Gaza im Juni 2024, wie schon seit acht Monaten: Es ist Krieg – und die westliche Welt schaut weg …
Trotz Anordnungen des UN-Sicherheitsrates und des Internationalen Gerichtshofes, die Angriffe in Gaza zu stoppen, zu verhandeln und Hilfsgüter für die Menschen über die gesperrten Grenzübergänge fahren zu lassen, trotz täglicher Mahnungen und Appelle seiner Partner in den USA und Deutschland, trotz Vorschlägen und Angeboten aus China, Russland und der Arabischen Liga, trotz Verhandlungen der Geheimdienste aus Israel/USA und aus Ägypten/Katar, setzt Israel den Krieg gegen die Palästinenser fort. Selbst die täglichen, zornigen Proteste der eigenen Bevölkerung, die immer größer werden und einen Waffenstillstand fordern, um ihren nach Gaza entführten Angehörigen eine Überlebenschance und die Perspektive auf Freiheit zu geben, stimmen den israelischen Kriegschef Benjamin Netanyahu nicht um.
Man kämpfe „um die Existenz des jüdischen Staates“, so sein Mantra. Tatsächlich kämpft Netanyahu nicht um Israel, sondern um sein eigenes Schicksal. Endet der Krieg, wird er sich als Regierungschef nicht nur für die Massaker in Gaza und das moralische und militärische Versagen der eigenen Armee verantworten müssen. Er wird die Verantwortung dafür übernehmen müssen, dass der palästinensische Angriff am 7. Oktober 2023 geschehen konnte. Politisch, militärisch und geheimdienstlich hat die israelische Regierung Netanyahu vor, an und nach diesem Tag versagt. Warnungen der eigenen Soldaten in den hypermodernen Überwachungszentren um Gaza wurden nicht ernst genommen.
Auch US-Präsident Joe Biden und mit ihm sein Außenminister Antony Blinken kämpfen um ihr Schicksal. Die Demokratische Partei in den USA verliert nur wenige Monate vor den Präsidentschaftswahlen (November 2024) an Zustimmung vor allem bei jungen und arabisch-stämmigen Amerikanern. Die US-Elite-Universitäten werden bestreikt, um die Regierung zu einer Einstellung der Waffenlieferungen an Israel zu drängen. Der zynische Versuch Blinkens, den Gaza-Krieg zu nutzen, um Israel und Saudi-Arabien zu einem „Normalisierungsabkommen“ zu bringen, sind gescheitert.
Am 1. Juni präsentiert US-Präsident Joe Biden einen Waffenstillstandsplan, der angeblich von Israel stammen soll, was aus Tel Aviv aber verschiedentlich dementiert wird.
Spitze des Zynismus dieses angeblich israelischen Waffenstillstandsplans in drei Phasen ist die Abstimmung im UN-Sicherheitsrat darüber am 10.6.2024, nachdem die USA jede bisherige Initiative für ein Ende des Krieges in Gaza in dem Gremium blockiert hat.
Blinken dementiert zudem die Zustimmung der Hamas – die Anfang des Jahres bereits einen ähnlichen Plan vorgelegt hatte. Schließlich wird Israel in dem Papier ein großes Schlupfloch gelassen. Phase 2 soll demnach erst eintreten, wenn Israel zugestimmt hat. Das, da sind Beobachter sich einig, wird nicht eintreten, da Israel den Plan ablehnt und fortwährend den „totalen Sieg“ und die Eliminierung der Hamas als Kriegsziel wiederholt.
Gideon Levy von der Zeitung Haaretz sagt dazu in einem Interview mit dem katarischen Nachrichtensender Al Jazeera Englisch, der in Israel verboten ist, die Israelis fragten sich, bis wann dieser Krieg weitergehen solle und warum. «Es könnte ein endloser Krieg werden, ein Abnutzungskrieg (….). Wir werden nie diesen lächerlichen “totalen Sieg” erreichen, über den Ministerpräsident Netanyahu redet.»
