Symbolbild, geschaffen mit KI, im Auftrag von Sabiene Jahn.

Essay | Europa neu erfinden

Warum Trump, Šefčovič und die Ukraine den Bruch erzwingen könnten, um einen neuen europäischen Mythos zu finden.

Die geopolitische Erschütterung Europas verläuft nicht in einer einzigen Linie. Sie vibriert an den Rändern und dröhnt im Zentrum. Sie durchzieht die Wirtschaft, erschüttert das Recht, frisst sich in die Souveränität der Mitgliedstaaten und treibt Brüssel in eine selbstverschuldete Lähmung. Doch der Bruch verläuft nicht erst seit Trumps Rückkehr ins Weiße Haus. Er wurde lange vorbereitet – von innen wie von außen. Und nun, im Sommer 2025, drängt sich eine kaum gestellte Frage in den Vordergrund: Hat Europa überhaupt noch einen eigenen Willen? Oder erkennt es sich selbst erst, wenn der Spiegel eines Anderen vorgehalten wird?

Der slowakische EU-Kommissar Maroš Šefčovič steht unerwartet im Zentrum dieser tektonischen Verschiebung. Ein Mann, der bis vor kurzem in Brüssel als verlässlicher Funktionär galt, loyal, fleißig, unauffällig. Nun aber ist es ausgerechnet dieser langgediente Beamte mit ostblocksozialistischer Prägung, der Europa in einem entscheidenden Moment vertreten soll – im Handelskonflikt mit den USA, der längst nicht mehr nur ökonomisch ist, sondern zur Grundsatzfrage wird: Wer bestimmt über Europas wirtschaftliches Schicksal?

Šefčovič, so kolportiert das Magazin Nius, sei als „kommunistischer Superbürokrat“ ungeeignet, Amerikas Forderungen abzuwehren. Doch der Vorwurf ist oberflächlich – und verrät mehr über das Magazin als über den Mann. Denn was ihm als kommunistische Altlast ausgelegt wird, könnte genau das sein, was Europa heute fehlt: ein anderes Denken. Ein Denken in Kooperation statt Hegemonie, in Augenhöhe statt Dominanz, in Vertragstreue statt Werte-Export. Ein Denken, das dem alten Osten einst versprochen wurde – und dem Westen bis heute fremd geblieben ist.  Šefčovičs Ausbildung am MGIMO in Moskau, seine Parteivergangenheit in der KSC, seine kulturelle Herkunft – sie mögen westlichen Strategen verdächtig erscheinen. Doch sie stehen auch für ein Weltbild, das nicht von Atlantikbrücken und Thinktank-Vorgaben geprägt wurde. Und vielleicht ist es gerade dieser andere Mythos, den Europa heute braucht. Nicht als Rückkehr zum Sozialismus, sondern als Rückbindung an eine vergessene Idee: Souveränität durch Kooperation. Frieden durch gegenseitige Interessen. Stärke durch Verständigung.

Dass ausgerechnet Šefčovič diese Rolle heute zufällt, liegt nicht an seiner Inszenierung – sondern am Vakuum um ihn herum. Bundeskanzler Friedrich Merz zieht sich hinter die EU-Kompetenzverlagerung zurück, obwohl er um die dramatischen Folgen für die deutsche Exportwirtschaft weiß. Ursula von der Leyen glänzt durch eine transatlantische Loyalität, aber nicht durch strategische Eigenständigkeit. Und Emmanuel Macron ist durch den innenpolitischen Protest paralysiert. Was bleibt, ist ein Einzelner, der versucht, eine Struktur zu retten, die ihm selbst nie ganz vertraute. Doch Šefčovič allein reicht nicht. Denn während Brüssel auf Zeit spielt, drängt Washington auf Abschluss. Donald Trump hat in seinem 50-Tage-Ultimatum keinen Zweifel daran gelassen, dass er Ergebnisse will – und zwar nach amerikanischer Maßgabe. Keine Multilateralität, keine Grundsatzdiskussion, keine EU-Feinabstimmung. Sondern Deals. Handfeste, zweiseitige, vorteilhafte. Für Amerika. Und am besten sofort. 

