Feuer und Eis: Wie wird Amerika scheitern?
(Red. Unser Kolumnist aus den USA Patrick Lawrence macht darauf aufmerksam, dass in den letzten dreitausend Jahren auf dieser Welt etliche Imperien entstanden und, meist nach einer längeren Krisenzeit, auch wieder definitiv untergegangen sind. Das, so nimmt er an, trifft auch auf das „Imperium“ der USA zu. Offen sei nur, so meint er, die zeitliche Länge der bereits laufenden Vor-Untergangskrise. (cm)
Vor zehn Jahren habe ich ein Buch veröffentlicht, in dem ich den USA 25 Jahre Zeit gab, sich mit dem Verlust ihrer geopolitischen Vormachtstellung zu arrangieren, die sie in den vergangenen sieben Jahrzehnten genossen hatten. Ich nannte das Buch «Time No Longer: Die Amerikaner nach dem amerikanischen Jahrhundert.» Als Anfangsdatum wählte ich das Jahr 2001, als die Anschläge vom 11. September in New York und Washington dem „amerikanischen Jahrhundert“ ein abruptes Ende bereiteten.
„Kann sich Amerika von einer Nation mit einem offenen Schicksal in eine Nation mit einem klaren Ziel verwandeln?“ Diese Unterscheidung entnahm ich dem Buch «The Promise of American Life», das Herbert Croly, der bekannte Sozialkritiker der Progressiven Ära, 1909 veröffentlicht hatte. Die von mir gestellte Frage war der Schlüssel zu meinem Fall: Das Schicksal, das die Menschen im Raum der zeitlosen Mythologien hält, verleiht ihnen eine halbwegs heilige „Mission“. Eine Bestimmung zu haben bedeutet, im Strom der Geschichte zu leben und irdische Dinge zu tun.
Ein Jahrhundert, nachdem Croly seinen klassischen Kommentar geschrieben hatte, hatten die Ereignisse des Jahres 2001 dem von ihm vorgeschlagenen Wandel eine neue Dringlichkeit verliehen. Amerika könnte ihn vollziehen und so seinen Platz als eine Nation unter vielen mit Anmut, Weisheit, Würde, Phantasie und einem gewissen Maß an Mut einnehmen. Ich argumentierte, dass andere Länder solche Übergänge erfolgreich bewältigt haben und dabei weitaus besser weggekommen sind. Oder Amerika könnte sich der Drehung des Rades der Geschichte widersetzen – dem 21. Jahrhundert ganz und gar widerstehen – und seine globale Hegemonie erst nach einem langen, unaufhörlich zerstörerischen Kampf um die eigene Verteidigung aufgeben.
Meine Vorhersage war nicht so schwer zu formulieren. Und 23 Jahre nach den traumatischen Anschlägen vom 11. September 2001 ist die Entscheidung, die Amerikas angebliche Führer getroffen haben, nun offenkundig – auf grausame und verhängnisvolle Weise. Als ich mich darauf vorbereitete, diesen Kommentar zu schreiben, fragte ich mich, ob das Chaos, die Unordnung und das menschliche Leid, das unsere Welt jetzt überzieht, ohne Beispiel in der modernen Geschichte sei. Das mag letztlich Ansichtssache sein, aber es steht außer Frage, dass die USA mit ihrer Weigerung, die Realitäten unseres neuen Jahrhunderts zu akzeptieren, uns in eine sehr dunkle Zeit des Krieges, der Gewalt und der Unmenschlichkeit hineingezogen haben.
Es ist viel über den Stellvertreterkrieg geschrieben worden, den die USA in der Ukraine provoziert haben, als sie vor einem Jahrzehnt den Putsch in Kiew unterstützten. Durch die Sanktionen, die Washington damals gegen die Russische Föderation verhängte, hat es die natürliche Verflechtung Europas mit der eurasischen Landmasse im Osten empfindlich gestört. Über die Unterstützung des Westens für Israels schockierend verwerfliche Bombardierung des Gazastreifens in den letzten sechs Monaten ist ebenfalls bereits viel oder sogar mehr geschrieben und gesagt worden. Und wir sind uns der eskalierenden Gefahr einer Konfrontation mit China jenseits der Straße von Taiwan durchaus bewusst – eine Gefahr, die die USA leichtfertig in Kauf nehmen.