Mitte Juni (12.06.2024) veröffentlicht Al Jazeera in seiner Reihe AJ 360 eine Dokumentation über das Al Shifa Krankenhaus. Die Klinik steht exemplarisch für Angriffe gegen medizinische Einrichtungen durch die israelischen Streitkräfte im Gazastreifen. Die 45-minütige Dokumentation im arabischen Original mit englischen Untertiteln trägt den Titel „Al Shifa Krankenhaus: Die Verbrechen, die sie versuchte zu begraben“.
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Sie wurde „mit einer der wenigen Kameras gedreht, die im Al Shifa-Krankenhaus vorhanden waren“, heißt es im Vorspann. „Der Krieg hinterließ eine Beschädigung auf der Linse“, so der Sender. Man habe sich aber entschlossen, die dadurch entstandenen fehlerhaften Bilder nicht im Nachhinein zu bearbeiten, weil es ein „Zeugnis des anhaltenden Leids in Gaza“ darstelle.
Die israelische Armee führe eine „hoch präzise Operation in begrenzten Gebieten des Shifa-Krankenhauses“, erklärt Armeesprecher Daniel Hagari zu Beginn des Angriffs. Drohnenaufnahmen zeigen den Krankenhauskomplex, mit begrüntem Vorplatz, kleineren Gebäuden, umgeben von weitgehend intakten Wohnblocks, im Hintergrund das Mittelmeer.
Dann wechselt das Bild und Drohnenaufnahmen zeigen einen komplett zerstörten, verkohlten Gebäudekomplex, umgeben von ausgebrannten und zerstörten Hausgerippen, der große Platz vor dem Krankenhaus ist eine Sandwüste, kein Baum ist mehr dort.
„Was wir bisher nicht wissen, ist, was im Al-Shifa Krankenhaus geschehen ist“, ist vor schwarzem Grund in arabischer und englischer Sprache zu lesen. Das Bild wechselt zu einer Nachtaufnahme des Platzes vor der Klinik, auf der Menschen in Lichtkegeln zu sehen sind, geschäftiges Treiben. Dann öffnet sich der Bildschirm wie der Vorhang einer Bühne und gibt den Blick frei auf einen komplett zerstörten Korridor der Klinik. Kabel hängen von der Decke, zerschlagenes Mauerwerk liegt auf dem Boden, eine Bahre. „Tag 1, Montag 18. März“, steht darunter. Die Kamera durchstreift weitere zerstörte Räume, dann folgt sie einer Frau, die langsam durch die Klinikgänge geht. Eine Frauenstimme aus dem Off beginnt zu erzählen: „Die Belagerung des Al Shifa Krankenhauses begann am Montag um 2 Uhr mittags. Wir hatten Dienst auf der Intensivstation.“ In der nächsten Aufnahme ist die Frau zu sehen. Sie steht mit ihrem langen, beigen Mantel in einem zerstörten Flur der Klinik. Sie trägt einen langen, weißen Schleier. Sarah Abu Hatab, ist zu lesen. Krankenschwester, Intensivstation.
Die Krankenschwester ist eine von vielen Augenzeugen, die im Laufe der Dokumentation berichten, was sie erfahren haben. Wo sie waren, als der Angriff begann und an den folgenden Tagen. Mit wem sie zusammen waren. Was die israelischen Soldaten mit ihnen machten. Wie sie sie ansprachen. Weitere Augenzeugen sind Basheer Jaradah, ein Vertriebener, der mit seinem Vater und weiteren Familienangehörigen Zuflucht in der Klinik gesucht hatte. Jawad Zahra, Krankenpfleger auf der Orthopädiestation. Mahmoud al-Mazaini, ein Vertriebener, der mit seiner Familie – Mutter, Vater, zwei Brüdern und einer Schwester – neben der Klinik im Haus des Großvaters lebte. Raed Farran, dessen Familienhaus seit 63 Jahren gleich neben dem Al-Krankenhaus steht. Der Mann ist schwer gehbehindert und stützt sich auf einen Stock. Aouni Karim al-Hallab, auch er wohnt neben dem Al-Shifa Krankenhaus.