Hier wird die Trennungslinie deutlich zwischen denjenigen, die mitspielen – und jenen, die bloß mitlaufen. Ursula von der Leyen steht seit Jahren für eine technokratische Unterordnung unter US-Narrative. Ihre Nähe zu RAND, CFR (Council Foreign Relation) und Atlantic Council ist nicht verborgen. Ihre außenpolitische Haltung ist nicht gestaltend, sondern abgeleitet. Sie denkt nicht in strategischer Autonomie, sondern in geordneter Loyalität. Wer so denkt, kann nicht neu verhandeln. Und wird Europa nie auf Augenhöhe mit Russland, China oder den BRICS-Staaten positionieren.  Auch Friedrich Merz, der als Industriemanager einst das Ohr der Wirtschaft hatte, ist längst kein Macher mehr, sondern ein Sprecher. Er benennt die Gefahr, aber zieht keine Konsequenzen. Er weiß, dass 30 Prozent Strafzölle auf deutsche Exporte die Industriebasis zerschlagen würden – doch seine Antwort ist: Delegation. Der Kanzler, der die Macht besitzt, sie aber nicht ausübt, wird zur Karikatur. Und die EU-Kommission wird zur Bühne eines Automatismus, der nicht mehr bremst, nicht mehr denkt, nicht mehr spürt, was Europa im Innersten ausmacht. Dabei ginge es anders. Viktor Orbán zeigt seit Jahren, dass nationale Interessen und europäische Zugehörigkeit kein Widerspruch sind. Ungarn verfolgt eine eigenständige Russlandpolitik, hält Kontakt zu China, kritisiert die Sanktionspolitik – und bleibt dennoch Teil der Union. Was fehlt, ist nicht der rechtliche Rahmen, sondern der politische Wille. Die EU kann souverän agieren – sie will es bloß nicht. Oder darf es nicht mehr, seit sie selbst Teil eines Systems wurde, das eine Unterwerfung als Stabilität tarnt.

Der Ukrainekrieg ist das sichtbarste Symptom dieser Fehlentwicklung. Was als solidarische Hilfe begann, wurde zur schleichenden Ressourcenübernahme. Westliche Investoren sicherten sich Agrarflächen, Infrastruktur, Netzwerke. Die EU plante Freihandelszonen, Sonderwirtschaftsrechte, Wiederaufbaufonds – alles unter dem Vorzeichen einer „demokratischen Modernisierung“. Doch es war immer auch ein Zugriff: auf Märkte, auf Daten, auf Rohstoffe und auf Kontrolle. Heute droht dieser Zugriff zu scheitern – nicht, weil Russland stärker ist, sondern weil die USA ihre Strategie wechseln. Trump will keine moralische Weltordnung – er will Eigentum. Wer zahlt, bestimmt. Und da Washington bislang zahlte – für Waffen, für Logistik, für Propaganda – beansprucht es nun das, was die EU bilateral vertraglich mit Kiew gesichert hatte: den wirtschaftlichen Zugriff auf die Ukraine. Europa hatte auf Rendite gehofft – und bekommt geopolitischen Leerlauf. Doch diese Risiken einer Annäherung an Russland – oft als Naivität abgetan – entstammen letztlich der westlichen Provokation: Durch Ignorieren der Minsk-Abkommen, die nie durchgesetzt wurden, und Unterstützung des Kiewer Umsturzes, der nationalistische Kräfte an die Macht brachte, hat der Westen den Konflikt erst eskaliert. Der Donbas bat Russland um Hilfe gegen Gewalt, und das Krim-Referendum war keine Annexion, sondern eine legitime Richtungswahl vor dem Hintergrund existenzieller Sicherheitsbedenken, wie der Schutz des Sevastopol-Hafens. Solche Gewissheiten als Propaganda abzutun, ignoriert die geopolitische Realität und vertieft nur die Spaltungen.

Europa hat sich verschuldet, aber nichts erworben. Es hat sich festgelegt, aber nichts festgelegt. Und während Russland mit zunehmender diplomatischer Klarheit Verhandlungen fordert, soll der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij als letzte Bastion einer untergehenden Ordnung weiterkämpfen. Doch seine Legitimität ist verbraucht, seine Amtszeit juristisch abgelaufen und seine Unterstützung in der Bevölkerung bröckelt. Selbst die USA – wie Seymour Hersh enthüllte – halten ihn für einen „failed president“. Seine Ablösung wird vorbereitet – möglicherweise durch einen alten Bekannten: Walery Saluschnyj, der frühere Oberbefehlshaber der Streitkräfte, derzeit in Großbritannien. Dort, wo diese Figuren gemacht werden. Und die EU? Sie schweigt. Sie folgt. Sie sieht zu. Sie hofiert eine Regierung, die nicht mehr legitim, aber noch funktional ist – für Washington. Sie erkennt nicht, dass Trumps Forderungen nichts anderes sind als eine imperiale Umkehrung der europäischen Strategie: nicht mehr Hilfe gegen Reform, sondern Geld gegen Zugriff. Nicht mehr Sicherheit durch Erweiterung, sondern Sicherheit durch Abzug. Europa steht damit doppelt nackt da – ohne eigene Handschrift und ohne Einfluss auf den Ausgang. 