Zusammengenommen haben diese vier Krisen einen großen Teil unseres Planeten – Europa und Russland, die Grenzgebiete zwischen ihnen, den Nahen Osten und Ostasien – in Aufruhr versetzt. Ich fühle mich an eine Beobachtung erinnert, die John Le Carré einer Figur in einem seiner Romane zuordnete: „Wo auch immer auf der Welt man ein Chaos findet, kann man sicher sein, dass die Amerikaner dort waren.“
Verschiedene Kommentatoren haben im Laufe der Jahre argumentiert, es sei zum Vorteil Washingtons, die Welt auf diese Weise aus dem Gleichgewicht zu halten – so wie Israel einen Vorteil in der Destabilisierung seiner Nachbarn sieht. Wie wahr dies auch sein mag – und ich kann diese These nicht von der Hand weisen –, die Realität unserer Zeit ist, dass die USA, die in den Jahren nach den Ereignissen von 2001 eine falsche Entscheidung getroffen haben, nun mit dem umfassenden Scheitern ihrer geopolitischen Strategie nach dem Kalten Krieg konfrontiert sind, wie sie von den ideologischen Cliquen, die unter dem Namen Neokonservative bekannt sind, entwickelt wurde.
Ich bin seit langem für das Scheitern der amerikanischen Außenpolitik in ihrer jetzigen Form – nicht weil ich irgendwie „unamerikanisch“ bin, um die alte Phrase aus dem Kalten Krieg zu zitieren, sondern weil ich überzeugt bin, dass die USA es besser machen könnten. Dieses Versagen drängt sich uns jetzt auf. Aber es ist an der Zeit zu erkennen, dass Amerika seinen Kurs nicht ändern wird, solange die Verantwortlichen des Imperiums einer Vorstellung von Amerika und seinem Platz in der Welt verhaftet bleiben, die in dem Gedanken verwurzelt ist, dass die Nation und ihre Menschen ein eigenes Schicksal haben und nicht ein Ziel.
Der Krieg in der Ukraine ist verloren. Russland, das den Bruch mit dem Westen akzeptiert hat, wendet sich nun erfolgreich an den Nicht-Westen, um die Beziehungen zu erhalten, die es braucht. Europa ist trotz der stillschweigenden Duldung seiner Führung zu jenem gemurmelten Groll gegenüber Amerika zurückgekehrt, den man in der Mitte und am Ende des Kalten Krieges hörte, als der Kontinent in Washingtons antisowjetischem Kreuzzug gegen seine eigenen Interessen zwangsverpflichtet wurde.
Anderswo können die USA Israels Völkermord an den Palästinensern im Gazastreifen so lange unterstützen, wie sie wollen, aber Amerikas Ansehen in der Gemeinschaft der Nationen hat bereits schweren, ich würde sagen irreparablen Schaden erlitten. Wie sehr das Pentagon seine Präsenz auf der westlichen Seite des Pazifiks auch verstärken mag, es besteht keinerlei Chance, dass es sich in einem offenen Konflikt mit der Volksrepublik China durchsetzen kann.
Eine mächtige Nation kann Fehleinschätzungen und Fehlschläge dieser Art sehr lange verkraften. Aber hier müssen wir einen wichtigen Unterschied machen. Amerika ist eine mächtige Nation, aber es ist keine starke Nation mehr. Die Kosten seiner Macht sind, mit anderen Worten, an den sich anhäufenden Schwächen – politisch, wirtschaftlich, sozial, sogar kulturell und psychologisch – zu messen, die seine Machtprojektion erfordert hat.
Ich kann nicht erkennen, dass sich dieses Muster sehr von dem der Sowjetunion in den Jahrzehnten vor ihrem Untergang unterscheidet. Wenn wir noch weiter zurückgehen, werden wir feststellen, dass die anhaltende Machtprojektion bei verschiedenen Imperien, angefangen bei den Römern, über die gesamte Geschichte der westlichen „Zivilisation“ hinweg den gleichen Preis forderte. Es ist die Schwächung von innen, die die USA schließlich in eine Situation der Überforderung bringen wird, so dass ihre Macht schließlich versagt – zusammen mit der Vorstellung von Schicksal, die sie gerechtfertigt hat.
