Michail Gorbatschow. Seine Verdienste auch als Staatsmann sind gross. (Bild «The National Interest»)

Gorbatschow verunglimpfen und seine Perestroika verzerren: So werden mögliche Lehren aus dem Ende des Kalten Krieges verweigert

(Red.) Die geomachtpolitisch motivierte westliche Russophobie hat dazu geführt, dass nach dessen Tod nun auch an Michail Gorbatschow Rufmord verübt wird. Es kann und darf ja nicht sein, dass ein Russe Positives und Weltbewegendes geleistet hat. Doch jetzt hat der US-amerikanische Russland-Spezialist Robert David English in die Tasten gegriffen und en détail aufgezeigt, welche notwenigen Reformen in Russland Gorbatschow damals tatsächlich angestossen hat und wo er, vor allem aufgrund des Widerstandes konservativer Kreise und der regionalen Bürokratie, – leider – nicht erfolgreich war. Hochinteressant! – Die zweimonatlich erscheinende US-Zeitschrift «The National Interest» hat Globalbridge.ch erlaubt, den Beitrag von Robert David English zu übernehmen und in deutscher Sprache zu publizieren. (cm)

Der Tod von Michail Gorbatschow hat eine Flut von Kommentaren ausgelöst, die die alte Weisheit bestätigen, dass „die Geschichte, die wir schreiben, mehr über die Gegenwart als über die Vergangenheit aussagt“. Einige würdigen die bemerkenswerten Leistungen des ehemaligen sowjetischen Führers bei der Überwindung der jahrzehntelangen Konfrontation des Kalten Krieges und der Überwachung eines friedlichen Rückzugs aus dem Imperium, bei der Vermenschlichung und Demokratisierung eines rücksichtslosen Kommandosystems, das letztlich nicht reformiert werden konnte. Aber andere verunglimpfen oder ignorieren seine Leistungen in verzerrten, geschichtlich unhaltbaren, unanständigen Darstellungen, picken sich irgendwelche Fakten heraus oder sie stellen ihn einfach falsch dar. Charakterisierungen von Gorbatschow als „Quintessenz eines Apparatschiks“ oder eines blutbefleckten „Totalitaristen“, der nicht danach strebte, „die Tyrannei zu beenden“ und sich Russland nur als „ein Imperium“ vorstellen konnte, sind wirklich bizarr – und sagen uns mehr über die gegenwärtigen Vorurteile ihrer Autoren als über die vergangenen Dramen der Perestroika und das Ende des Kalten Krieges. Diese Vorurteile gehen so weit, dass sie Gorbatschow mit Wladimir Putin vergleichen oder ihn sogar für Putins Krieg gegen die Ukraine verantwortlich machen. Es wäre in der Tat bedauerlich – eine schlechte Geschichte der Vergangenheit und eine noch schlechtere Lehre für die Zukunft –, wenn ein solcher Zynismus die Oberhand gewänne und eine kühne, prinzipientreue und global denkende Führungspersönlichkeit von einem Objekt der Bewunderung in ein Objekt der Lächerlichkeit verwandeln würde. Russland ist nicht das einzige Land, das gerade jetzt einen weiteren Gorbatschow gebrauchen könnte.

Häufig wird Gorbatschows Führungsrolle während der Perestroika, seine Bemühungen um die Reform und Liberalisierung des ausufernden, stagnierenden sowjetischen Systems nachgerade herablassend abgetan. Ist Gorbatschow daran schuld, dass es ihm nicht gelang, die Wirtschaft wieder anzukurbeln, weil er „verwirrt“ war, weil er die Probleme des Systems „nie verstanden“ hat und keinen Plan für eine „geordnete Wirtschaftsreform“ hatte, wie Anne Applebaum in «The Atlantic» behauptete? Dazu sind mehrere Dinge anzumerken: Zunächst einmal sollte man sich die kolossale Größe der Aufgabe vor Augen führen – und das riesige, verkrustete, veraltete bürokratische Monster, das die sowjetische Wirtschaft 1985 war. Natürlich ging die Perestroika nach dem Prinzip „trial and error“ – „Versuch und Irrtum“ – vor sich, und natürlich fehlte Gorbatschow ein detaillierter Plan für etwas, das selbst unter den besten Umständen nicht „geordnet“ hätte ablaufen können, ganz zu schweigen von den Umständen, die er geerbt hatte: eine abgekämpfte Gesellschaft und eine stagnierende Wirtschaft, die sowohl durch die fallenden Ölpreise als auch durch das rasende Wettrüsten zu leiden hatte. Niemand hatte einen wirklichen Plan, denn nichts von solchem Ausmaß war je zuvor versucht worden. Verglichen mit der verknöcherten sowjetischen Wirtschaft, die seit 1917 unter staatlicher Kontrolle stand, waren die Reformen Polens, das sich eine private Landwirtschaft und viel Unternehmertum bewahrt hatte, da der Kommunismus dort erst nach 1945 eingeführt wurde, oder auch die Reformen der baltischen Staaten, klein, agil, mit wichtigen kulturellen und finanziellen Verbindungen zum Westen, ein Kinderspiel. Entscheidend war auch, dass die polnischen und baltischen Reformer davon profitierten, dass es keinen konzertierten Widerstand gab, da ihre Reformen erst nach Gorbatschows Vorstoß zur Demokratisierung und seiner Duldung des Zusammenbruchs der kommunistischen Parteiherrschaft begannen. Niemand machte den Weg für Gorbatschow frei, dessen anfängliche Wirtschaftsreformen ins Stocken gerieten, während er selbst sich gleichzeitig um die Liberalisierung des sowjetischen politischen Systems bemühte – zunächst durch Glasnost und dann durch kompetitive Wahlen, von Stadträten und regionalen Parlamenten bis hin zu einem neuen nationalen Parlament.