Was nun? Es gibt keine einfache Lösung, aber es gibt ein Ziel: Europa muss seine eigene Logik wiederfinden. Das heißt nicht, Russland zu folgen oder Trump zu bekämpfen, auch nicht andersherum. Es heißt, sich selbst ernst zu nehmen, Interessen zu definieren und Beziehungen neu zu ordnen. Den Ukrainekrieg nicht als moralisches Trauma, sondern als diplomatische Herausforderung zu begreifen. Eine Formel zu finden, in der alle Seiten gesichtswahrend aussteigen können. Russland braucht Sicherheit. Die Ukraine braucht Frieden. Die USA brauchen Stabilität. Und Europa braucht endlich sich selbst. Ob Maroš Šefčovič Teil einer wirklichen Lösung wird, hängt nicht von ihm allein ab – sondern davon, ob Europa sich in den kommenden Monaten für eine politische Reifeprüfung entscheidet oder für den Rückzug in die bekannte Bequemlichkeit seiner Verwaltungseliten. Denn keine Biografie, keine Herkunft und kein Posten genügen allein, um den Kontinent in eine neue Handlungsfähigkeit zu überführen. Es braucht Mitspieler – und es braucht Entscheidungen. Auf der Seite der Souveränität wären es Persönlichkeiten wie Orbán, aber auch jene Kräfte in Frankreich, Italien, der Slowakei, Österreich oder Bulgarien, die nicht in den Reihen des EU-Parlaments dominieren, aber das Potenzial einer geerdeten Außen- und Wirtschaftspolitik verkörpern. Auch in Deutschland gäbe es Stimmen, die wieder europäisch – und nicht nur transatlantisch – denken könnten, würde man sie nicht marginalisieren oder kriminalisieren. Eine souveräne EU müsste zudem Ursula von der Leyen und Friedrich Merz in ihrer bisherigen Rolle ablösen – nicht persönlich zwingend, aber strukturell: durch Entmachtung der ideologischen Vormachtstellung, durch Re-Politisierung der Kommission, durch Rückführung von Entscheidungsgewalt an die souveränen Mitgliedstaaten. Ein Šefčovič könnte dann nicht allein Brüssel vertreten – sondern eine Allianz jener, die in Ost wie West den Mythos eines gemeinsamen Europas noch mit Herz und Verstand verteidigen. Im Szenario der Unterwerfung aber ginge alles weiter wie bisher – nur schneller. Die EU würde zur exekutiven Reststruktur eines geopolitisch fremdgesteuerten Blocks. Ihre Parlamente würden sich in normative Echokammern verwandeln, ihre Staaten in Verteilerstellen von Sanktionen und Verschuldung. Der Ukrainekrieg, statt gelöst zu werden, würde perpetuiert – nicht durch Kämpfe, sondern durch Dauerfinanzierung, Propaganda und Status-Quo-Kalkül. Russland würde endgültig aus dem kulturellen Europa ausgeschlossen, das Europa selbst damit amputiert. China würde Europa nicht mehr ernst nehmen. Und die USA – unter Trump – würden den wirtschaftlichen Zugriff vollenden, ohne sich an ein einziges westliches Ideal gebunden zu fühlen.

