Der deutsche SPD-Politiker Erhard Eppler, damals, als ich ihn in Schwäbisch Hall besuchte, kurz vor seinem 90. Geburtstag. (Foto Christian Müller)

Es gab sie, noch vor wenigen Jahren: die verantwortungsbewussten SPD-Politiker

(Red.) So wie Politiker gut daran täten, gelegentlich darüber nachzudenken, was sie in den letzten Jahren bewirkt – oder auch verpasst – haben, so gilt das auch für uns Medienleute. Und bei meinem letzten Rückblick bin ich auf einen Beitrag gestoßen, den ich im Jahr 2016 publiziert habe, damals noch auf der Plattform infosperber.ch: über den deutschen SPD-Spitzenpolitiker Erhard Eppler – ein extrem kurzer Text, aber mit einem informativen Auszug aus seiner äusserst lesenswerten Autobiographie. Wo sind die heutigen SPD-Größen, die soviel Wissen und Verständnis der geopolitischen Situation haben? – Hier mein damaliger Artikel:

Lernen aus der Geschichte!

Christian Müller /   Der ehemalige deutsche SPD-Spitzenpolitiker Erhard Eppler beschreibt die Fehler Deutschlands und der EU gegenüber Russland.

cm. Erhard Eppler – er feiert Ende Jahr seinen 90. Geburtstag – gehört noch zu den letzten deutschen Spitzenpolitikern, die in der Nazi-Zeit aufgewachsen und – bei ihm mit 17 Jahren – noch zum aktiven Kriegsdienst einberufen worden sind. Eppler ist noch immer ein hellwacher Geist und versucht immer wieder, seine Mitbürgerinnen und Mitbürger dazu zu bewegen, aus der erlebten Geschichte zu lernen. Seine 2016 bereits in zweiter Auflage erschienene Autobiographie «Links leben» ist, im Gegensatz zu vielen anderen Politiker-Autobiographien, denn auch keine Selbstbeweihräucherung, sondern ein aktiv erlebtes Stück Zeitgeschichte – eine Zeitgeschichte mit offenem Ausgang.

Erhard Epplers Buch endet mit einem Kapitel «Vermächtnis» : mit gut 30 Seiten persönlichen Analysen der heutigen Situation – und mit persönlichen Ratschlägen, was da zu ändern wäre.

Infosperber druckt das (aus rechtlichen Gründen um einen Drittel gekürzte) Unterkapitel «Ukraine» hier ab, mit freundlicher Genehmigung des Propyläen Verlags, der Epplers Autobiographie herausgegeben hat. Die Zwischentitel hat Infosperber gesetzt.

Die Ukraine

Im Westen wird die Ukraine als ein Nationalstaat wie jeder andere behandelt. Das ist sie nicht. Ihr Staat ist sehr jung, durch den Zerfall der Sowjetunion entstanden. Er wurde nicht von der Bevölkerung erkämpft , sondern war, wenn man so will, plötzlich da: Als Boris Jelzin die russische Föderation aus der Sowjetunion herauslöste, mussten die übrigen Teile der Union sich selbst helfen, also souverän werden.

Die Ukraine greift also auf keine gewachsene politische Kultur zurück. Die erste Chance einer Stabilisierung wurde vertan, als Präsident und Ministerpräsidentin ihre gemeinsam errungene Macht in persönlichen Streitigkeiten verspielten. Das Parlament wird, wenn es hart auf hart geht, bis heute handgreiflich. Dem Mangel an staatlicher Autorität entspricht ein Maß an Korruption, das auch für osteuropäische Verhältnisse erstaunlich ist und Investoren abschreckt. 

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Die ukrainische Russland-Grenze neue NATO-Grenze?

Für den einigermaßen informierten Beobachter war rasch klar, dass die vom Maidan erzwungene Regierung Arsenij Jazenjuk, die am ersten Tag schon der NATO beitreten und die Sprachgesetze – auf Kosten des Russischen – ändern wollte, in weiten Teilen des kulturell gespaltenen Landes auf Widerstand stoßen musste, auch ohne jede Einwirkung von außen. Dass die immer noch sehr durchlässige ukrainische Grenze zu Russland zur NATO-Ostgrenze werden sollte, war für die Millionen Menschen, die Russisch sprechen und sich teilweise auch als Russen fühlen, nicht hinnehmbar. Daher waren es nicht russische Regimenter, vielmehr war es die ukrainische Polizei, die in Donezk oder Lugansk zur Abspaltung ganzer Regionen beitrug. Dass die Krimbevölkerung ihre eigene Meinung hatte, war vorauszusehen. Allerdings auch, dass hier die russischen Interessen unmittelbar ins Spiel kommen würden. Konnte die russische Schwarzmeerflotte auf Dauer von der Gnade eines NATO-Staates abhängen? Konnte ein russischer Präsident, gleich welcher, dies zulassen?

Im Westen war der Schuldige für die Ukrainekrise rasch gefunden: der russische Präsident Putin. Er hatte Russland, als der Maidan triumphierte, schon seit zwölf Jahren regiert, mit harter Hand dem chaotischen Riesenreich wieder eine staatliche Ordnung aufgezwungen, was ihm den Respekt der Mehrheit seiner Mitbürger eintrug. Er hatte sich um Kontakte zum Westen bemüht, vor dem Deutschen Bundestag eine beachtliche Rede gehalten, mit Gerhard Schröder eine Freundschaft geschlossen, die geblieben ist, auch wenn Putin heute in den deutschen Medien meist die Rolle des undurchsichtigen Bösewichts spielt.

