnen, wie Washington es andeutet hat.
Nachtrag vom 10. November: Ein Leser hat zu Recht angemerkt, dass ein EMP-Angriff auch mit einem nichtnuklearen Sprengstoff erfolgen könnte, über den die Russen ebenfalls verfügen sollen. Diesem Thema wird große Aufmerksamkeit geschenkt werden müssen. Und ich betone weiter, dass Russlands möglicher Übergang zu völlig neuen Methoden der Kriegsführung, bei denen es zusammen mit den USA weltweit „führend“ ist, nur als Reaktion auf eine Eskalation der waffentechnischen Einsatzmöglichkeiten der von den USA und der NATO an die Ukraine gelieferten Waffen erfolgen wird. Russland bleibt eine „reaktive“ Macht. (Siehe zum Thema “reaktiv“ auch einen Artikel von Christian Müller: hier anklicken.)
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Meinungen in Beiträgen auf Globalbridge.ch entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Zum Originalartikel von Gilbert Doctorow hier anklicken. Siehe auch «More about Electromagnetic Pulse Warfare». Die Übersetzung ins Deutsche besorgte Christian Müller, der auch die Zwischenüberschriften setzte.
Siehe dazu auch: US-Militärberater attestieren Putin ein defensives Verhalten (von Christian Müller)
Zur Information hier der Beginn des Artikels in der «Financial Times», original englisch: «So far, Russia’s threats of escalation against Ukraine have been largely interpreted as a veiled reference to the use of traditional nuclear weapons. But there is another tool which Vladimir Putin may be considering: a tactical electromagnetic pulse, or EMP, strike. These weapons — designed to create a powerful pulse of energy which short-circuits electrical equipment such as computers, generators, satellites, radios, radar receivers and even traffic lights — could disable Ukraine’s military and civilian infrastructure at a stroke and leave the country without light, heat, communications or transport. EMP attacks have been amply explained, and even clamoured for, on Russian state TV talk shows. A Russian colonel has demonstrated on air, with maps and charts, how such a blast over the Baltic Sea might work. It may well be that Putin and his generals have been warning us about this possibility all along, with their enigmatic threats to unleash unspecified “military-technical measures”. A tactical nuclear weapon used to create an explosion would most likely be ineffective against the mobile, dispersed combination of guerrilla and conventional warfare that Ukrainians are deploying to reclaim their territory. But the use of a nuclear weapon for electromagnetic warfare is a different matter. The signature of this type of attack would not be a fireball and mushroom cloud but a weird electric blue medusa orb pulsing directly overhead, followed by silence. At that altitude, the sound will not carry. A relatively small nuclear EMP, easily deployed at high altitude by Russia’s hypersonic Zircon cruise missiles, might not destroy any buildings or kill anybody. But it could permanently disable electrical circuits over thousands of square miles of Ukrainian territory. Virtually all the defence equipment deployed by Nato allies to Ukraine — such as radios, GPS navigation, and aerial drones — are dependent on electronics, if not for operations, then for deployment, maintenance and integration. The lingering electromagnetic effects of a strike could destroy 90 per cent of the satellites over the afflicted zone within three months.»