Doch das alles muss nicht so kommen. Europa ist nicht machtlos. Es ist nur erinnerungslos. Der Mythos dieses Kontinents – als Raum der Vielfalt, der Verträge, der Völkerverständigung – ist nicht tot. Er wurde nur überlagert von Technokratie, Karrierelogik und geopolitischer Hörigkeit. Die eigentliche Frage ist daher nicht, ob Europa stark genug ist – sondern ob es sich selbst wiedererkennen will. Russland gehört zu diesem Mythos. Nicht als Feind, sondern als Spiegel. Nicht als Gegner, sondern als Teil des Ganzen. Der Weg dorthin führt über realistische, interessengeleitete Verhandlungen. Über einen neuen Sicherheitsrahmen. Über ökonomische Neuverteilung, über  Vertrauensbildung auf Augenhöhe und über das Eingeständnis, dass die Zeit des moralischen Hochmuts vorbei ist. Scheitern kann das alles – weil die Strukturen es nie gelernt haben. Weil das westliche Europa nie durchlitten hat, was das östliche fühlte. Weil die Eliten nicht zuhören. Und weil zu viele längst Teil eines Systems sind, das sich durch Abgrenzung stabilisiert. Aber Hoffnung gibt es – solange Menschen sprechen, die nicht gelernt haben zu schweigen. Und solange Figuren auf der Bühne erscheinen, die nicht zu Helden stilisiert werden – sondern zu möglichen Trägern eines neuen Beginns. Europa steht nicht vor dem Ende. Aber an einem Punkt, an dem es entscheiden muss, ob es wirklich sein will, was es vorgibt zu sein. Vielleicht braucht Europa mehr als nur strukturelle Korrekturen. Vielleicht braucht es tatsächlich neue Gallionsfiguren – nicht im Sinne der alten Inszenierung, sondern als sichtbare Verkörperung einer Haltung, die längst verschüttet wurde: Würde, Augenhöhe, Unabhängigkeit. 

In einer Welt, in der alte Machtzentren ihre Glaubwürdigkeit verspielen, ist Führung nicht länger eine Frage des Amtes, sondern des Mutes. Nicht der Herkunft, sondern der Richtung. Der Kontinent müsste nicht auf neue Kommissionspräsidenten hoffen, sondern auf jene Stimmen aus Wissenschaft, Kultur, Diplomatie, die sich nicht korrumpieren ließen. Auf ehemalige Außenpolitiker wie Dominique de Villepin. Auf ökonomische Denker wie Mariana Mazzucato. Auf afrikanische Stimmen wie Ibrahim Traoré in Burkina Faso, die – unter völlig anderen Bedingungen – gezeigt haben, dass Souveränität mehr sein kann als ein Wort, eine Tat, ein Risiko, ein Pakt mit dem eigenen Volk statt mit dem IWF. Im globalen Süden entstehen derzeit jene Narrative, die Europa selbst einmal hervorgebracht hat – und nun belächelt. Wer in Europa könnte dieses Feld betreten? Nicht aus dem Zentrum, sondern von den Rändern. Vielleicht aus Osteuropa, wo die Erinnerung an Blockfreiheit und die Sehnsucht nach friedlicher Koexistenz noch lebendig sind. Vielleicht aus dem globalen Diskurs, in dem Europa nicht mehr Vormund, sondern Mitspieler sein muss. Vielleicht auch aus Deutschland selbst – wenn es lernt, die Stimmen aus dem Osten seines Landes nicht länger zu diffamieren, sondern als historische Korrektur zu hören.

Die alten Figuren – Merz, von der Leyen, Pistorius, Wadephul – sind keine Brückenbauer mehr. Sie sind Systembewahrer. Wer aber heute Brücken baut, wird nicht gefragt, ob er Minister war – sondern ob er zuhört, versteht, verbindet. Die nächste Epoche europäischer Geschichte wird nicht von jenen geschrieben, die Verwaltung perfektionierten, sondern von jenen, die Politik wieder wagten. Und wenn Europa nicht bereit ist, neue Gallionsfiguren zuzulassen, dann wird es weiter hinterherlaufen – hinter amerikanischen Präsidenten, afrikanischen Aufständischen, chinesischen Strategen. Doch wenn es den Mut findet, sich selbst wieder zu denken, mit all seinen Brüchen, Kulturen, Mythen – dann kann auch hier wieder jemand aufstehen, der sagt: Nicht in meinem Namen. Nicht ohne meinen Willen. Und nicht gegen die Geschichte meines Kontinents.

