Paul Ronzheimer, Kriegsreporter bei der deutschen «Bild», sagt, das Gefährlichste seien nicht die Atombomben, das Gefährlichste sei, vor Putin Angst zu haben. (Screenshot aus Maybrit Illner auf ZDF)

Gehen auch wir schlafwandelnd in einen dritten Weltkrieg?

«Krieg, Angst und Realitätsverlust: Haben wir alle den Verstand komplett verloren? Oder nur die Politik und die Medien? Und was macht „das Volk“? Warum lässt sich das Volk all das gefallen?» Diese Sätze stammen von Stefano Di Lorenzo, einem sehr belesenen, freiberuflichen Journalisten, der seine Jugend in Italien verbracht und seine universitären Studienjahre in Deutschland absolviert hat und seit einiger Zeit jetzt in Moskau lebt. Nach der Diskussion auf ZDF bei Maybrit Illner am 21. März konnte er, wie er uns schreibt, einfach nicht mehr anders, als sich hinzusetzen und einen Kommentar zu schreiben. (cm)

In den letzten Jahren, insbesondere seit 2014, mit dem Beginn des Krieges in der Ukraine nach der Maidan-Revolution bzw. dem dortigen Staatsstreich, war oft von einem Geschichtsbuch die Rede: „Die Schlafwandler“ des australischen Historikers Christopher Clark. Clark untersuchte die Ursachen, die zum Ersten Weltkrieg führten, jenem monströsen Konflikt, der 17 Millionen Menschen — davon 9 Millionen Zivilisten — direkt tötete, die meisten von ihnen in Europa (na ja, Europa betrachtete sich damals schließlich als „die Welt“). Der Erste Weltkrieg tötete nicht nur Millionen Menschen, sondern legte auch die Grundlagen für die bolschewistische Revolution, den russischen Bürgerkrieg, den italienischen Faschismus, den deutschen Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust. Kurzum, es gäbe alle Anreize, einen solchen Konflikt für alle Ewigkeit zu vermeiden. Schließlich haben wir uns in den letzten Jahren daran gewöhnt, uns für unglaublich viel klüger zu halten als die Menschen und Machthaber von vor hundert Jahren.

Der australische Historiker argumentierte in seinem Buch, dass im Jahr 1914 die verschiedenen Herrscher, die an der Spitze des österreichisch-ungarischen und des deutschen Reiches einerseits und von Großbritannien, Frankreich und Russland auf der anderen Seite standen, passiv von den Ereignissen mitgerissen wurden, die durch die Ermordung des österreichischen Thronfolgers durch einen jugendlichen serbischen Nationalisten in Gang gesetzt worden waren. Sie waren in der Tat wie Schlafwandler auf den Abgrund des Krieges zugesteuert, Gefangene einer starren Logik, die die Großmächte nur in eine Konfrontation führen konnte. Aber die Entscheidungen, die zum Ersten Weltkrieg führten, waren nicht unvermeidlich, der terroristische Akt eines jungen Radikalen hätte nicht unbedingt die Folgen haben müssen, die er hatte. 

Geschichte ist kein unvermeidliches Schicksal, das im Voraus geschrieben wurde, sondern wird von konkreten Menschen und konkreten Kräften gemacht. Die damaligen Machthaber hätten ihren Verstand einschalten können, anstatt wie Schlafwandler zu marschieren, und eine der größten Katastrophen in der europäischen Geschichte hätte vermieden werden können. Der Erste Weltkrieg war das Ereignis, das faktisch den Auftakt zum Niedergang Europas und seiner völligen Unterordnung unter die USA bildete. 

Das Buch „Die Schlafwandler“ erlangte mehr Popularität als Geschichtsbücher im Allgemeinen erreichen. Man sagt, dass Angela Merkel es las und bewunderte. Im Jahr 2014, dem hundertsten Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs, schien die Welt, die sich der Illusion hingegeben hatte, endlich das Ende der Geschichte erreicht zu haben, plötzlich für einige Wochen vor einem großen bewaffneten Konflikt zu stehen. Der ukrainische Staat war nach einer „Volksrevolution“ auseinandergebrochen. Die Krim, die schon früher die Unabhängigkeit von der Ukraine angestrebt hatte, ging an Russland über. Der Krieg im Donbass brach aus. Und das Passagierflugzeug MH17 der Malaysia-Airlines wurde aus Versehen über der Ukraine abgeschossen. Schon damals drängten die großen Qualitätsmedien lautstark darauf, dass der Westen endlich „Putin stoppen“ sollte. 

