Bis vor dem Krieg in der Ukraine haben viele russische Firmen davon gelebt, mit dem Westen Handel zu treiben. Jetzt sind viele dazu übergegangen, die nachgefragten Produkte selber zu produzieren, was gut für die russische Wirtschaft ist. Und welche westlichen Medien zeigen Bilder des Moskauer Business Centers? (Photo Christian Müller)

Geht Russland – selbstverschuldet – wirtschaftlich unter?

(Red.) Was schreibt ein Wirtschaftsjournalist, der 11 Jahre für die Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ und ebenfalls 11 Jahre für die NZZ gearbeitet hat, die sich beide für die Erhaltung der neoliberalen Wirtschaftsordnung und die Erhaltung der US-Hegemonie einsetzen, über die wirtschaftliche Zukunft Russlands? Christof Leisinger, jetzt in der Redaktion von infosperber.ch, schreibt: «Ukrainekrieg: Russland ruiniert gerade seine Zukunft». Zum Ärger der Mainstream-Medien hört man aus Russland allerdings ganz Anderes: gute Wirtschaftszahlen, zufriedene Leute, stabiler Glaube an eine positive Zukunft. Unser Russland-Korrespondent Stefano di Lorenzo hat zu diesem Thema Dmitri Trenin, Professor an der Nationalen Forschungsuniversität Higher School of Economics, ein paar Fragen gestellt. (cm)

Globalbridge: Der Zinssatz der russischen Zentralbank hat 21 Prozent erreicht. Welche Folgen könnte dies für die russische Wirtschaft und den Krieg haben?

Dmitri Trenin: Ich bin kein Wirtschaftswissenschaftler, daher ist es für mich schwierig, über die Folgen des hohen Zinssatzes für die russische Wirtschaft zu sprechen. Die Folgen für die spezielle Militäroperation sind noch nicht sehr deutlich. Die russische Armee erhält Waffen und Ausrüstung in einer Menge, die um ein Vielfaches höher ist als zu Beginn der speziellen Militäroperation; der Zustrom von Freiwilligen auf Basis eines Vertrages ist nach wie vor hoch genug, um eine neue Mobilisierung zu vermeiden. Die Finanzbehörden betrachten das derzeitige Zinsniveau als Spitzenwert und gehen davon aus, dass es im Jahr 2025 sinken wird. 

Wird sich der hohe Zinssatz auf die allgemeine öffentliche Unterstützung für die Regierung und die „spezielle Militäroperation“ in der Ukraine auswirken?

Dmitri Trenin: In den westlichen Medien gab es in letzter Zeit eine Welle von Berichten über den angeblich hoffnungslos schlechten Zustand der russischen Wirtschaft. Offensichtlich besteht in dieser Phase der Konfrontation im Westen die Hoffnung, dass Russland aufgrund der wirtschaftlichen Probleme und der sozialen Unzufriedenheit um Frieden bitten muss. Dies ist für mich in Russland nicht erkennbar. Die Bevölkerung ist vor allem wegen der Inflation besorgt, die zwar 2024 deutlich angestiegen ist, aber immer noch deutlich unter dem Zinssatz der Zentralbank liegt. Auf der anderen Seite ist das Wachstum der Löhne und der Realeinkommen der Bevölkerung zu beobachten, die zum ersten Mal seit etwa zehn Jahren gestiegen sind. Die Unterstützung der Bürger für den Präsidenten und das Vertrauen in die russische Regierung sind nach wie vor groß, obwohl die spezielle Militäroperation schon fast drei Jahre andauert. 

Trotz hoher Zinssätze wächst die russische Wirtschaft weiter, was viele Analysten im Westen und in Russland selbst überrascht hat. Ist dieses Wachstum nachhaltig oder ist es einfach das Ergebnis keynesianischer Stimulierung durch die Militärindustrie?

Dmitri Trenin: Die Militärausgaben stimulieren sicherlich das Gesamtwachstum der Wirtschaft. Aber es sind nicht nur die Rüstungsunternehmen: Diese arbeiten eng mit der zivilen Industrie zusammen. Ein weiterer Anreiz ist der Bedarf an Importsubstitution in vielen Bereichen, von Möbeln bis zum zivilen Flugzeugbau. Russland, das nach dem Zusammenbruch der UdSSR glaubte, nur Öl und Gas fördern zu müssen und den Rest auf dem Weltmarkt kaufen zu können, kehrt bei vielen Gütern zur industriellen Produktion zurück. Auch die Ausgaben für Wissenschaft und technologische Entwicklung sind gestiegen. Ich weiß nicht, ob dieser Prozess in drei Jahren unumkehrbar geworden ist (ich hoffe es), aber es gibt eine Bewegung in diese Richtung. 

Angenommen, die russische Wirtschaft gerät plötzlich in eine Rezession. Würde das die russischen Militäroperationen in der Ukraine stoppen? Oder wird die Politik immer Vorrang vor der Wirtschaft haben?