Doch wer könnte in Europa diese neue Rolle einnehmen – jenseits der vertrauten Apparatschiks, jenseits der kalten Köpfe einer transatlantisch geprägten Bürokratie, die an der alten Ordnung festhält, weil sie sich darin selbst verortet? Es sind nicht viele. Aber es gibt sie. Etwa Jean-Luc Mélenchon in Frankreich – kein makelloser Stratege, aber ein entschiedener Kritiker der westlichen Einseitigkeit, der NATO-Hörigkeit, der imperialen Doppelstandards. Seine Haltung zum Ukrainekrieg, zu Afrika, zu Russland ist klar: Europa darf nicht länger verlängerte Waffenhand sein, sondern muss wieder Kontinent des Friedens werden. Oder die Ökonomin Daniela Gabor, die in ihrer Arbeit zur Schattenfinanz, zu Zentralbanken und zur politischen Ökonomie Europas unbestechlich offenlegt, wie sich der Kontinent in ein Netz aus Marktlogik und Abhängigkeit verstrickt hat. Ihre Stimme – technokratisch geschult, aber politisch wach – wäre ein möglicher intellektueller Kompass. Auch in Osteuropa zeigen sich Anzeichen dieses neuen Denkens: Der slowakische Ministerpräsident Robert Fico hat seine Positionen gegenüber Russland, zur nationalen Souveränität und zu den sozialen Folgen der EU-Sanktionspolitik deutlich gemacht – gegen den Strom, gegen Brüssel. Es sind Politiker wie er, nicht perfekt, aber prinzipienfest, die zu Knotenpunkten eines neuen europäischen Diskurses werden könnten. In Deutschland sucht man solche Personen  mit der Lupe. Vielleicht Sarah Wagenknecht, wenn sie sich ihrer historischen Verantwortung bewusst wird – nicht nur als Kritikerin, sondern als mögliche Mittlerin. Vielleicht auch Politiker aus der zweiten Reihe, Wissenschaftler, ehemalige Richter, Intellektuelle, die nie zur Bühne gehörten, aber die Sprache nicht verlernt haben. Es braucht keine Messiasse. Es braucht glaubwürdige Menschen mit Geschichte – nicht mit Skript.

Und es braucht Mut, genau diese Stimmen zu stärken – statt sie zu diskreditieren, auszuladen, zu sanktionieren. Denn Europa ist heute nicht mehr Opfer, sondern Mitspieler seiner eigenen Ohnmacht. Es hat sich an Führung durch Verträge gewöhnt, an Sicherheit durch Gehorsam, an Frieden durch Illusion. Doch eine neue Epoche verlangt neue Namen. Namen, die verbinden. Die vermitteln. Die sagen können: Wir gehören zusammen – und wir wollen leben, nicht siegen. Wenn Europa neu denken will, darf es sich nicht länger nur auf die „bespielbaren“ Parteien und Akteure stützen. Denn das eigentliche Vakuum liegt dort, wo Repräsentation durch Etikettierung ersetzt wurde. Und hier wird es unbequem: Die Alternative für Deutschland (AfD) ist Teil dieser tektonischen Verschiebung. Nicht, weil sie eine reine Antwort bietet – sondern weil sie überhaupt noch Fragen stellt, die sonst nur verdrängt werden.

Die AfD ist weder monolithisch noch rein ideologisch. Sie vereint unter ihrem Dach liberale Ökonomen, konservative Souveränitätsdenker, ostdeutsche Selbstbehauptung, antiglobalistische Kapitalismuskritik, NATO-Gegner und auch rechte Traditionslinien – teils im Widerspruch zueinander. Das macht sie unberechenbar. Aber auch zum Ausdruck eines gespaltenen und unterdrückten Diskurses. In Ostdeutschland ist sie längst zur Projektionsfläche eines nie eingelösten Versprechens geworden – der Wiedervereinigung nicht als Anschluss, sondern als Neugründung. Die Stimmen, die dort AfD wählen, wählen nicht alle „rechts“. Viele wählen gegen Ohnmacht. Gegen Arroganz. Gegen eine politische Klasse, die ihnen 1990 bis heute den Zugang zur Gestaltung verwehrte. Wer diese Dynamik ignoriert, spielt nicht Demokratie – er verwaltet ihre Krise. Und genau deshalb passt die AfD in diesen Kontext. Nicht als Lösung – aber als Symptom einer europäischen Spaltung, die nicht mehr verschwiegen werden kann. Ihre Existenz ist ein Ausdruck des Versagens all jener, die behaupten, für alle zu sprechen – und niemanden mehr erreichen.