Ein Flugzeug, das abhebt, ohne zu wissen, wo es landen wird?

Ein gängiges Klischee von Gorbatschows Gegnern in der sowjetischen Intelligenz lautete: „Die Perestroika ist wie ein Flugzeug, das abhebt, ohne zu wissen, wo es landen wird“. Nun, schauen Sie nach China, wenn Sie eine „geordnete Wirtschaftsreform“ in einem riesigen, zentralisierten Einparteiensystem suchen, und Chinas Agrarwirtschaft war immer noch leichter zu liberalisieren als das komplexe industrielle Ungetüm der UdSSR. Tatsächlich wusste selbst Deng Xiaoping nicht genau, wohin die Reformen in China führen würden, und soweit sie mehr oder weniger in die gewünschte Richtung gelenkt wurden, geschah dies mit viel politischer Gewalt und null politischer Liberalisierung. Dies muss betont werden: Gorbatschows Reformen stießen nicht nur auf den Widerstand hochrangiger Beamter des Zentralkomitees und einiger Mitglieder des Politbüros. Selbst wenn Initiativen ergriffen und Gesetze verabschiedet wurden, blieben sie aufgrund bürokratischer Widerstände und offener Sabotage durch lokale Beamte einfach stecken. In einer Regierungspartei, in der sich die Macht verlagert und die Korruption nachgerade gewuchert hatte, fehlten Gorbatschow die Hebel zur Umsetzung und Durchsetzung, die seinen chinesischen Kollegen zur Verfügung standen. Ein weiterer Widerspruch der Gorbatschow-Kritiker besteht darin, dass sie ihm vorwerfen, er habe die wirtschaftlichen Reformen nicht ausreichend kontrolliert, während er zu viel Kontrolle über die politischen Reformen behalten habe. Wie können sie sich vorstellen, dass eine schnellere Demokratisierung mit der daraus resultierenden lähmenden Polarisierung und dem nationalen Separatismus „geordnetere“ Marktreformen erleichtert hätte? Dies wirft ein Schlaglicht auf eine weitere Plattitüde der Intelligenz aus den 1990er Jahren, die Gorbatschows Kritiker nach seinem Tod nun wieder aufleben lassen, nämlich dass er das alte System zerstört, aber „nichts an dessen Stelle gesetzt“ habe. Wie erklären die Kritiker dieses Versagen? Applebaum zufolge „wusste Gorbatschow, dass die sowjetische Gesellschaft stagnierte und die sowjetischen Arbeiter unproduktiv waren, [aber] er hatte keine Ahnung, warum“.

«Politischer Widerstand auf höchster Ebene»

Der Wirtschaftswissenschaftler Anders Åslund, einer der führenden westlichen Experten auf dem Gebiet der Transformationsökonomie, der Gorbatschows Reformen vor Ort in Moskau analysiert hat, ist da anderer Meinung. In der Mitte der Perestroika beurteilte er Gorbatschow als „radikalen Reformer„, der gegen „politischen Widerstand auf höchster Ebene“ kämpfte, um wichtige Marktmechanismen in die sowjetische Wirtschaft einzuführen. Außerdem betonte er, dass Gorbatschow 1983, zwei Jahre vor seiner Machtübernahme, eine schonungslose Bestandsaufnahme der sozioökonomischen Probleme des Landes vorgenommen und kurz darauf eine marktorientierte Reformagenda skizziert hatte, was keinen Zweifel daran ließ, dass „Gorbatschow die Tiefe der Probleme der sowjetischen Gesellschaft erkannt hatte“. Seitdem hat eine Vielzahl von Forschungsarbeiten Åslunds frühe Einschätzung bestätigt. In zahlreichen Artikeln, Büchern, Interviews und Dokumentarfilmen wird detailliert beschrieben, wie Gorbatschow, obwohl er als äußerlich konventionelles Mitglied der Nomenklatura im sowjetischen System aufstieg, konsequent reformistische Neuerungen unterstützte und zunehmend von den Grausamkeiten desselben Systems frustriert war – von den bedrückenden Bedingungen in den Kolchosen bis hin zur Arroganz und Korruption der Parteifunktionäre. Besonders bemerkenswert ist, wie weit Gorbatschow (und seine Frau Raisa) Anfang der 1980er Jahre auf kritische Experten und liberale Intellektuelle in allen Bereichen der Politik zuging – einschließlich reformorientierter Soziologen und Ökonomen. Zweifellos war er immer noch mehr Sozialist als Sozialdemokrat, weit entfernt von dem radikalen Reformer, der er in wenigen Jahren werden sollte. Aber der aufgeschlossene und innovative Gorbatschow beschäftigte sich intensiv mit einer Vielzahl von Problemen und den dazugehörigen Reformvorschlägen, was die absurde Behauptung widerlegt, er sei „verwirrt“ gewesen und habe „keine Ahnung“ gehabt, was in der sowjetischen Gesellschaft falsch lief.

Die Realität ist eine andere

Aber, was immer seine Absichten auch gewesen gewesen sein mögen, stimmt es denn immer noch, dass Gorbatschow das alte System untergrub, aber „nichts an seine Stelle setzte“? Die Realität ist: Gorbatschow legalisierte innerhalb weniger Jahre das private Unternehmertum; er gab den staatlichen Unternehmen weitgehende Autonomie von der erdrückenden zentralen Planung; er öffnete die Türen für ausländische Investitionen und sogar für mehrheitliches ausländisches Eigentum an Joint Ventures; er beendete das staatliche Außenhandelsmonopol; er erlaubte die langfristige private Verpachtung von staatlichem Ackerland; er legalisierte sogar die Gründung privater Geschäftsbanken. Als einer, der selber für ein neues privates Unternehmen (eine Nachrichtenagentur, 1989) und dann in einem amerikanisch-sowjetischen Joint Venture (Beratung für ausländische Investitionen in der verarbeitenden Industrie, 1990-1991) arbeitete, konnte ich persönlich aus nächster Nähe sowohl den weitreichenden Charakter dieser Reformen als auch die enormen Schwierigkeiten beobachten – vor allem bürokratische Widerstände und bestechliche Beamte –, auf die die Reformen bei ihrer Umsetzung stießen. Kein Wunder, dass sich die Konservativen dagegen wehrten; es handelte sich um erstaunliche Schritte, die bis zu ihrer Ankündigung unvorstellbar gewesen waren.

