Ein syrischer Flüchtling trägt seine Tochter beim griechischen Dorf Idomani durch einen Sturm. (Photo Reuters / Yannis Behrakis / 2015)

Geschichtsrevisionismus: Der Antrag von CDU/CSU zur Migration

(Red.) So einfach ist es: Man reduziert das Migrationsproblem auf die syrischen Flüchtlinge und macht für den damaligen dortigen Bürgerkrieg Putin verantwortlich. Wo sind in Deutschland die Proteste gegen eine solche Manipulation der historischen Wahrheit? Immerhin, es gibt, wenn auch vereinzelt, den Widerspruch: Berndt Liske hat sich erlaubt, die neuesten Aussagen von Friedrich Merz unter die Lupe zu nehmen. (cm)

Zunächst dachte ich ja an einen Fake: Kurz vor Mitternacht – Better Man hatte mir zuvor nicht wenige Tränen entlockt – stieß ich auf X zufällig auf einen Post, der vorgab, den Antrag der CDU/CSU-Fraktion für sichere Grenzen und das Ende der illegalen Migration im Wortlaut zu veröffentlichen, der in dieser Woche in den Bundestag eingebracht werden soll. Nach einigem Suchen fand ich eine Bestätigung: Es war kein Fake. Auch bei BILD konnte ich noch auf den Wortlaut zugreifen.

Am Sonntag machte ich mich auf die Suche nach Artikeln, die sich mit dem Antrag beschäftigen. Ich wollte wissen, ob sich noch bei irgendjemandem die Nackenhaare gesträubt hatten zu dem, was meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Ich suchte vergeblich. Neben der Frage der Machbarkeit entlang dem europäischen Recht rieb man sich an der Absetzbewegung gegenüber der AfD, da es wohl notwendig erschien, einzufangen, was Friedrich Merz am vergangenen Donnerstag voller Inbrunst zum Ausdruck gebracht hatte:

„Mir ist es völlig gleichgültig, wer diesen Weg politisch mitgeht. Ich sage nur, ich gehe keinen anderen. Und wer ihn mit mir gehen will, muss sich nach diesen fünf Punkten richten. Kompromisse sind zu diesen fünf Themen nicht mehr möglich.“

Nirgends fand ich eine Auseinandersetzung mit diesem Absatz:

«Die Migrationskrise geht wesentlich aus vom syrischen Bürgerkrieg, den der russische Diktator Wladimir Putin über Jahre angefacht und verlängert hat. Bis heute instrumentalisiert der russische Diktator Wladimir Putin Migration als hybride Waffe, indem er jede Woche hunderte Menschen über die belarussische Grenze nach Europa sendet. Aufgrund des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges sind mehr als eine Million Ukrainer nach Deutschland geflohen.»

Es ist erstaunlich, was man in einem solchen kleinen Absatz alles an Fakes unterbringen und damit die Geschichte fälschen kann!

Nehmen wir uns zunächst des syrischen Bürgerkriegs an, dem ich schon 2015 einen Artikel in den DEUTSCHEN WIRTSCHAFTSNACHRICHTEN widmete: Syrien: Der Westen muss die Krise, die er verursacht hat, nun lösen. In keinem Land des Nahen Ostens lebten Angehörige verschiedener Religionen über Jahrhunderte und auch in den Jahrzehnten der Herrschaft des Assad-Clans so friedlich zusammen wie in Syrien. Syrien wurde unter Bashar al-Assad ein sich wirtschaftlich entwickelndes und zum Westen öffnendes Land. Die Farbrevolutionen des Arabische Frühlings machten jedoch auch in Syrien alles zunichte. Teil dessen waren Sanktionen der Europäischen Union. In einem Artikel der VOLKSSTIMME vom 14.01.21 unter dem Titel „Der ´Arabische Frühling` und die CIA“ heißt es:

«Die Bilanz der Aufstände fällt ernüchternd aus. Die Lebenssituation der einfachen Menschen hat sich vielfach noch verschlechtert. Umstritten sind bis heute die wirklichen Auslöser des „Arabischen Frühlings“. Hier stechen besonders Libyen und Syrien hervor, bei denen ausländische Mächte von Beginn an militärisch eingriffen. …

Ohne die massive Einmischung von außen hätte dieser Krieg niemals die größte Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg und der Teilung des indischen Subkontinents ausgelöst. Mindestens zehn Millionen Syrer sind auf der Flucht, rund eine Million haben in Europa Aufnahme gefunden, die meisten davon in Deutschland», schrieb der Nahost-Experte Michael Lüders 2017 in seinem Buch „Die den Sturm ernten – Wie der Westen Syrien ins Chaos stürzte“. Das Buch wird inzwischen als Standardwerk zu Vorgeschichte und Hintergründen des Syrien-Krieges betrachtet.