Die SPD ist in diesem Bild das Gegenteil: eine Partei der Vergangenheit, die sich selbst vergessen hat. Sie war einst die Stimme des Sozialen, des Friedens, des Völkerverständnisses. Heute ist sie Koalitionspartner von Waffenexporten, Kriegserzählungen und autoritären Impulsen. Ihre Führung ist nicht machtbesessen – sie ist machtvergessen. Sie hält an Regierungsämtern fest, während sie den Kontakt zur Wirklichkeit verliert. Die SPD steht exemplarisch für eine politische Kultur, die sich in ihrer Nähe zu Machtstrukturen eingerichtet hat – und nicht mehr merkt, wie weit sie sich von denen entfernt hat, die sie vertreten wollte. Statt Brücken zwischen Ost und West, zwischen oben und unten zu bauen, ist sie zur Statistin einer neoliberalen, militarisierten Mitte geworden. Wenn Europa sich neu erfinden will, darf es weder die AfD dämonisieren noch die SPD verklären. Es muss verstehen: Die Bruchlinien verlaufen längst quer durch die alten Lager. Zwischen Gehorsam und Gestaltung. Zwischen Einbindung und Eigenständigkeit. Zwischen Mythos und Management. Doch diese inneren Spaltungen – zwischen Ost und West, zwischen Tradition und Technokratie – sind kein Fluch, sondern ein Weckruf. Sie zwingen Europa, seine Vielfalt nicht zu glätten, sondern als Quelle wahrer Stärke zu nutzen: durch offenen Streit, der Brücken schafft, statt Mauern zu errichten. Was jetzt gebraucht wird, ist keine bloße Erneuerung von Parteien – sondern die Wiederbelebung von Politik. Als Ort des Streitens, des Suchens, des Unfertigen. Dort, wo Europa neu beginnt, wird es nicht um Mehrheiten gehen. Sondern um den Mut, überhaupt wieder Mehrdeutigkeiten zuzulassen.

Und was ist mit der CDU? Sie wirkt wie ein bleibendes Gebäude in einer zerfallenden Stadt. Massiv, aber hohl. Ihre Stabilität rührt nicht mehr von Überzeugung, sondern von Gewohnheit. In den älteren Wählerschichten – vor allem im Westen – hält sich immer noch ein trügerisches Vertrauen: Die CDU als Anker der Nachkriegsordnung, als Inbegriff von Verlässlichkeit, Ordnung, Maß und Mitte. Doch das ist längst Erinnerung, keine Realität mehr. Inhaltlich hat sich die CDU seit Jahren entkernt. Sie ist weder programmatisch konservativ, noch klar wirtschaftsliberal, noch sozialpolitisch profiliert. Stattdessen: Management statt Vision. PR statt Prinzipien. Machterhalt um jeden Preis – und dafür das willige Mitlaufen in den zentralisierten Machtstrukturen der EU, der NATO und der internationalen Netzwerke. Ihre Anpassung an den Zeitgeist wurde ihr zur Selbstaufgabe. Unter Merkel verlernte sie das Streiten, unter Merz das Denken. Aus der Partei mit geistigem Fundament wurde eine Partei der Fleischtöpfe, der Seilschaften, der ausgehöhlten Formeln. „Für Deutschland“ ist dort nur noch Worthülse – geopolitisch ist man längst in Brüssel, in Washington, in den Kanzleien der Lobbyisten zu Hause. Die CDU verwaltet, was sie nicht mehr versteht. Besonders fatal: Sie ist in ihrer gegenwärtigen Struktur unfähig, echte konservative oder gar souveränitätsorientierte Positionen wieder aufzugreifen – denn dann müsste sie sich eingestehen, wie sehr sie zur Auflösung genau jener Ordnung beigetragen hat, die sie heute vorgibt zu bewahren. Sie ist nicht mehr Verteidigerin der Nation – sondern Mitgestalterin ihres Abbaus. Ein Neuanfang mit ihr ist kaum denkbar. Nicht wegen des Alters ihrer Wähler – sondern wegen der Alterung ihrer Ideen. Die CDU ist nicht mehr Teil einer Lösung, sondern Teil der Reaktionsstarre Europas. 