Ja, Gorbatschow akzeptierte nur langsam die Notwendigkeit einer umfassenden Marktöffnung der sowjetischen Wirtschaft, und einige seiner partiellen Marktschritte schlugen in einem System, in dem noch viel zentrale Planung und Staatseigentum herrschte, fehl. Während seiner Amtszeit schreckte er vor groß angelegten Privatisierungen zurück, weshalb er das von einem Team von Wirtschaftsreformern 1990 ausgearbeitete 500-Tage-Programm nicht weiterverfolgte. Da es schließlich auf Eis gelegt wurde, haben die 500 Tage für viele Gorbatschow-Kritiker im Nachhinein einen mythischen Status erlangt. Doch insofern, als dieses 500-Tage-Program darauf abzielte, in weniger als zwei Jahren das zu erreichen, was unter Gorbatschows Nachfolger Boris Jelzin in fünf Jahren dann so furchtbar schief gelaufen ist, und dieses 500-Tage-Programm nicht nur für Russland, sondern für die gesamte UdSSR vorgesehen war, wo es zusätzlich zwischen den Sowjetrepubliken einen Verdrängungskampf um Eigentum ausgelöst hätte, wäre es mit Sicherheit gescheitert. Es war zwar ein „mutiger Versuch“ einer raschen Marktöffnung, aber er war auch „schlecht definiert“, „undurchführbar“ und „voller Ungereimtheiten“. Hätte Gorbatschow es versucht, wäre er wahrscheinlich 1990 mit einem Hardliner-Putsch konfrontiert worden, statt mit dem, den er dann 1991 erlebte. (Tatsächlich wurde 1990 auch ein „administrativer Staatsstreich“ versucht, um seine präsidialen Befugnisse auf einen konservativen Premierminister zu übertragen.) Wie uns seine ehemaligen Berater in Erinnerung rufen, war Gorbatschow nie frei von der Gefahr einer plötzlichen Absetzung durch Hardliner in der Führungsriege.

Gorbatschow legte den Grundstein für marktwirtschaftliche Reformen

Dennoch legte Gorbatschow den Grundstein für marktwirtschaftliche Reformen. Anstatt zu behaupten, dass er dies nicht getan hat, sollte man sich lieber fragen, warum es seinem Nachfolger Jelzin nicht gelungen ist, darauf in „geordneter“ Weise aufzubauen. Während in Gorbatschows letztem Jahr eine tiefe Desillusionierung der Bevölkerung und eine lähmende Polarisierung der herrschenden Elite zu verzeichnen war, wurde Jelzin 1992 mit einem breiten Volksmandat, besonderen Notstandsbefugnissen und dem Verbot der Kommunistischen Partei unangefochtener Führer Russlands. Warum baute Jelzin mit diesen Vorteilen – und zig Milliarden Dollar an westlicher Hilfe, die Gorbatschow verweigert worden war – nicht auf den Schritten seines Vorgängers auf, um „ordentliche“ Marktreformen durchzuführen? Warum wurde beispielsweise die Regulierung des boomenden privaten Bankensektors, der zuvor von Gorbatschow legalisiert worden war, anschließend bis zum katastrophalen finanziellen Zusammenbruch Russlands im Jahr 1998 vernachlässigt? Warum ignorierte Jelzin die Dringlichkeit von Krediten für kleine Unternehmen und landwirtschaftliche Betriebe und ließ stattdessen zu, dass sich die russischen Banken zu Werkzeugen der Öl-Oligarchen und Geldwaschmaschinen des organisierten Verbrechens entwickelten? Warum tat er den Oligarchen den Gefallen, ausländische Konkurrenz aus dem Finanzsektor auszuschließen und damit ihren parasitären Praktiken Vorschub zu leisten? Warum ist es Jelzin in fast einem Jahrzehnt an der Macht nicht gelungen, das vollständige Privateigentum an Grund und Boden zu legalisieren? Jelzins einzige große „Markt“-Reform war ein Prozess zur Privatisierung von Staatseigentum, der in einer so total verarmten Gesellschaft so total korrupt war, dass eine ganze Generation von Russen dem Kapitalismus der freien Marktwirtschaft ablehnend gegenüberstand. Wenn man jemandem vorwerfen kann, dass er das alte System zerstört und „nichts an seine Stelle gesetzt hat“ – außer einem falschen Glauben an die Magie des ungehinderten freien Marktes -, dann ist es Jelzin.