Damals waren Politiker wie Obama und Merkel an der Macht. Die Eskalationsspirale wurde vermieden. Die Medienhysterie, die zum Krieg drängte, ließ nach. Es kam zu den Minsker Vereinbarungen. Den Konflikt im Donbass konnte man zwar nicht vollständig einfrieren, aber zumindest unter Kontrolle halten. Besser ein halb eingefrorener Konflikt als ein offener Krieg zwischen dem Westen und einer Atommacht, so hat man damals gedacht. 

Aber nein. Heute wird sowohl Merkel als auch Obama vorgeworfen, feige gewesen zu sein, weil sie sich weigerten, für die Krim zu kämpfen. Eine Region, die Russland „annektiert“ hatte, ohne einen Schuss abzufeuern und aktenkundig mit der großen Zustimmung der dortigen russischsprachigen Bevölkerung, die sich in der neuen postrevolutionären nationalistischen Ukraine in keiner Weise mehr vertreten sah. Man schwafelte unendlich von Völkerrecht, illegaler Annexion und vielen anderen sakrosankten Prinzipien. Gut, Prinzipien und Gesetze des Völkerrechts sind zwar sakrosankt, aber sie sollten in erster Linie dazu dienen, Konflikte zu schlichten und Streitigkeiten zu lösen, würde man meinen. Der oberste Wert sollte immer der des menschlichen Lebens sein. Welcher Grundsatz des Völkerrechts könnte die Tötung von Zehn- wenn nicht Hunderttausenden von Bewohnern auf der Krim rechtfertigen, deren letzter Wunsch auf der Welt es ist, von der Ukraine „befreit“ zu werden? Außerdem hat die Berufung auf das „Völkerrecht“ einen wahrhaft heuchlerischen und leeren Beigeschmack, wenn es systematisch und selektiv angewendet wird. Taiwan zum Beispiel wird als Teil Chinas anerkannt. Dennoch bewaffnen die USA Taiwan, das sie als de facto unabhängig betrachten. Und sollte China die Insel mit militärischen Mitteln zurückerobern wollen, würde dies als Casus Belli betrachtet werden, der einen dritten Weltkrieg rechtfertigen würde, koste es, was es wolle. Was ist mit dem internationalen Recht? Es ist auch nicht schwer, sich vorzustellen, auf welche Seite sich andere große Verfechter des Völkerrechts wie Großbritannien, Deutschland oder Polen stellen würden, sollten die USA in Taiwan intervenieren.

Aber lassen wir die möglichen Kriege der Zukunft beiseite und kehren wir zu unserem sehr realen Krieg vor der europäischen Haustür zurück. Wenn Obama und Merkel im Jahr 2014 die Klugheit besaßen, einen offenen militärischen Konflikt mit Russland zu vermeiden, so kann man das von den heutigen Politikern – zwei Beispiele: Biden und Scholz – nicht behaupten. Sie wirken mehr und mehr wie die Schlafwandler von vor hundert Jahren. Die USA hatten schon vor dem Konflikt jegliche Verhandlungen mit Russland über die NATO und die Neutralität der Ukraine abgelehnt. Prinzipiell. Deutschland, dem von Anfang an vorgeworfen wurde, Putin zu sehr nachzugeben, ist inzwischen der zweitgrößte Waffenlieferant der Ukraine, und wenn die USA die Finanzierung nicht wieder aufnehmen, könnte es der größte werden. Schließlich scheint in Deutschland, einem Land mit einem traumatisierten Gewissen nach der historischen Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg, jeder Anflug von Pragmatismus verloren gegangen zu sein. Man bekommt fast das Gefühl, man will den Krieg in der Ukraine als Chance sehen, endlich wieder auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen.