Hier einige ihrer Aussagen:
Basheer Jarade, Vertriebener: „Am ersten Tag haben wir nichts gegessen. Am zweiten Tag waren wir hungrig. Ich hatte zwei Brote. Wir teilten die zwei Brote unter acht Leuten auf. Es gab auch noch etwas Suppe, die wir unter 19 Leuten aufteilten.“
Jawad Zahra, Krankenpfleger: „Hier haben sie uns festgenommen. Sie haben eine gelbe Tonne hier aufgestellt, eine andere dort. Wir standen in zwei Reihen zu jeweils fünf. Der Laserstrahl der Scharfschützen war auf uns gerichtet. Damit wir ruhig standen, dann zeigte er, wohin wir gehen sollten. Dort stand ein Panzer, daneben schwer bewaffnete Soldaten. Alle, die in Richtung des Panzers gehen sollten, mußten sich bis auf die Unterhosen ausziehen. Dann wurden sie zum Verhör gebracht. Die meisten wurden verhört, einige konnten zum Gebäude zurückgehen. Danach haben sie alle Krankenhausmitarbeiter aufgefordert, auf dem Hügel dort zu sitzen.“
„Der Hügel“ bestand aus Erdreich, das die israelischen Soldaten mit einem Bulldozer vom ersten Tag an zu dem „Hügel“ zusammenschoben hatten, berichtet der Krankenpfleger Jawad. „Sie zerstörten alles“ auf dem Gelände vor dem Krankenhaus. „Alles wurde niedergewalzt. Dort drüben waren Tote beerdigt. Sie haben alles mit dem Bulldozer zusammengeschoben, alles und haben uns gezwungen, auf diesem Schutthügel zu sitzen. Wir saßen da, umgeben von sterblichen Überresten der Toten, mit dem Blut, mit dem Geruch ihrer Leichen.“
Die Augenzeugen, die in der Dokumentation über ihre Qualen während der Besatzung der Klinik berichten, haben äußerlich unversehrt überlebt. Das Al Shifa-Krankenhaus, für die medizinischen Mitarbeiter ein langjähriger Arbeitsplatz, für die Vertriebenen Zufluchtsstätte, wurde von den israelischen Soldaten in Brand gesetzt, als sie am 1. April 2024, nach 14 Tagen Besatzung, überraschend abzogen.
Rückblick auf Massengräber ungeklärter Herkunft
Während der Filmaufnahmen, die Mitarbeiter des Senders in Gaza im April drehten, wurden in einem Massengrab auf dem Klinikgelände 31 Leichen geborgen. Nach den Filmaufnahmen wurde ein zweites Grab mit 49 Leichen gefunden. Manche Quellen sprechen von vier, andere von sieben Gräbern, die auf dem Al-Shifa Gelände gefunden worden seien. Die UNO berichtete von Leichen, deren Hände auf dem Rücken gefesselt waren.
Die Israelische Armee gab an, auf dem Gelände 200 Hamaskämpfer getötet zu haben.
Im Laufe des April wurden weitere Massengräber nach dem Abzug der israelischen Truppen Ende April beim Al Nasser Krankenhaus in der Stadt Khan Younis gefunden. Ende April teilten die palästinensischen Behörden mit, dass dort von den Zivilschutzkräften drei Massengräber mit (insgesamt) bis zu 700 Leichen gefunden worden seien.
Sowohl die Vereinten Nationen, der UN-Sicherheitsrat, Hamas, PLO und die Palästinensische Autonomiebehörde (Abbas) sowie zahlreiche Staaten, Nicht-Regierungs- und Hilfsorganisationen fordern noch immer eine unabhängige internationale Untersuchung der Massengräber. Das aber wird von Israel verhindert. Israel kontrolliert und blockiert sämtliche Grenzübergänge und auch seeseitig den Gazastreifen.
Low Intensity Warfare
Am 6. Mai beginnen die israelischen Streitkräfte ihren „low-intensity“ Angriff auf 1,7 Millionen Palästinenser, Vertriebene und Bewohner der Stadt Rafah, der südlichsten Stadt des Gaza-Streifens.