Es ist bedauerlich, dass die offensichtlichen Misserfolge der 1990er Jahre nicht dazu geführt haben, dass man über die Herausforderungen der 1980er Jahre nachgedacht und zumindest eine bescheidene Einschätzung dessen, was Gorbatschow zu bewältigen hatte, vorgenommen hat. Es handelt sich um eine merkwürdige Art von Gegenwartsbezug, der sowohl die Voreingenommenheit der Rückschau als auch ein verworrenes Bild der Vergangenheit zeigt – beruhend zum Teil auf Vorurteilen der sowjetischen Intelligenz , die sich bis 1991 verhärtet hatten. Eines dieser Vorurteile war die hochmütige Verachtung für Gorbatschow, einfach weil er so war, wie er war – ein Parteifunktionär allerdings, der mit einem ausgeprägten südlichen Akzent sprach, gehörte definitiv nicht dazu! Ein weiteres war die weit verbreitete Unkenntnis der Wirtschaft: Abgesehen von ihren eigenen Erfahrungen mit einem korrupten Kommandosystem waren den meisten die Grundlagen von Landwirtschaft und Industrie oder Geld und Handel fremd. (In einem Jahr habe ich mehr Fabriken und Bauernhöfe besucht, als die meisten Intelligenzler in ihrem ganzen Leben zu sehen pflegen.) Daher hörte man häufig Sprüche wie „Was wir brauchen, ist echte Selbstverwaltung“ und „Man kann einen Abgrund nicht in zwei Sprüngen überqueren“ oder „Warum versuchen wir das jugoslawische Modell? Das schwedische Modell ist eindeutig besser“, Sprüche, die mit ernster Miene vorgetragen wurden, als ob solche scharfen Einsichten jenseits des Wissens von Dummköpfen wie Gorbatschow lägen. Am wichtigsten war vielleicht, dass 1991 die meisten der kulturellen Intelligenz – Schriftsteller, Filmemacher, Historiker – den „unentschlossenen“ Gorbatschow zugunsten des „kühnen“ Jelzin fallengelassen hatten und sich bis heute schwer tun, es einzugestehen: „Vielleicht haben wir uns geirrt.“

Fehlinformationen auch im «The New Yorker»

Ihr Vorurteilsparadigma ist so stark, dass es bei einigen Publizisten die Erinnerung an grundlegende Fakten und Schlüsselereignisse buchstäblich durcheinander bringt. Wie Mascha Gessen Ende August in «The New Yorker» schrieb: „Andrej Sacharow, ein Dissident, der in den Obersten Sowjet gewählt wurde, nachdem Gorbatschow ihn aus dem internen Exil entlassen hatte, argumentierte gegen das Monopol der kommunistischen Partei. Galina Starowoitowa, eine akademische Ethnografin, die zur Politikerin wurde, argumentierte, dass das Imperium aufgelöst werden müsse, und schlug einen Unionsvertrag vor, der die sowjetische Kolonialstruktur ersetzen sollte. Gorbatschow lehnte beide Ideen ab.“ Sacharow wurde tatsächlich in den Kongress der Volksdeputierten gewählt, die weitgehend demokratische neue Legislative, die Gorbatschow 1989 geschaffen hatte (eine Tatsache, die für manche von Interesse sein dürfte, wenn sie sich daran erinnern, wie die UdSSR demokratisiert wurde). Was das Machtmonopol der Kommunistischen Partei betrifft, so war es in Wirklichkeit Gorbatschow, der im März 1990 demselben Kongress eine Verfassungsänderung vorschlug – und gegen den erbitterten Widerstand der Partei durchsetzte –, mit der dieses Monopol beendet werden sollte. Vier Monate später, im Juli 1990, war es erneut Gorbatschow, der in einer landesweiten Ansprache erklärte, das Land müsse im Rahmen eines neuen Unionsvertrags dezentralisiert werden, und es war Gorbatschow, der enorme Anstrengungen unternahm, um das Projekt durch mühsame Verhandlungen voranzutreiben, bis 1991 neun der fünfzehn Sowjetrepubliken einem Entwurf zustimmten (und es war genau die formelle Unterzeichnung dieses dezentralisierten neuen Unionsvertrags, die die Putschisten vom August 1991 zu verhindern suchten).

Wenn man wirklich glaubt, dass „Gorbatschow beide Vorstellungen abgelehnt hat“ – die Beendigung des Machtmonopols der Kommunistischen Partei und die Aushandlung eines neuen Unionsvertrags –, dann ist die Verachtung für Gorbatschows demokratischen, antiimperialistischen Ruf verständlich. Das Problem ist nur, dass er es nicht getan hat, und das ist nicht das einzige Problem dieser Art. Mascha Gessen fährt fort: „Im März 1991, nachdem nicht nur die baltischen Staaten, sondern auch Russland und die Ukraine – die größten Sowjetrepubliken – für die Abspaltung von der Union gestimmt hatten, veranstaltete Gorbatschow ein Referendum über den Erhalt der UdSSR.“ Aber Russland hat nie eine Abstimmung über die Abspaltung von der UdSSR abgehalten, nie! (Der Glaube, dass dies der Fall war und die Russen für den Austritt aus der UdSSR gestimmt hätten, ist ein ähnliches Missverständnis der russischen Politik wie der Glaube in den USA, Donald Trump habe die Präsidentschaftswahlen 2020 in den USA gewonnen. Meinungsumfragen, die unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion durchgeführt wurden, zeigten, dass die Russen das Ende der UdSSR mit einer 3:1-Mehrheit bedauerten.) Im Gegensatz dazu stimmten die Ukrainer in einem Referendum 1991 mit überwältigender Mehrheit für die Abspaltung. Aber sie taten dies erst am Vorabend des Zusammenbruchs der UdSSR im Dezember, nicht im März, und erst nachdem mehrere kritische Ereignisse dazwischengekommen waren – am dramatischsten der Putschversuch im August. Angesichts dieses Wirrwarrs an Irrtümern darüber, was wann geschah, ist die Schlussfolgerung „‹Gorbatschow hat Gewalt angewendet und Abstimmungen manipuliert›, um die UdSSR zu erhalten“, nur schwer nachzuvollziehen.

Hat Gorbatschow Gewalt angewendet?