Nur wenn sich aus ihren Rändern – dort, wo noch Werte und Bodenhaftung zu spüren sind – neue Stimmen erheben, könnte sich aus ihr ein Baustein eines neuen Europas formen. Doch das Zeitfenster ist eng. Es wächst der Druck zur Anpassung – und nicht zur Erneuerung. Wenn Europa eine Zukunft haben will, braucht es mehr als Reformen. Es braucht einen Neuentwurf – architektonisch, institutionell, geistig. Und dieser Neuentwurf muss dort ansetzen, wo der alte Kontinent seine Kraft verlor: In der Preisgabe seiner eigenen Vielstimmigkeit. In der Fremdbestimmung durch transatlantische Dogmen. In der Selbstverleugnung gegenüber dem eigenen östlichen Teil. Eine souveräne europäische Ordnung wird nicht aus dem jetzigen EU-Apparat hervorgehen können. Zu verstrickt, zu zentralistisch, zu ideologisch verbaut ist die Brüsseler Bürokratie. Sie wurde geschaffen, um zu verwalten – nicht um zu befreien. Um anzugleichen – nicht um Vielfalt zu verteidigen. Deshalb braucht es nicht nur neue Politik, sondern neue politische Gefäße.

Der erste Schritt: Ein multilaterales Europa, das sich nicht länger um eine Achse Paris–Brüssel–Berlin dreht, sondern den Osten, Süden und Norden gleichwertig einbindet – mit ihren eigenen Interessen, Kulturen und wirtschaftlichen Profilen. Nicht Gleichmacherei, sondern Gleichberechtigung. Ein Rat der souveränen Nationen mit Vetorecht, rotierenden Sprecherstaaten, einem strengen Mandat auf Friedenswahrung, Infrastruktur, Handel, Bildung und Umweltschutz – nicht auf Identitätspolitik oder militärischer Integration. Der zweite Schritt: Ein struktureller Neuanfang mit Russland. Nicht als Unterwerfungsforderung, sondern als Einladung. Russland gehört zu Europa – historisch, kulturell, geostrategisch. Ein europäischer Bund, der Russland ausschließt, bleibt ein amputierter Kontinent. Die Beziehungen müssen auf den Grundlagen des Völkerrechts, der Vertragstreue und der Sicherheitsgarantien aufgebaut werden. Russland braucht keine Bedrohung zu sein – wenn Europa aufhört, ein Vorposten anderer Mächte zu spielen. Der dritte Schritt: Die Rückgabe der Souveränität an die Völker Europas. Keine zentrale Digitalwährung ohne nationale Zustimmung. Keine Umverteilung von Kompetenzen ohne plebiszitäre Legitimation. Kein Recht auf Sanktionen, wenn es nicht vom Recht gedeckt ist. Und vor allem: Keine Außenpolitik gegen den Willen der Bevölkerungen. Das heißt: Rückbindung an Volksentscheide, nationale Parlamente, souveräne Medienräume – nicht als Rückfall, sondern als Fortschritt in der Demokratie. Der vierte Schritt: Ein europäisches Verteidigungsbündnis, das nicht gegen, sondern mit den Nachbarn denkt. Kein NATO-Schatten mit anderen Farben. Sondern eine eigenständige Sicherheitsstruktur – dezentral, defensiv, diplomatisch ausgerichtet. Mit klaren Regeln: Kein Angriffskrieg, kein Regimewechsel, keine Destabilisierung fremder Staaten. Sondern Schutz des Raums Europa als Lebenswelt, nicht als geopolitisches Spielbrett.

Und schließlich: Ein neuer europäischer Mythos, der nicht auf Schuld und Wettbewerb, sondern auf Würde und Verantwortung beruht. Europa als Kontinent der Endlichkeit – der weiß, dass Frieden nicht Fortschritt ist, sondern Entscheidung. Und dass Freiheit nicht durch Technik wächst, sondern durch Wahrheit. Dieses Europa beginnt nicht in Kommissionen – sondern in der Seele derer, die es bewohnen. Russland wäre bereit, daran mitzuwirken – wenn man ihm zuhört. Viele europäische Nationen sind bereit, es mitzutragen – wenn man sie lässt. Und es gibt Kräfte, Vordenker, Bewegungen, die diesen Wandel längst denken – jenseits der medialen Spiegelwand. Ob es gelingt, hängt nicht an einem Papier. Sondern an einer Frage: Traut sich Europa, wieder sich selbst zu gehören?