„Low-Intensity-Warfare“, ein Krieg niedriger Intensivität, war der Rat der US-Administration an Israel schon im Dezember 2023, um die weltweite Kritik an der massiven Zerstörung und an den hohen Opferzahlen unter Zivilisten einzudämmen. Ziel ist dabei, mit „präzisen“ Angriffen die Hamas zu „eliminieren“. Die Zivilbevölkerung soll nicht zu Schaden kommen und daher evakuiert werden. Auch Angriff und Besetzung des Al Shifa-Krankenhaus waren vom israelischen Armeesprecher Daniel Hagari als „hoch präzise Operation“ angekündigt worden.
Am 8. Mai meldet die israelische Armee die Kontrolle über den Grenzübergang Rafah, alle humanitären Hilfslieferungen aus Ägypten werden gestoppt. US-Präsident Joe Biden droht damit, eine schon genehmigte umfangreiche Waffenlieferung an Israel zu stoppen. Das israelische Kriegskabinett entscheidet, den Angriff auf Rafah auszuweiten. UN-Hilfsorganisationen helfen den Menschen zu fliehen. Die UNRWA verlegt Hunderttausende Vertriebene aus 15 UN-Schulen in Rafah in das Zentrum des zerstörten Gaza-Streifens in die Nähe verschiedener Flüchtlingslager.
Im Laufe des Mai fliehen 1 Millionen Menschen aus Rafah in Richtung Norden, von wo sie zuvor schon vertrieben worden waren.
In der Nacht zum 26.5.2024, es ist ein Sonntag, bombardiert die israelische Luftwaffe ein Zeltlager für Vertriebene in Tal al-Sultan, am Rande von Rafah. Die Familien bringen gerade ihre Kinder zu Bett, beten gemeinsam, als ein Schlag die Erde erbeben läßt und Feuer ausbricht. Mindestens 45 Menschen sterben, viele Menschen werden mit schwersten Verbrennungen u.a. in das Feldkrankenhaus des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz eingeliefert.
Die UNO fordert erneut einen sofortigen Waffenstillstand. Der israelische Ministerpräsident Benjamnin Netanyahu spricht von einem „tragischen Fehler“.
In der Knesset, dem israelischen Parlament, wird derweil über einen Antrag diskutiert, die UN-Organisation für die Unterstützung der palästinensischen Flüchtlinge, UNRWA, als „Terrororganisation“ zu verbieten. Die UNRWA wurde 1949 von der UN-Vollversammlung gegründet, um den mehr als 700.000 Palästinensern zu helfen, die bei der gewaltsamen Gründung des Staates Israel (1948) vertrieben worden waren. Die Palästinenser sprechen von der Nakba, der Katastrophe.
27. Mai 2024: Bei einer EU-Außenministerkonferenz fordert der irische Außen- und Verteidigungsminister Micheál Martin, Israel mit Sanktionen zu bestrafen. Martin ist nicht der einzige der Außenminister, der das fordert, aber er spricht darüber. Die Luftangriffe auf Rafah seien „barbarisch“ und hätten zum ersten Mal eine offene Debatte über EU-Maßnahmen gegen Israel befördert, berichtet die «Irisch Times» unter Berufung auf Martin. Israel müsse sich an die Anordnung des Internationalen Gerichtshofs halten und die Militäroffensive gegen Rafah einstellen.
30. Mai 2024: 50 UN-Experten fordern vom UN-Sicherheitsrat, Sanktionen und ein Waffenembargo gegen Israel zu verhängen. Der Angriff auf Rafah müsse unabhängig untersucht werden. “Auch wenn israelische Führer jetzt die Angriffe als ‹Fehler› bezeichnen, tragen sie die internationale legale Verantwortung“, heißt es in dem Schreiben. „Jetzt von einem Fehler zu sprechen, macht die Angriffe nicht legal, bringt nicht diejenigen zurück, die getötet wurden und ist keine Beruhigung für die trauernden Überlebenden“.
30. Mai 2024: Bei einem Treffen zwischen China und den Arabischen Staaten in Peking steht erneut der Krieg in Gaza im Mittelpunkt. Man müsse mit „einer gemeinsamen Stimme“ für Gaza sprechen, erklärt der chinesische Präsident Xi Jinping vor den arabischen Politikern, die er jeweils auch zu Einzelgesprächen trifft. Palästina müsse als Staat anerkannt werden.