Wer sich mit der Geschichte des Bürgerkriegs beschäftigt, kommt nicht an Timber Sycamore vorbei: Es ist allerdings empfehlenswert, anstelle des deutschen Wikipedia-Artikels mit 10 Quellennachweisen die englische Version zu lesen, die es auf immerhin 41 bringt und insgesamt umfangreicher ist. Wikipedia ist generell ein interessantes Thema – wie auch der Umgang mit uns Deutschen: Wir würden nur wirr im Kopf werden, wenn wir alles und von manchem wüssten.

Timber Sycamore war eine CIA-Operation, mit der die syrische Opposition aufgebaut, ausgebildet, finanziert und bewaffnet wurde. Das von Barack Obama genehmigte Programm sollte den syrischen Präsidenten Baschar Hafiz al-Assad stürzen. Erst als Russland auf Bitten des syrischen Präsidenten in den Konflikt eingriff, um die Souveränität Syriens – zumindest in Teilen – wiederherzustellen, wendete sich das Blatt. Sicher korreliert der Einstieg Russlands in den Konflikt mit dem Anstieg der Flüchtlingsbewegung aus Syrien, doch dieses zum Maßstab der Verantwortung zu machen, hieße, generellem Tun – natürlich nur des Westens und insbesondere der USA – den Freibrief zu geben, die Welt allein nach seinem Willen zu gestalten, dabei die Souveränität der Nationen zu ignorieren und jeden, der dagegen aufbegehrt, zum Terroristen oder Schurkenstaat zu machen. Wie wichtig diese Betrachtung ist, erschließt sich aus dem gegenwärtig zunehmend als ernsthaft erkannten Bemühen der USA, Kanada, Grönland und den Panama-Kanal zu vereinnahmen und der Absicht, die Palästinenser in die umliegenden Staaten auszusiedeln, um so über ein Groß-Israel die Region zu beherrschen. Einen Post von mir aus dem vergangenen Jahr empfehle ich zur Lektüre.

Doch, schon angedeutet: Der Absatz im Antrag der CDU/CSU-Fraktion hat noch mehr zu bieten. Schafft es jemand, sich – ohne meine Hilfe – den Satz „Die Migrationskrise geht wesentlich aus vom syrischen Bürgerkrieg“ auf der Zunge zergehen zu lassen und dabei zu Erkenntnis zu kommen? Wenn ich das so formuliere – und im Text belasse – möchte ich mich nicht überhöhen, sondern die Gelegenheit für die Anregung nutzen, generell kritischer auf das zu schauen, was einem tagtäglich vorgesetzt wird. Wir haben es inzwischen mit einem solchen Umfang an Fakes und Demagogie zu tun, dass daraus zunehmend eine Realität erzeugt wird, die man sich nicht anders mehr vorstellen kann, und kommt jemand daher, der darauf hinweist, dass es eine andere – die wirkliche – Realität gibt, ist er es, dem Fakes und anderes vorgeworfen wird. Problematisch ist die geschaffene Realität insbesondere auf Grund des Potentials möglicher Folgen: Krieg, Tod, Untergang. Darum ist es wichtig, solchen Absätzen Aufmerksamkeit zu schenken: „Achtung“ gegenüber allen und allem sollte die Richtschnur sein. Die Auseinandersetzung und die Wahrheit sind dabei die einzigen Mittel, ohne die alle anderen versagen.