Ohne Beweise für die „Manipulation“ von Abstimmungen (bis Gorbatschow gab es in der Sowjetunion gar keine echten Abstimmungen!), wie steht es mit seinem Einsatz von Gewalt zur Rettung der UdSSR? Wie bei der sowjetischen Wirtschaft, so auch beim Zusammenbruch der Sowjetunion, hilft ein kurzer Überblick, die Ereignisse in den richtigen Kontext zu setzen. Der erste größere Zwischenfall unter Gorbatschow war ein Massenprotest – und dessen brutale Niederschlagung – in der Republik Kasachstan im Jahr 1986. Nach einer Version der Ereignisse waren kasachische Studenten wütend darüber, dass Gorbatschow einen Parteisekretär ernannte, der ethnisch russisch war. Nach einer anderen Version protestierten dieselben Studenten, inspiriert von Gorbatschows Aufruf zur Perestroika, gegen den miserablen Lebensstandard und die offizielle Korruption. In beiden Fällen waren lokale Partei- und Sicherheitsbeamte für die gewaltsame Unterdrückung der Proteste verantwortlich, die Dutzende von Menschenleben forderten.

Jeder nachfolgende Ausbruch interethnischer Gewalt war anders und doch in zweierlei Hinsicht ähnlich. Zum einen hatten sie ihren Ursprung in lange schwelenden Missständen, die durch Gorbatschows Entfesselung von Glasnost und Demokratisierung neu entfacht wurden. Zum anderen trafen lokale Beamte die entscheidenden Entscheidungen. Es gibt keine Beweise dafür, dass Gorbatschow jemals den Einsatz tödlicher Gewalt angeordnet hatte. Die politische Mobilisierung der Armenier begann 1987 mit Umweltprotesten, gefolgt von Forderungen nach einer Vereinigung mit Karabach (einer armenischen Enklave in Aserbaidschan), damals, als es den Menschen erlaubt wurde, sich zu versammeln, der Presse erlaubt wurde, zu berichten, und als den Parlamenten von Karabach und Armenien erlaubt wurde, zu wählen. Im Jahr 1988 eskalierten die interethnischen Zusammenstöße zu bösartigen anti-armenischen Pogromen. Gorbatschow hat in der Karabach-Diplomatie sicherlich versagt, er schwankte zwischen einer pro-armenischen und einer pro-aserbaidschanischen Politik und verärgerte schließlich beide Seiten. Aber es ist auch klar, dass er versuchte, Gewalt zu vermeiden, und dass er befürchtete, die Gewährung historischer Gerechtigkeit für Karabach könnte weitaus mehr Blutvergießen auslösen, wenn er damit Forderungen nach einer Neuziehung auch vieler anderer umstrittener Grenzen legitimierte.

Im Ferghanatal, das Usbekistan und Kirgisistan gemeinsam bewohnen, flammten 1989-1990 interethnische Streitigkeiten auf, die durch wirtschaftliche Ungleichheiten verschärft wurden. In Georgien stärkten freie Wahlen die extremen georgischen Nationalisten, die ihrerseits die Rechte der abchasischen und ossetischen Minderheiten beschnitten. Der Dissident und Menschenrechtsaktivist Sacharow, der sich für die armenischen Minderheiten einsetzte, sah die Dinge in Georgien anders und warf den georgischen Nationalisten vor, sie beherrschten „ein eigenes Mini-Reich“. In den Jahren 1988-1991 wurde Georgien von gewaltsamen interethnischen Zusammenstößen und einem brutalen militärischen Vorgehen in Tiflis erschüttert (das 21 Menschenleben forderte), das von den örtlichen Parteibossen angeordnet worden war.

Am besten in Erinnerung geblieben sind dem Westen die Zusammenstöße zwischen sowjetischen Sicherheitskräften und Unabhängigkeitsbefürwortern in den baltischen Republiken Litauen und Lettland im Januar 1991, an die in den seit Gorbatschows Tod veröffentlichten Kritiken häufig erinnert wird. Zwanzig Menschen starben, als ein Kommando der sowjetischen Armee (in Vilnius) und Truppen des Innenministeriums (in Riga) mit Kugeln und Panzern versuchten, von Separatisten kontrollierte Regierungsgebäude zurückzuerobern. Auch hier hat Gorbatschow selbst die baltischen Unabhängigkeitsbestrebungen erst ermöglicht, indem er die Wahlen genehmigte, durch die demokratische Parlamente geschaffen wurden, und indem er Glasnost – die Offenheit – förderte, die Licht in eine bittere Vergangenheit brachte, einschließlich des Hitler-Stalin-Pakts von 1939, der die sowjetische Annexion der baltischen Staaten billigte. Auch hier gibt es keine Beweise dafür, dass Gorbatschow die Anwendung tödlicher Gewalt befohlen hat, und vieles deutet darauf hin, dass es sich um die Entscheidung lokaler Befehlshaber handelte, die mit den Hardlinern der lokalen lettischen und litauischen „Komitees der nationalen Rettung“ und der nationalen Sojus-(Gewerkschafts)-Fraktion abgestimmt waren. Letztere, angeführt von reaktionären Militäroffizieren, hatten zum Sturz Gorbatschows aufgerufen und hofften, durch die Provokation von Gewalt die Verhängung des Kriegsrechts zu erreichen. Man kann Gorbatschow sicherlich vorwerfen, dass er die Spannungen mit den baltischen Republiken verschärft hat, indem er deren Unabhängigkeitsbestrebungen zu behindern suchte, und dass er nicht genug getan hat, um die Anschläge zu verhindern. Aber man muss ihm auch zugute halten, dass er schnell gehandelt hat, um die anschwellende Gewalt zu stoppen, indem er Beamte austauschte und die Truppen zurückzog.

Tote als Folge von Gorbatschows Politik?