International werden die Rufe nach einer Anerkennung des Staates Palästina lauter. Anfang Juni 2024 haben 144 der 193 UN-Mitgliedsstaaten den Staat Palästina anerkannt.
Gaza im Juni
Die internationalen Stürme der Entrüstung ziehen an Israel und seiner Regierung konsequenzlos vorüber. Der Krieg gegen Rafah und andere Teile des Gaza-Streifens, insbesondere gegen das Flüchtlingslager Nuseirat und den Ort Deir al-Baled, werden fortgeführt und intensiviert.
Am 6. Juni 2024 greift die israelische Luftwaffe erneut eine UNRWA-Schule an. Bis zu 45 Inlandsflüchtlinge sterben, die dort Schutz gesucht hatten, nachdem sie aus Rafah vertrieben worden waren. Die UNRWA-Schule steht im Flüchtlingslager Nuseirat, unweit von Deir al-Baled, im Zentrum des Gazastreifens. UN-Angaben zufolge sind dort zum Zeitpunkt des Angriffs mehr als 6000 Menschen untergebracht.
Mehr als 76 Prozent der Schulen in Gaza – insgesamt 296 – müssen „ganz neu gebaut werden oder benötigen umfangreiche Reparaturen“ teilt das UN-Büro für Nothilfe, OCHA mit. Schulen, in denen heute nicht mehr gelehrt und gelernt wird, sondern wo Hunderttausende Vertriebene Zuflucht suchen, gehören demnach weiterhin zu den Hauptangriffszielen der israelischen Armee. Die Angriffe auf Schulen und Universitäten in Gaza „zerstören die Grundlage für gesellschaftliches Wachstum“. Alle sieben Universitäten in Gaza sind von Israel zerstört.
Nur wenige Journalisten interessieren sich für diese systematische Vernichtung von Bildungseinrichtungen der Palästinenser durch die israelischen Streitkräfte.
Nach der Bombardierung der Al Izraa-Universität im Januar 2024
fragen Reporter Matthew Miller, den Sprecher des US-Außenministeriums. Dessen Antwort – sinngemäß – ist, er wisse nicht, „was unter dem Gebäude ist, was in dem Gebäude ist, ich kann mich hier dazu nicht äußern.“ Die Verwaltung der Izsraa-Universität nimmt dazu Stellung:
„Die israelische Armee besetzte (die Universität) und nutzte es als Militärbasis für ihre Angriffe. Und als Zentrum für einzelne Zivilisten, die sie dorthin verschleppte.“
Am 8. Juni führen israelische Spezialkräfte der Antiterror-Einheit Yamam eine Befreiungsaktion im Nuseirat Lager durch. Vier der israelischen Geiseln werden befreit, 274 Palästinenser werden dabei getötet. Drei weitere israelische Geiseln, darunter ein US-Amerikaner, werden ebenfalls getötet. Der Einsatzleiter des Kommandos stirbt nach Verletzungen. Die israelische Luftwaffe, Armee und Marine unterstützen die Befreiungsaktion mit massivem Bombardement auf die umliegenden Straßen und auf einen Markt, der mit vielen Menschen gefüllt ist. Auch der US- und der britische Geheimdienst helfen.
Am 12. Juni berichtete die Nichtregierungsorganisation “Menschlichkeit und Inklusion“ (Humanity and Inclusion (HI), dass die israelische Armee das Lager der Organisation mit einem Bulldozer niedergewalzt habe. Fast 200 Palletten mit humanitären Hilfsgütern seien dort gelagert gewesen, heisst es in einer Erklärung. Der Ort und der Charakter des Lagers seien – wie es Vorschrift ist – den israelischen Behörden gemeldet worden.
Am 14. Juni wird die Zahl der getöteten Palästinenser seit Beginn des Krieges (7.10.2023) von der palästinensischen Gesundheitsbehörde (Gaza) mit mindestens 37.266 angegeben, 85’102 Verletzte müssen versorgt werden.
Am 15. Juni wird die Zahl der getöteten israelischen Soldaten für den gleichen Zeitraum mit mehr als 600 angegeben. 1200 Israelis und Ausländer kamen am 7. Oktober 2023 in Israel um.