Dmitri Trenin: Der Krieg in der Ukraine ist eine Konfrontation mit dem kollektiven Westen, der versucht, Russlands „Rebellion“ gegen die amerikanische globale Hegemonie zu unterdrücken. Eine Niederlage in diesem Krieg, mit der ich nicht rechne, hätte nicht nur äußerst negative Folgen für die Souveränität Russlands, sondern für seine Existenz selbst. Auch ein Pyrrhus-Sieg würde sich negativ auf die Zukunft Russlands auswirken, wenn die Ziele der speziellen Militäroperation nicht erreicht werden könnten. Daher denke ich, dass Russland die Erreichung dieser Ziele auch weiterhin als seine höchste Priorität betrachten wird. 

In Europa wird argumentiert, dass Russland, wenn es in der Ukraine keinen Krieg geführt hätte, leicht wirtschaftlichen Wohlstand hätte erlangen können. Was denken Sie darüber?

Dmitri Trenin: Europa, wie gewöhnlich, lügt. Niemand dort hat erwartet, dass Russland prosperieren würde, und man hat auch nicht versucht, es zu fördern. Vor der speziellen Militäroperation hatte die russische Wirtschaft zehn Jahre lang stagniert. Russische Oligarchen und Tycoons exportierten ihre in Russland erwirtschafteten Gewinne nach Europa. Russland stand seit 2014 unter westlichen Sanktionen; der Zugang Russlands zu westlicher Spitzentechnologie war seit der Sowjetzeit verschlossen und wurde nach dem Zusammenbruch der Union nur leicht abgeschwächt. Gerade der Zusammenbruch des Landes machte Russland wirtschaftlich vom Westen abhängig. Die spezielle Militäroperation und insbesondere die Reaktion des Westens darauf – 22.000 Sanktionen! – stellten Russland vor eine schwierige Wahl: entweder sich zusammenzureißen und stark zu sein oder zu kapitulieren und seine Unabhängigkeit zu verlieren. Die Entscheidung fiel zugunsten der ersten Option aus. Entwicklung ist in der Regel die Antwort auf eine Herausforderung. 

Hier in Russland hört man oft, dass das Land im Kampf mit dem Westen in der Ukraine um sein Überleben kämpft. Wie passt das mit den demografischen Aussichten und der Tatsache zusammen, dass in einem Krieg viele Männer unweigerlich sterben werden?

Dmitri Trenin: Die demografischen Probleme Russlands sind sehr ernst. Die Verluste während des Krieges verschärfen sie noch.  Die Regierung sieht den Ausweg in soziokulturellen Veränderungen – nicht nur durch eine aktive Bevölkerungspolitik, sondern auch durch eine veränderte Einstellung zum Kinderkriegen, die Stärkung der Institution Familie, die Verbesserung der Verkehrs- und Industriesicherheit, den Ausbau des Gesundheitswesens und so weiter. Russland verliert nicht nur im Krieg Menschen, sondern auch, und sogar noch mehr, in ganz friedlichen Verhältnissen. 

Der Westen argumentierte, dass er mit der Verhängung von Sanktionen gegen Russland dessen Kampfeswillen und -fähigkeit untergraben und es an den Verhandlungstisch zwingen würde. Glauben Sie, dass diese Absicht des Westens aufrichtig war? Wollte er wirklich mit dem Kreml verhandeln? Das ist nämlich nicht der Eindruck, den man bekommt, wenn man hört, was westliche Politiker sagen und westliche Think Tanks in den letzten drei Jahren geschrieben haben. 

Dmitri Trenin: Wenn der Westen die ukrainische Krise diplomatisch lösen wollte, hatte er in den letzten zehn Jahren reichlich Gelegenheit dazu. Er hätte, wie von Moskau vorgeschlagen, über die Auswirkungen der Assoziierung der Ukraine mit der EU auf ihre Beziehungen zu Russland verhandeln können. Die Minsker Vereinbarungen von 2014-15 hätten umgesetzt werden können. Man hätte Verhandlungen über die russischen Vorschläge vom Dezember 2021 beginnen können. Ein Krieg in der Ukraine hätte leicht verhindert werden können, indem sich der Westen einfach geweigert hätte, die Ukraine in die NATO aufzunehmen. Unter „Verhandlungen“ versteht man im Westen heute meist die Kapitulation Russlands. Es gab und gibt keinen Grund, von Verhandlungen mit Moskau zu solchen Bedingungen auszugehen. Russland hat seinerseits ein eigenes Verhandlungskonzept vorgelegt, das seine Interessen berücksichtigt und einen dauerhaften Frieden in der Region gewährleistet.

Herr Professor Trenin, vielen Dank für das Interview.
Dmitri Trenin: Vielen Dank auch meinerseits!

PS: Auch jene, die Putin nicht lieben, kommen zu diesem Schluss: «Russia’s economy is tougher than it looks, no chances of crisis in the next 3-5 years» von Ben Aris. Schlechte Prognosen gibt es dagegen für Deutschland.

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