Etwa zwanzig Tote im Baltikum, einundzwanzig in Georgien und insgesamt vielleicht 2000 Tote beim Zerfall eines riesigen Imperiums – wobei viele der Opfer nicht den Bemühungen Moskaus um die Aufrechterhaltung der imperialen Kontrolle zum Opfer fielen, sondern dem lokalen interethnischen Hass. Wie sind diese Zahlen zu bewerten? Rechtfertigen sie es, Gorbatschow einen blutigen Imperialisten zu nennen? In den letzten Jahrzehnten der britischen Herrschaft in Indien starben vielleicht 200.000 Menschen, im algerischen Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich 500.000 Menschen. Das sind hundertfünfzig Mal mehr als in der UdSSR! Und das waren die Entkolonialisierungskämpfe zweier reifer Demokratien in der Mitte des 20. Jahrhunderts, die beide nicht gleichzeitig ihr gesamtes politisch-wirtschaftliches System umgestalten wollten. Gorbatschow akzeptierte schließlich, dass die Reformen zur Wiederbelebung des multinationalen sowjetischen Staates gescheitert waren und dass dieser nicht ohne größere Gewalt gerettet werden konnte. Die imperialen Banden des ideologischen und militärisch-industriellen Komplexes der Sowjetunion haben dies nie akzeptiert, und in dem Chaos des aufkeimenden Nationalismus und der bröckelnden Zentralgewalt – wobei der Trotz der Hardliner durch den Verlust des Sowjetblocks in Osteuropa noch verstärkt wurde – ist es sicher, dass das Blutvergießen unter jedem anderen sowjetischen Führer um ein Vielfaches größer gewesen wäre.

Es ist schlichtweg falsch zu behaupten, wie Anne Applebaum es tut, dass Gorbatschow „nicht zum Aufbau demokratischer Institutionen beigetragen hat“, wo er sie doch alle vorgeschlagen oder gefördert hatte – Rede- und Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit und Wahlen mit mehreren Kandidaten von den Stadträten bis hin zu einer neuen nationalen Legislative – und all das gegen den erbitterten Widerstand seiner Partei. Gorbatschow als blutigen „Totalitaristen“ zu bezeichnen, wie es Peter Dickinson tut, ist geradezu orwellsch. Und zu behaupten, wie Gessen es tut, dass „er sich nicht vorstellen konnte, was sein Land wäre, wenn es kein Imperium wäre“, ist eine grobe Verzerrung. Früh und oft warnte er die osteuropäischen Parteiführer, dass sie sich reformieren müssten, dass Moskau nicht eingreifen würde, um sie zu retten, und dass sie die Unterstützung der Bevölkerung gewinnen müssten. Der Wind der Offenheit – Glasnost – wehte von Ost nach West, und als freie Wahlen abgehalten wurden und die Kommunisten abgewählt wurden, stand Gorbatschow daneben. So viel zum äußeren Imperium, und was das innere betrifft, die Sowjetunion selbst, so bemühte sich Gorbatschow nach Kräften, sie von einem repressiven Imperium in eine wohlhabende, einvernehmliche, demokratische Union zu verwandeln. Als die Wirtschaftsreformen scheiterten, der Nationalismus aufflammte und separatistische Forderungen in den nicht-russischen Republiken eine überwältigende Unterstützung in der Bevölkerung fanden, trat Gorbatschow zurück.

Adam Michnik, der langjährige polnische Dissident und Menschenrechtsaktivist, kannte die reflexartige Grausamkeit des kommunistischen Systems und die Hartnäckigkeit des sowjetischen Imperialismus sicherlich besser als die meisten anderen – durch Schläge, Verhaftungen und die Zerschlagung der Solidarnosc-Bewegung 1981, die er mitbegründet und geleitet hatte. So freute er sich über Gorbatschows Ermutigung zur Demokratisierung Osteuropas und bewunderte, dass aus diesem System ein so liberaler und kühner Führer hervorging – er bezeichnete ihn als „genetischen Fehler“. Andrej Gromyko, der langjährige sowjetische Außenminister, der diesen Imperialismus von der Invasion Ungarns und der Tschechoslowakei bis zur Unterdrückung der Solidarność und darüber hinaus mitgestaltete, bis Gorbatschow ihn kurz nach seiner Machtübernahme 1985 entließ, sah die gleichen Züge, charakterisierte sie aber etwas anders: Gorbatschow, sagte er, sei wie ein „Marsmensch“. Aus ihren diametral entgegengesetzten Perspektiven waren sich Michnik und Gromyko in einem Punkt mit absoluter Sicherheit einig: Gorbatschow war alles andere als einfach ein „sowjetischer Apparatschik“.

Und wie war es mit den Wirtschaftsreformen?

Hätte er bessere Wirtschaftsreformen entwerfen können? Ja, absolut. Aber so sehr man sich auch bemüht, man wird weder bei den sowjetischen noch bei den westlichen Ökonomen Anfang/Mitte der 1980er Jahre einen praktikablen Plan für eine umfassende Reform und einen raschen Übergang zum Markt finden. (Und unter den ehemaligen Kolchosevorsitzenden und Fabrikmanagern, die das Politbüro bildeten, waren ohnehin kaum westliche Ökonomen zu finden.) Die Vorschläge, die es gab, waren entweder unpraktisch vage und utopisch, oder sie boten das, was heute als „halbe Maßnahmen“ angeprangert wird. Das bedeutet, dass Gorbatschow das Beste tat, was er mit seinen begrenzten analytischen Ressourcen tun konnte, und erst im Nachhinein ist es „offensichtlich“, was er an diesem oder jenem Scheideweg hätte tun sollen – oder sogar, dass das eine oder andere tatsächlich ein Scheideweg war. Selbst im Nachhinein haben wir noch immer keine praktikable Alternative zu Gorbatschows schrittweisem Vorgehen gefunden. Die am häufigsten angepriesenen Alternativen ignorieren entweder die mächtigen Eigeninteressen der alten UdSSR und gehen davon aus, dass sich Heerscharen von Managern der Militärindustrie willfährig in einen imaginären neuen Privatsektor zurückziehen würden (und sie gehen auch von massiven Hartwährungsreserven aus, um jahrelange Sparmaßnahmen und ein verlorenes soziales Sicherheitsnetz aufzufangen). Oder sie folgen einer Variante des chinesischen Weges und führen extrem schmerzhafte, einschneidende Reformen durch, ohne dass es zu einer Demokratisierung kommt. Ersteres war offensichtlich unmöglich, und Letzteres eindeutig inakzeptabel.