Am 16. Juni beginnt Eid al-Adha, das islamische Opferfest. Es ist der höchste Feiertag für Muslime weltweit und markiert den Beginn der Hadj, eine religiöse Pflicht und Pilgerreise nach Mekka. Millionen Muslime sollen diese Reise mindestens einmal in ihrem Leben unternehmen, sofern sie finanziell dazu in der Lage und gesund sind. Für Gläubige aus Gaza ein unerreichbares Unterfangen. Fotografen in Gaza verbreiten Bilder betender Menschen in Trümmern. Der Krieg geht derweil weiter.
Am 16. Juni bombardieren die israelischen Streitkräfte aus der Luft, vom Meer und mit der Artillerie das Gebiet um Tal as-Sultan, am Rande von Rafah. Dort waren am Vortag acht israelische Soldaten bei einem Angriff der Qassam-Brigaden auf deren Panzerwagen getötet worden. Während westliche und internationale Medien sich auf die militärische Seite des Angriffs der Qassam-Brigaden konzentrieren und das Geschehen analysieren, die Namen und Fotos der getöteten Soldaten verbreitet werden und Experten in Interviews die militärische Lage für Israel und die Hamas abwägen – werden mindestens 28 Palästinenser in ihren Wohnungen in Rafah von den israelischen Angriffen getötet. Dutzende Wohnhäuser gehen in Flammen auf.
Ein palästinensischer Familienvater
In vorherigen Texten über das Geschehen in Gaza trugen Briefe eines palästinensischen Familienvaters, die die Autorin erreichten, zur Darstellung der Situation der Bevölkerung im Gazastreifen bei. Ende April 2024 konnte er mit seiner Familie – und mit Hilfe von deutschen Freunden – den Gazastreifen Richtung Ägypten verlassen.
Das erste Lebenszeichen kam aus Kairo:
„Seit nun zwei Tagen sind wir nun in Kairo nach einer sehr langen und harten Fahrt bzw. Ausreise angekommen. Auf dem Weg dorthin sahen wir das Ausmaß an Zerstörung in Khan Younes. Das ist nichts anderes als eine totale Zerstörung. Alle Häuser auf beiden Seiten der Straße sind dem Erdboden gleichgemacht. Ob das auch als Recht auf Selbstverteidigung gilt, ist sehr fraglich. Wir werden da (in Kairo) etwas Zeit verbringen, bis wir das Visum für (……) erhalten haben. Und wir hoffen, dass es nicht allzu lange dauern wird.
Ich kann mich daher zu den Ereignissen in dem Gazastreifen nicht äußern, da ich nicht mehr vor Ort bin. Meine große Familie ist immer noch in Gaza Stadt geblieben und ich rufe jeden Tag einmal an. Wie lange wir nun uns hier aufhalten, wissen wir nicht. (…)“.
Das zweite Schreiben stammt vom 13.06.2024:
„Seit fast 50 Tagen halten wir uns nun in Kairo auf. Ich werde kurz über unsere aktuelle Situation berichten. Das Leben in Kairo ist für uns ganz anders als es für uns in Gaza VOR DEM KRIEG war. Unsere Wohnung, unseren normalen Alltag haben wir verloren. Wir leben hier in vielerlei Hinsicht eingeschränkt und nur vorübergehend geduldet. Dennoch ist unser Leben hier besser als es jetzt in Gaza ist, weil wir in Sicherheit sind und keine Angst mehr zu haben brauchen, ob wir den nächsten Tag überleben. Da aber unsere Familien, unsere Freundinnen und Freunde sowie Nachbarn und Kollegen, die noch in Gaza sind, täglich um ihr Leben, um ihr Überleben kämpfen, können wir nicht wirklich „abschalten“. Ihr Leid ist uns immer gegenwärtig. Von meinem Vater in Gaza Stadt weiß ich, wie unfassbar schrecklich die Situation für die Menschen dort ist. Was er mir am Telefon erzählt, kann ich mit Worten nicht beschreiben, weil es einfach unbeschreiblich ist. (….)“.