Für ein zeitgemäßes „Neues Denken 2.0“ – oder: Fragen an Michail Gorbatschow (I)
Das wichtigste politische Erbe, das uns Michail Gorbatschow hinterlassen hat, ist das von ihm mitentwickelte und erstmals in die politische Praxis umgesetzte Neue Denken. Es rückte das alle übrigen Gegensätze überwölbende Menschheitsinteresse in den Vordergrund: das Weiterleben als Gattung. – Heute benötigen wir eine Aktualisierung, ein „Neues Denken 2.0“. (Teil I einer dreiteiligen Serie.)
„Im Mittelpunkt des Neuen Denkens stand die These vom Vorrang der universellen Interessen und Werte in einer zunehmend integrierten, interdependenten Welt. Das Neue Denken verleugnet nicht nationale, Klassen-, Unternehmens- und andere Interessen. Aber es rückt das Interesse an der Erhaltung der Menschheit in den Vordergrund, um sie vor einem drohenden Atomkrieg und einer Umweltkatastrophe zu bewahren. Wir haben uns geweigert, die weltweite Entwicklung als einen Kampf zwischen zwei gegensätzlichen Gesellschaftssystemen zu betrachten. Wir haben unser Sicherheitskonzept überarbeitet und uns die Entmilitarisierung der Weltpolitik zur Aufgabe gemacht. Daraus ergibt sich der Grundsatz der angemessenen Verteidigungsfähigkeit auf niedrigerem Rüstungsniveau. Im Allgemeinen bedeutete das Neue Denken in der Außen- wie in der Innenpolitik, dass man versuchte, nach dem gesunden Menschenverstand zu denken und zu handeln.“
So hat Michail Gorbatschow selbst in seinem ‚politischen Testament‘, dem zwei Jahre vor seinem Tode veröffentlichten langen Essay „Perestroika verstehen – Neues Denken verteidigen“, die Grundprinzipien seines Neuen Denkens noch einmal umrissen. Heute, zu Zeiten des sich dramatisch zuspitzenden Ukrainekrieges und der erneuten wechselseitigen Drohung, im Extremfalle sogar Atomwaffen einzusetzen, sind diese Prinzipien dringlicher denn je. Aber sie bedürfen der Aktualisierung. Ein zeitgemäßes „Neues Denken 2.0“ müsste im Sinne seines Hauptprotagonisten weiterdenken und an den aktuellen globalen Tendenzen und menschheitsbedrohenden Gefahren ansetzen.
Der Autor dieses Textes wollte im Herbst 2021 noch zusammen mit Michail Gorbatschow ein Interviewbuch über die Bedingungen eines notwendigen „Neuen Denkens 2.0“ verfassen. Das scheiterte daran, dass der gesundheitlich angeschlagene Friedensnobelpreisträger die beiden letzten Jahre seines Lebens im Krankenhaus der Präsidentialadministration verbringen musste und aufgrund der damaligen Coronalage fast keinen Besuch mehr empfangen konnte. Aber die Fragen an eine Aktualisierung des Neuen Denkens bleiben ja virulent. In welche Richtung die Reise hier gehen sollte, deutet der folgende Text an: Und zwar in Gestalt des – aktualisierten – Leitfadens für die Gespräche, die ich mit Gorbatschow noch führen wollte. Nun liegt es an uns allen, die Antworten darauf selbst zu entwickeln.
Der globale Rückfall in das alte Denken
Die Militarisierung der Weltpolitik und der neue kalte und heiße Krieg
- Michail Sergejewitsch, über drei Jahrzehnte nach der „Charta von Paris“, die nicht zuletzt das Resultat Ihres Neuen Denkens und Handelns war, finden wir uns – unter veränderten geopolitischen Rahmenbedingungen – nicht nur in einem neuen kalten, sondern in einem blutigen ‚heißen‘ Krieg zwischen dem kollektiven Westen und Russland auf dem Territorium der Ukraine wieder. In den letzten Jahren und Jahrzehnten wurden – und zwar stets auf Betreiben der USA – grundlegende Pfeiler der globalen Architektur der Rüstungsbegrenzung und Abrüstung eingerissen. Am Bedeutendsten waren sicher die durch nichts provozierte amerikanische Kündigung des ABM-Vertrages Ende 2001 und die Kündigung Ihres „Kindes“, des von Ihnen ausgehandelten INF-Vertrags im Sommer 2019. Mittlerweile kann man sagen, dass nahezu Ihr gesamtes abrüstungspolitisches Erbe mutwillig an die Wand gefahren wurde. – Wie ist es zu dieser Entwicklung gekommen, nachdem der Westen und die Sowjetunion im November 1990 doch mit der „Charta von Paris“ das Ende des Kalten Krieges und ein neues Zeitalter der Kooperation verkündet hatten?