Hätte er nicht 1989, als separatistische Strömungen erstarkten und einige Republiken ihre Unabhängigkeit erklärten, einfach verkünden können, dass die UdSSR in der Tat ein „hasserfülltes und unterdrückerisches“ Imperium war, dass er sich für die jahrzehntelange kommunistische Herrschaft entschuldigte und nun „eine vollständige Abrechnung mit der sowjetischen Vergangenheit“ verlangte und dass es den Republiken nun freistünde, die UdSSR zu verlassen? Dies ist völlig unrealistisch und bedarf keiner kontrafaktischen Analyse, um zu zeigen, dass die Hardliner-Kräfte, die sich gegen Gorbatschow aufstellten – diejenigen, die von ihm verlangten, „die Ordnung wiederherzustellen“, die zur Verhängung des Kriegsrechts aufriefen, die wiederholt Gewalt entfachten und die zweimal versuchten, ihn zu stürzen – von dem einzigen Gebot angetrieben wurden, die Sowjetunion zu erhalten. Und doch ist es genau das, was Gorbatschow laut Applebaum hätte tun sollen. Und die Erklärung für dieses unglaubliche Argument liegt weniger darin, was 1989 möglich war, als vielmehr in dem Versuch, ihn nun für Putins Angriff auf die Ukraine im Jahr 2022 verantwortlich zu machen.

Gorbatschow bejahte die Wiedervereinigung der Krim mit Russland

Die Tatsache, dass Gorbatschow 2014 Russlands Annexion der Krim billigte, war laut Applebaum „eine Aktion, die dazu beitrug, die Welle der imperialen Nostalgie zu verstärken, die uns jetzt den Krieg in der Ukraine beschert hat.“ Das ist lächerlich, sowohl die Behauptung, dass Putin bei seiner Entscheidung, in die Ukraine einzumarschieren, von einer „Welle“ des Volkes mitgerissen wurde, als auch die Behauptung, er schreibe diese scheinbar unwiderstehliche Kraft dem Einfluss des gealterten Gorbatschow auf Russland zu – obwohl Gorbatschow in seinem eigenen Land eigentlich verachtet und ignoriert wurde. Tatsächlich rührte diese Verachtung genau aus dem Glauben, dass „er dem Westen nachgegeben und das Sowjetreich kampflos aufgegeben hat“. Gorbatschow war weit davon entfernt, ein Vorläufer Putins zu sein, er war in jeder Hinsicht der Anti-Putin. Und die blutigen Folgen von Putins imperialer Nostalgie sollten uns heute daran erinnern, wozu die sowjetischen Hardliner, die gegen Gorbatschow aufmarschiert waren, durchaus bereit gewesen waren, um das Sowjetreich zu erhalten.

Aber Gorbatschow habe sich auch “nie gegen den Einmarsch in die Ukraine im Jahr 2022 ausgesprochen“, beklagen die Kritiker und übersehen dabei, dass der einundneunzigjährige Gorbatschow, der mit seiner letzten Krankheit kämpfte, die meiste Zeit seiner letzten Monate im Krankenhaus verbrachte (und daher auch nicht mehr in der Lage war, irgendetwas in Gang zu setzen). Was Gorbatschow jedoch wiederholt und über zwanzig Jahre lang getan hatte, war, die Erweiterung der NATO zu kritisieren, was ihn offenbar zu einem virtuellen Komplizen Putins macht. Allein dadurch, dass er der Hauptzeuge für die von der NATO gebrochenen Versprechen von 1990 war – dass, wenn Moskau der deutschen Wiedervereinigung und der Mitgliedschaft in der NATO zustimme, sich das Bündnis „keinen Zentimeter nach Osten ausdehnen würde“ –, erinnerte Gorbatschow ständig daran, dass es, wenn überhaupt, die kontinuierliche Ausweitung der gegen Russland gerichteten militärischen Macht des Westens war, die „dazu beitrug, eine Welle der imperialen Nostalgie zu verstärken“.

Dem Westen darf keine Mitschuld angelastet werden …

Dieses Argument ist im heutigen Klima nachgerade radioaktiv, wie jeder schnell feststellen wird, der behauptet, westliche Politiken wie die NATO-Osterweiterung – zusammen mit Amerikas „Demokratieexport“ durch Regimewechsel oder die Aufkündigung wichtiger Rüstungskontrollverträge – hätten zur Verschlechterung der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen beigetragen. Die russische Perspektive darf heute auf keinen Fall gewürdigt werden, sonst läuft man Gefahr, als Putins Handlanger abgestempelt zu werden, denn die Russen sind ja eingefleischte Imperialisten, von Gorbatschow über Putin bis hin zur allgemeinen Bevölkerung, die in „imperialer Nostalgie“ schwelgt. Wie der konservative Kolumnist George F. Will einst in seinem Plädoyer für die NATO-Erweiterung behauptete, „liegt der Expansionismus in Russlands nationaler DNA“ – ein Argument, das heute im Wesentlichen von vielen westlichen Liberalen übernommen wird.

George F. Will, ein unverhohlener Russenhasser, ist empört über Ehrungen für Gorbatschow, die einen sowjetischen Apparatschik neben einen amerikanischen Helden – Präsident Ronald Reagan – als Staatsmänner stellen, die gemeinsam den Kalten Krieg beendet haben. In Anlehnung an den Spott „er wusste nicht, was er tat“ argumentierte Will in der «Washington Post», dass „Gorbatschows Ruf auf der Amnesie, auf dem Gedächtnisverlust der Welt beruht“, nämlich dass Gorbatschow „in die Größe stolperte, weil er nicht wusste, wohin er wollte“. Vielleicht ist es George F. Wills positiver Ruf, der auf dem Gedächtnisverlust seiner Leser beruht, denn 1988 war es genau George F. Will, der die von Reagan und Gorbatschow ausgehandelten Abkommen zur Beendigung des Kalten Krieges und zur nuklearen Rüstungskontrolle als „Schimäre“ anprangerte, die die „Inkohärenz“ der Außenpolitik Reagans widerspiegle.