Prinzipien, Gesetze und Moral sind in der Theorie bewundernswerte Dinge. Aber sie dürfen nicht mit obsessivem Fanatismus verfolgt werden, der so weit geht, dass man die Augen vor den Risiken eines offenen Krieges zwischen Europa  und Russland, einer riesigen Atommacht, verschließt. Die USA können aufgrund ihrer geografischen Lage etwas ruhiger sein, sie überlassen Kriege gerne anderen. Europa kann sich das nicht leisten. Die Funktion von Gesetzen und Regeln sollte darin bestehen, den Frieden, die Ordnung und die Menschheit zu schützen, und nicht darin, diese im Namen von Gesetzen und Regeln zu opfern.

Man wird sagen, dass diese Argumente aus übertriebenen Ängsten stammen, dass niemand wirklich einen Konflikt mit Russland in Betracht ziehen will, dass das Schreckgespenst eines Atomkriegs in Europa nichts als ein Bluff der russischen Propaganda und Politik ist. Dennoch wird von der Aussicht und sogar der Notwendigkeit einer Konfrontation mit Russland jetzt mit beunruhigender Häufigkeit gesprochen, als ob eine Öffentlichkeit, die von der Idee eines Krieges nicht allzu begeistert ist, sich allmählich daran gewöhnen müsste, ihn zu akzeptieren. So hörte man zum Beispiel just vor ein paar Tagen in einer Prime-Time ZDF-Sendung: „Es ist die Frage, was man bedrohlicher findet. Ob Wladimir Putin den Krieg gewinnt, oder ob die Ukraine gewinnt. Meine Analyse wäre, für uns ist es viel gefährlicher, Angst vor Wladimir Putin zu haben, Angst vor dieser taktischen Atomwaffendiskussion zu haben, Angst überhaupt zu haben. Denn das bedeutet ja am Ende, dass wir Putin entgegenkommen und in diese Fallen reingehen. Das ist ja das psychologische Problem dabei“, so der Bild-„Star“-Kriegsreporter Paul Ronzheimer. „Wer Angst hat, ist schon nicht mehr rational“, bestätigte eine weitere Gästin, Sabine Adler, ehemalige Moskau-Korrespondentin des Deutschlandfunks, mit äußerst zuversichtlicher Miene. 

Aber Angst ist unter bestimmten Umständen eine völlig rationale Emotion, die in den Hunderttausenden von Jahren der Menschheitsgeschichte ihre evolutionäre Funktion erfüllt und den Erhalt der menschlichen Zivilisation gewährleistet hat. Die Rationalität der Angst kann also nicht unterschätzt werden. Es kostet nicht viel, in einer Fernsehdebatte die Rolle der tapferen Helden zu spielen, die bis zum Tod kämpfen, um ihre Prinzipien zu verteidigen. Aber nur Psychopathen haben vor nichts Angst. Vielleicht hat der Kriegsjournalist schon zu viele Leichen gesehen, um durch den Anblick weiterer Millionen von Toten erschüttert zu werden. Es ist nur zu hoffen, dass wir nicht von einer Handvoll schlafwandelnder Psychopathen, die überhaupt keine Angst haben, regiert werden.

Und was macht „das Volk“ inmitten all dieser Diskussionen, die von Tag zu Tag verstörender werden? Gegenüber einer Handvoll Schlafwandler, die uns im Namen „unserer Werte“ in eine nukleare Katastrophe führen wollen, fühlt sich das Volk anscheinend machtlos, schließlich hängen die existenziellen Entscheidungen über Krieg und Frieden nicht von ihm ab. Also „wacht das Volk auf“, indem es für die Demokratie gegen die AfD und ihre angeblichen Remigrationspläne auf die Straße geht… Ist Europa noch zu retten oder haben wir uns alle bereits in Schlafwandler verwandelt?

Siehe zur gleichen Thematik «Apathie und Schockstarre – Warum bleiben die Ängste vor einer Ausweitung des Krieges stumm und folgenlos?» (Von Leo Ensel auf Globalbridge.ch)

Und sehr lesenswert ist auch dieser Text zum gleichen Thema von Willy Wahl