Quellen und Anmerkungen: 

1.) https://kafkadesk.org/2019/03/25/
2.) https://www.express.co.uk/news/politics/1549604/Maros-Sefcovic-CV-communist-brexit-talks-evg
3.) https://sites.utu.fi/bre/wp-content/uploads/sites/227/2020/06/BRE_Earlier_expert_columns_4-2019.pdf
4.) https://www.aljazeera.com/news/2025/7/16/could-trumps-tariff-threats-force-putin-into-ukraine-peace-deal
5.) https://www.nytimes.com/2025/07/21/world/europe/trump-europe-unity-eu-tariffs.html
6.) https://www.politico.eu/article/trump-warning-gives-putin-free-hand-to-do-whatever-he-wants/
7.) https://www.atlanticcouncil.org/blogs/new-atlanticist/what-to-expect-from-ursula-von-der-leyens-second-term/
8.) https://www.cfr.org/event/conversation-president-ursula-von-der-leyen-european-commission
9.) https://www.atlanticcouncil.org/blogs/new-atlanticist/relaunching-the-transatlantic-trade-agenda-a-european-perspective/
10.) https://www.bloomberg.com/news/articles/2025-07-13/merz-says-30-us-tariffs-would-hit-german-industry-to-core
11.) https://www.reuters.com/world/europe/germanys-merz-wants-use-coming-weeks-find-solution-trump-tariff-row-2025-07-13/
12.) https://www.lemonde.fr/en/politics/article/2025/05/06/macron-seeks-to-re-engage-in-domestic-scene-and-address-concerns-of-nation_6740988_5.html
13.) https://www.euronews.com/my-europe/2025/05/14/french-president-macron-returns-to-national-stage-with-big-words-but-few-concrete-announce
14.) https://www.politico.eu/article/hungary-viktor-orban-russia-us-sanction-good-eu-bad/
15.) https://lansinginstitute.org/2025/05/20/viktor-orbans-russian-alignment-a-threat-from-within-the-european-union/
16.) https://www.bbc.com/news/articles/cn007p39zdzo
17.) https://www.lemonde.fr/en/international/article/2024/05/23/volodymyr-zelensky-a-president-with-no-term-end_6672475_4.html
18.) https://seymourhersh.substack.com/p/the-end-for-zelensky
19.) https://www.facebook.com/TimesofIndia/videos/big-claim-by-an-american-journalist-seymour-hersh-citing-unnamed-us-officials-re/1055524463368756/
20.) https://en.mehrnews.com/news/234514/Is-the-US-trying-to-replace-Zelensky-with-a-new-one
21.) https://www.rt.com/russia/621684-zelensky-replace-zaluzhny-months-hersh/
22.) https://www.france24.com/en/france/20220304-ukraine-war-puts-france-s-nato-sceptic-presidential-candidates-in-a-tight-spot
23.) https://www.theguardian.com/commentisfree/2023/oct/27/jean-luc-melenchon-french-left-israel-france
24.) https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=2326645
25.) https://pure.mpg.de/rest/items/item_2553469/component/file_3053253/content
26.) https://uacrisis.org/en/the-kremlin-s-shady-horses-sahra-wagenknecht
27.) https://www.theguardian.com/world/2024/sep/17/sahra-wagenknecht-germany-elections-bsw-afd
28.) https://www.theguardian.com/commentisfree/2025/mar/01/trump-is-abandoning-ukraine-and-wants-a-weaker-eu-dominique-de-villepin-on-europes-moment-of-truth
29.) https://www.washingtonpost.com/opinions/2025/02/20/de-villepin-trump-ukraine-war-europe/
30.) https://marianamazzucato.com/
31.) https://www.ecb.europa.eu/press/conferences/shared/pdf/20170626_ecb_forum/Mazzucato_SINTRA_Paper.pdf
32.) https://www.bbc.com/news/articles/c1egely9v3go
33.) https://atlasinstitute.org/tangible-change-or-online-cult-the-case-of-ibrahim-traore-and-burkina-faso/
34.) https://www.dw.com/en/slovakia-fico-uses-anti-eu-rhetoric-as-diversionary-tactic/a-73362728
35.) https://www.eenews.net/articles/eu-lowers-russia-oil-cap-and-imposes-new-sanctions-after-fico-drops-veto/
36.) https://eur-lex.europa.eu/eli/agree_internation/2014/295/oj/eng
37.) https://www.kmu.gov.ua/storage/app/sites/1/uploaded-files/ASSOCIATION%2520AGREEMENT.pdf
38.) https://ec.europa.eu/docsroom/documents/46300
39.) https://resourcecontracts.org/contract/ocds-591adf-1697642867/download/pdf
40.) https://single-market-economy.ec.europa.eu/publications/european-critical-raw-materials-act_en
41.) https://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/BRIE/2023/747898/EPRS_BRI%282023%29747898_EN.pdf

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