- Es wird wieder nuklear aufgerüstet und zwar mit kleineren Sprengköpfen auf immer zielgenaueren Trägersystemen. Zudem werden nuklear bestückbare Hyperschallraketen entwickelt, die während des Anfluges praktisch nicht mehr zu eliminieren sind. Gleichzeitig beginnt die Grenze zwischen Atombomben und konventionellen Waffen immer mehr zu verschwimmen, womit sich die Wahrscheinlichkeit eines tatsächlichen Einsatzes von atomaren Sprengköpfen drastisch erhöht. Und es werden völlig neue Waffen entwickelt, deren Wirkung gar nicht mehr abzusehen ist: Drohnen, selbstständige Kampfroboter, Künstliche Intelligenz, die Militarisierung des Weltraums – ja, am Horizont erscheint die immer realistischere, wenn nicht sogar wahrscheinliche Option, dass angesichts extrem verkürzter Vorwarnzeiten die Entscheidung über Sein oder Nichtsein des gesamten Planeten früher oder später an Computer, an Künstliche Intelligenz, kurz: an Gerätedelegiert wird! – Ist die Öffnung der „Büchse der Pandora“ noch rechtzeitig zu verhindern?
- Die gegenwärtige Militarisierung der Weltpolitik findet in unterschiedlichen Regionen und auf unterschiedlichen Ebenen statt. Bezogen auf die neuen kriegerischen Spannungen zwischen der osterweiterten NATO und dem wiedererstarkten Russland könnte man vielleicht von einer „neuen Bipolarität in einer zunehmend multipolarer werdenden Welt“ sprechen. – In Ihrer Sprache müsste man sagen: Es findet gegenwärtig auf allen Ebenen ein dramatischer Rückfall in das alte Denken statt – Diplomatie spielt im Ukrainekrieg so gut wie keine Rolle – und trotzdem regt sich dagegen kaum Widerstand! Haben Sie eine Erklärung, warum diese brandgefährliche Entwicklung mit all ihren unkalkulierbaren Risiken sowohl im Westen wie in Russland fast schicksalsergeben hingenommen wird?
- Müssen wir nicht alle aus der Entwicklung der vergangenen dreieinhalb Jahrzehnte noch eine bittere Lektion lernen: Nämlich, dass auch die hoffnungsvollste Entwicklung wieder umgekehrt werden kann, wenn sie gewissen mächtigen und einflussreichen Kreisen nicht passt? Müssen wir nicht auch für die Zukunft immer wieder mit solch fatalen Rückschlägen rechnen? Und welche Konsequenzen ziehen wir daraus für unser Handeln?
- Es ist nicht sehr angenehm, aber unterziehen wir uns mal der Mühe, die gegenwärtigen Tendenzen – besonders im sich gerade dramatisch zuspitzenden Ukrainekrieg – konsequent zuende zu denken: Was wird passieren, wenn sich diese Entwicklung bruchlos in die Zukunft verlängert?
Das Versagen der Zivilgesellschaften
- In den Achtziger Jahren gab es in Westeuropa wie in den USA starke Friedensbewegungen ‚von unten‘. Die Gefahr eines möglichen, gar wahrscheinlichen Atomkriegs war damals den meisten Menschen bewusst und viele waren bereit, dafür auf die Straße zu gehen. – Wie erklären Sie sich, dass dieses Bewusstsein heute völlig verschwunden ist, obwohl Fachleute warnen, die gegenwärtige Situation im Ukrainekrieg sei gefährlicher als während der Kubakrise? Hat vielleicht paradoxerweise Ihre erfolgreiche Politik der atomaren Abrüstung ungewollt dazu geführt, dass viele Menschen in ihrem Kampf gegen die Atombombe nachgelassen haben, weil sie dachten, das Thema hätte sich glücklich erledigt?
- Das zivilgesellschaftliche Engagement der Jugend in der westlichen Welt beschränkt sich gegenwärtig fast ausschließlich auf den Kampf gegen Erderwärmung und Klimakatastrophe. Dass ein Atomkrieg – schon ein ‚begrenzter‘ – nicht nur das Klima, sondern alles Leben auf diesem Planeten am Schnellsten (modisch gesprochen: am Nachhaltigsten) zerstören würde, dass nicht zuletzt die weltweite Aufrüstung dem sensiblen, höchst störungsanfälligen ökologischen Gleichgewicht bereits jetzt möglicherweise irreparable Schäden zufügt, das scheinen Akteure wie Fridays for Future und andere merkwürdigerweise nicht zu sehen! Der Kampf gegen den Klimawandel steht offenkundig dem Kampf gegen atomare und konventionelle Aufrüstung, gegen die Militarisierung der Weltpolitik im Wege, kurz: Die Umweltbewegung ist auf dem rüstungspolitischen Auge blind! – Wie kann in dieser Generation das Bewusstsein geweckt werden, dass der Kampf gegen die Erderwärmung, für die Rettung der Mitwelt und der Kampf gegen die weltweite Aufrüstung und Kriegsgefahr sachlich zusammengehören, genauer: zwei Seiten derselben Medaille sind?
Teil II dieser dreiteiligen Serie erscheint am 28. Dezember 2024