Das Schlüsselwort des besagten Satzes lautet „wesentlich“. Zwischen 2015 und 2017 kamen 481.798 Flüchtlinge aus Syrien. „Wesentlich“ hieße – man kommt ja als deutscher Bürger nicht daran vorbei, zuweilen dem einen oder anderen zu begegnen –, dass es dann noch eine unwesentliche Anzahl von Bürgern anderer Nationen geben würde, die den Weg nach Deutschland gefunden haben: Afghanen, Iraker, Jeminiten und so weiter. Doch die Statistik – wir Deutschen sind ja ordentlich – spricht da eine andere Sprache: Im gleichen Zeitraum kamen 178.076 Afghanen, 152.146 Iraker sowie 632.857 Flüchtlinge aus anderen Nationen. Der Anteil der Syrer an der Gesamtzahl der Flüchtlinge betrug somit 33,3 %.

Kann man bei diesen Zahlen davon sprechen, die Migrationskrise wäre „wesentlich“ vom Bürgerkrieg in Syrien ausgegangen – noch dazu, wenn man berücksichtigt, dass die primären anderen Flüchtlingsströme auf ähnliche Ursachen zurückzuführen sind? Oh, da fällt mir noch was auf: Ich habe ja die Ukrainer vergessen – wobei diese nicht Flüchtlinge im Sinne des Asylgesetzes sind und kein Asylverfahren durchlaufen müssen. Man kommt jedoch nicht darum herum, dass über 1,2 Millionen Menschen eine nicht unbedeutende Anzahl ist, die ihren Beitrag dafür leistet, dass das deutsche Sozialsystem, die Kommunen und das Bildungssystem gestresst sind. Berücksichtigt man diese Zahl – und vernachlässigt Zahlen zu weiteren Flüchtlingen zwischen 2018 und heute –, so sinkt der Anteil der Flüchtlinge aus Syrien auf 18 %. Zu weiteren Details und insbesondere den Kosten sei auf meinen Beitrag in der vorigen Woche zum Anschlag von Aschaffenburg verwiesen.

Russland für die Migrationskrise verantwortlich zu machen, ist also schon ziemlich abgefahren und selbst wenn der russische Präsident tatsächlich jede Woche ein paar hundert Flüchtlinge persönlich an die polnische Grenze bringen sollte (Steht doch da gar nicht. Nun ja, sind es Hunderte?), wäre diese überaus bescheidende Anzahl eine ziemlich lächerliche „hybride Waffe“. Zu dem Problem, wer die Flüchtlingsströme tatsächlich als Waffe einsetzt, verweise ich auf meinen Beitrag in der vergangenen Woche. In gleicher Weise Russland nicht auch die Afghanen in die Schuhe zu schieben, zeugt davon, dass die CDU/CSU-Fraktion durchaus in Epochen denken kann. Gleiches gilt für die Iraker: Im Land fand sich weder Giftgas noch irgendein Russe, der im Auftrag Putins dem Land Tod und Zerstörung wie auch der Region den IS brachte und so die Flüchtlingsbewegung von dort auslöste.

Kann man den Deutschen inzwischen wirklich alles verkaufen? Schaut man auf die Umfragen, muss man das annehmen: Allenfalls die Bemühung, die russische Verantwortung für die deutsche Migrationskrise mit dem Wir schaffen das zu verknüpfen, um subtil die Frage zu stellen, ob Angela Merkel eine Agentin Putins ist, wäre dann vielleicht doch zu dick aufgetragen. Ansonsten schluckt der Deutsche tagtäglich unverdaut schon eine ganze Menge und den primären Beitrag zur täglichen Mahlzeit leistet die Russophobie.

Dem werten Leser meiner Texte habe ich nun ein weiteres Mal die Erfahrung vermittelt, bei der Klärung der Gründe für eine Vielzahl von Problemen immer zu schauen, ob die Stunde null, von der aus man Ursachenforschung betreibt, nach hinten geschoben werden kann und man dort weitere Einflüsse entdeckt. Ein Tipp: Das gilt auch für den „völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg“ in der Ukraine, auf den ich hier nicht näher eingehen möchte.

Die Moral meiner kleinen Reflektion habe ich diesmal schon an verschiedenen Stellen des Textes eingebracht und so will ich es hier dabei bewenden lassen. Die übrigen Teile des Antrags werden ja schon der Reibung zugeführt und man darf gespannt sein, wie sich die politische Willensbildung rüttelt und schüttelt. Auch hinsichtlich dieser gilt sicher meine obige Anregung, sich das eigene (Nach-)Denken wieder anzugewöhnen.