Die Arbeiterklasse und die Mittelschicht in den USA befinden sich in einem Zustand zunehmender Verzweiflung, den einige offizielle Statistiken verschleiern. Vierzig Millionen Amerikaner leben heute unterhalb der offiziellen Armutsgrenze, die auf der Grundlage völlig unrealistischer Zahlen für das Jahreseinkommen festgelegt wird (20.000 Dollar für eine Familie mit zwei Kindern, 30.000 Dollar für eine Familie mit vier Kindern). Jedes fünfte Kind lebt heute in Armut, wobei sich die Quote im Jahr 2022, dem letzten Jahr, für das Zahlen vorliegen, verdoppelt hat.
Die politischen Institutionen, die Sozialfürsorge, das Gesundheitssystem, die Gerichte, die Universitäten: Sie alle müssen dem späten Imperium dienen und befinden sich daher in dem einen oder anderen Zustand der Dysfunktionalität. In diesem Zusammenhang ist eine allgemeine Depression weithin bekannt.
Dies sind die Symptome eines zerrissenen sozialen Gefüges. Und ein dauerhaftes soziales Gefüge ist ein wesentlicher Bestandteil dessen, was eine Nation stark macht. Es gibt ein weiteres Merkmal starker Nationen, das wir nicht übersehen dürfen: Sie und ihre Bürger haben ein Ziel, Dinge, denen sie sich widmen, weil sie sich einig sind, dass sie es wert sind, getan zu werden.
Was die imperiale Überdehnung angeht, so gibt es keinen genaueren Maßstab für das kommende Scheitern als die Verschuldung der Metropole. Noch einmal zur Geschichte: Dem Niedergang eines Imperiums geht in der Regel ein radikaler Anstieg der Staatsverschuldung voraus: Die Projektion von Macht ist, mit anderen Worten, nicht mehr bezahlbar. Wenn die USA diesen Zustand nicht bereits erreicht haben, sind sie auf dem besten Weg dazu.
Die amerikanische Staatsverschuldung beläuft sich inzwischen auf 34,5 Billionen Dollar, was etwa 130 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entspricht. Das ist im Vergleich zu vielen anderen Nationen, einigen Industrienationen und einigen Entwicklungsländern, schon sehr ungünstig. Letzte Woche hat das «Congressional Budget Office», das die Finanzlage der Nation überwacht, eine neue langfristige Prognose herausgegeben, die besagt, dass die Staatsverschuldung in fünf Jahren ihren Rekord aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg brechen und im Jahr 2054 166 Prozent des BIP erreichen wird – eine „beispiellose“ Steigerungsrate, wie das CBO erklärte.
Zum Vergleich: Von 1940 bis 2022 lag die Verschuldung Amerikas im Verhältnis zum BIP im Durchschnitt bei der Hälfte des derzeitigen Niveaus und erreichte 1981 einen Tiefstand von 32 Prozent. Wohlgemerkt: Die Verschuldung im Verhältnis zum BIP lag zum Zeitpunkt der Ereignisse vom 11. September, kurz vor den Invasionen im Irak und in Afghanistan, deutlich unter 50 Prozent.
Die Schlussfolgerung, die daraus zu ziehen ist, liegt auf der Hand, ist aber nicht absolut klar. Die politischen Cliquen könnten in dem einen oder anderen Fall im Ausland zu weit gehen und das Imperium plötzlich in einen Niedergang stürzen, der sich mit Blick auf die Ukraine- und Gaza-Krise bereits beschleunigt. Auf längere Sicht könnte die Verzweiflung im Inland, die ich hier nur mit dem Bleistift skizziert habe, schließlich zu einem noch nie dagewesenen Maß an politischer Instabilität führen.
Es ist eine Frage von Feuer und Eis. Und es ist schwer zu sagen, was von beidem die USA dazu zwingen wird, endlich ihren Anspruch auf eine gottgegebene Bestimmung und Mission aufzugeben. Sicher ist nur, dass sich ein Scheitern anbahnt, das von der Welt begrüßt wird.
Zum Originaltext von Patrick Lawrence in US-englischer Sprache.