Gorbatschows Engagement nach seinem Abtreten

Die postmortalen Anklagen gegen Gorbatschow basieren oft auf persönlichen Animositäten, die außerordentlich kleinlich sind, wenn sie sich dem Leben Gorbatschows nach seinem Ausscheiden aus dem Amt zuwenden. „Er wurde [zu Jahrestagen des Kalten Krieges] als Trophäe eingeladen, als lebendes, atmendes Souvenir“ und „Er gründete eine Denkfabrik namens Gorbatschow-Stiftung. Er leistete Wohltätigkeitsarbeit. Er versuchte und scheiterte mit dem Versuch, ein Museum des stalinistischen Terrors zu gründen.“ Solche Beschreibungen sind nicht nur gemein, sondern auch ignorant.

Zutreffender wäre: Gorbatschow unterstützte unabhängige Medien, insbesondere die Zeitung Novaya Gazeta, die er mit seinem Friedensnobelpreis 1990 ins Leben rief. Er gründete und unterstützte Green International, eine NGO, die sich dem Umweltschutz und der Bildung widmet. Er sammelte Geld für den Bau eines hochmodernen Krankenhauses zur Behandlung von Kinderleukämie in St. Petersburg. Er unterstützte die Gorbatschow-Stiftung, die nicht nur ein Archiv des Präsidenten unterhält und ein aktives Programm politischer Seminare und historischer Konferenzen in Moskau durchführt, sondern auch mit westlichen Forschungsgruppen wie dem «National Security Archive» zusammenarbeitet, um Hunderte von Dokumenten und Memoiren zu übersetzen, zu bearbeiten und zu veröffentlichen. Auch wenn er sowohl in Russland als auch im Westen weitgehend ignoriert wurde, setzte er sich weiterhin für die internationale Zusammenarbeit in dringenden globalen Fragen ein, beklagte die Verschwendung der durch das Ende des Kalten Krieges geschaffenen Möglichkeiten und prangerte sowohl den Unilateralismus im Ausland als auch das Ausfransen der Demokratie im eigenen Land an – alles ob in Russland oder im Westen.

Mascha Gessen ignoriert das meiste davon und verspottet stattdessen den älteren Gorbatschow als jemanden, der „umherschweifte“, „auf Tangenten auswich“ und „der nie einen Satz beenden oder auf den Punkt kommen konnte – und dessen Akzent ihn bis zum Schluss als Landei auswies“. Ja, es ist überraschend, dass Gorbatschow, als er sich dem Ende seines Lebens näherte, es nicht mehr schaffte, seine Diktion zu optimieren oder seinen Akzent zu verbessern (obwohl ich persönlich bestätigen kann, dass er durchaus Sätze beendete und Witze mit sardonischen Pointen erzählte). Und das ist es, was mich an der Kritik am meisten ärgert: Er sei kein kultivierter, intelligenter Russe gewesen, sondern ein ungebildeter Apparatschik, der sich über seine bescheidene Herkunft erhob, historische Taten vollbrachte und internationales Ansehen erlangte, und dann die Frechheit hatte, uns anzusehen und zu sagen: „Ihr seid arrogant geworden, eine Gefahr nicht nur für die Welt, sondern auch für euch selbst. Auch Amerika braucht eine Perestroika.“ Wie uns die Psychologen sagen, ist ein wütender, unaufrichtiger Angriff ad hominem – ein Angriff auf die Person – oft nur eine Bestätigung dafür, dass die vorausgehende Kritik ins Schwarze getroffen hatte.

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Meinungen in Beiträgen auf Globalbridge.ch entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Autor Robert David English: Prof. Robert D. English ist Direktor für Mitteleuropa-Studien an der «University of Southern California». Er kam 2001 an die USC-Fakultät und war von 2012 bis 2016 Direktor der «School of International Relations». English lehrte zuvor an der «School of Advanced International Studies» der «Johns Hopkins University» (1998-2000) und arbeitete davor als politischer Analyst im US-Verteidigungsministerium und im Ausschuss für nationale Sicherheit (1982-1987). English hat sowohl einen Ph.D. in Politik als auch einen MPA in Internationalen Angelegenheiten von der «Princeton University» (1982, 1995) und einen BA in Geschichte und Slawistik von der «University of California», Berkeley (1980). English ist Autor und Co-Autor mehrerer Bücher. Seine aktuellen Analysen erschienen in Publikationen und Plattformen wie «International Security», «Foreign Affairs», Diplomatic HistoryEuropean Review of History, «The National Interest» und auch Global Dialogue. 2015/16 gehörte er der Beratergruppe für Aussenpolitik des Senators und Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders an.

Der Beitrag von Robert David English erschien zuerst im US-Magazin «The National Interest»hier anklicken. Dort finden sich auch weitere Verlinkungen auf die Quellen von Robert D. Englishs Bericht. Die Übersetzung mit ausdrücklicher Genehmigung von «The National Interest» besorgte Christian Müller, der auch die Zwischenüberschriften gesetzt hat.

Und ein kleines PS der Redaktion Globalbridge.ch: Anne Applebaum ist die Ehefrau von Radoslaw Sikorski. Sikorski ist ein hochrangiger polnischer Politiker und Mitglied des EU-Parlamentes. Und es war Sikorski, der nach der Sabotage-Sprengung von Nord Stream 2 auf Twitter postete: «Thank you, USA!»