Putin galt als «Außenpolitiker mit Augenmaß»

Hitler hatte nach zwölf Jahren Regierungszeit fast ganz Europa erobert und wieder verloren, Millionen geopfert oder umbringen lassen, bevor er sich selbst umbrachte. Als Putin zwölf Jahre – direkt oder indirekt – an der Spitze Russlands gestanden, die Politik Russlands bestimmt hatte, galt er in Deutschland zwar als reichlich autoritärer Präsident, der kein »lupenreiner Demokrat« im westlichen Sinne sein wollte, aber als ein Außenpolitiker mit Augenmaß. Was hat in so kurzer Zeit dazu geführt, dass sogar der deutsche Bundespräsident am Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen uns alle ermahnte, gegenüber Putin nicht zu vergessen, was gegen Hitler richtig gewesen wäre?

Lässt man einmal die simple These von der medienbedingten Gehirnwäsche beiseite, so bleiben drei Erklärungen: Erstens, was die Ukraine angeht, die Verwechslung eines bestenfalls werdenden Staates mit einem konsolidierten europäischen Nationalstaat. Zweitens: die Deutung einer energischen und teilweise erfolgreichen Defensive als eine von langer Hand vorbereitete, noch längst nicht beendete Aggression. Was das erste Missverständnis angeht, so rührt es wohl daher, dass noch heute instabile, zerfallende Staaten in Deutschland kein verinnerlichtes Thema sind. Das zweite Missverständnis hat wohl damit zu tun, dass die Ukraine verglichen mit Russland eindeutig das schwächere Land ist. Also entsteht schnell der Eindruck, der Konflikt sei von demjenigen ausgegangen, der der Stärkere ist. Drittens erscheint manchem Deutschen der Ukrainekonflikt als eine Auseinandersetzung zwischen Diktatur und Demokratie. Aber glücklicherweise ist die »gelenkte Demokratie« in Russland noch keine Diktatur eines Willkürherrschers, und leider sind die herrschenden Kräfte in Kiew und der Westukraine keineswegs durchweg Demokraten, aber fast alle ausgewiesene und manchmal fanatische Nationalisten.

Hass auf ein anderes Volk hat noch nie die Demokratie befördert. Das gilt heute für Russland wie für die Ukraine. Dazu kommt wohl, dass die Korrespondenten der westlichen Zeitungen sich vor allem in der Ukraine und den osteuropäischen Ländern aufhalten, in denen die Furcht vor Russland – aus verständlichen Gründen – das politische Denken bestimmt, unabhängig davon, was eine nüchterne Analyse ergeben könnte.

Dass die Regierung Jazenjuk vom ersten Augenblick an versucht hat, alles, was sie selbst in Teilen der Ukraine ausgelöst oder versäumt hat, dem bösen Feind anzulasten, wird wohl aus einiger Entfernung leichter erkennbar als von Lemberg oder Kiew aus. Bleibt immerhin die Frage, warum ein Jazenjuk in seinem unbändigen Hass Behauptungen aufstellen konnte, die wohl im Berliner Auswärtigen Amt nicht nur Kopfschütteln provoziert haben, ohne dass die meisten professionellen Beobachter dafür ein Wort der Kritik fanden. 

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Der Ukrainekonflikt wurde vom ersten Tag an begleitet – und verschärft – durch einen Propagandakrieg, der von russischer Seite reichlich plump und daher wenig überzeugend, vom Westen sehr viel weniger abstoßend, dafür wirksamer und erfolgreicher geführt wurde.

Mündliche Zusagen wurden nicht eingehalten *

Großmächte – und Präsident Obama hat Russland den Status einer »regionalen Großmacht« gnädig, aber auf Distanz bedacht, zugestanden – haben nicht nur seit jeher ihre Einflusszonen, sie pflegen auch ihre roten Linien zu ziehen, deren Überschreitung ihr aktives, notfalls militärisches Eingreifen auslösen muss. Die Bündnispartner der USA haben lernen müssen, dass die Führungsmacht der NATO es für ihr gutes Recht hält, ihre Partner in ihrer Einflusszone auszuspionieren, auch wenn dies deren Souveränität missachtet und damit auch internationales Recht. Das Russland, das nach Auflösung der Sowjetunion übrig blieb, hatte nicht die Macht, rote Linien zu ziehen. Es musste zusehen, wie – entgegen mündlichen Zusagen wichtiger Politiker – die Ostgrenze der NATO bis an die polnische Ostgrenze vorrückte. Dass ein Beitritt der Ukraine zur NATO für Russland eine zumindest gefühlte rote Linie überschreiten würde, wusste man im Westen spätestens seit der zornigen Putin-Rede auf der 43. Münchner Sicherheitskonferenz 2007. Der Westen hätte sich darüber im Klaren sein müssen, dass in dem kulturell gespaltenen Land, als das die Ukraine sich selbst erlebt, der Weg in die NATO keineswegs Konsens war. Das bedeutete – in einem längst nicht konsolidierten Staat – die Gefahr der Abspaltungen, und zwar auch ohne russisches Eingreifen.

Eine Assoziierung der Ukraine an die Europäische Union konnte, musste aber nicht, die rote Linie der Russen überschreiten. Gedacht als Vorbereitung der NATO-Mitgliedschaft würde sie ganz sicher die Überschreitung der Linie bedeuten. Akzeptabel kann sie werden, wenn sie zugleich mit der russischen Regierung ausgehandelt wird, vielleicht sogar flankiert mit ähnlichen Abmachungen mit Moskau. Vielleicht kann man sich in Moskau auch kaum vorstellen, dass die Europäische Union all die Opfer bringen wollte, die nötig wären, ein Land von der Größe der Ukraine allein – und gegen Russland – zu sanieren. Darüber wird in Europa wohlweislich nicht gesprochen. Jedenfalls kam der Präsident der Europäischen Kommission, José Barroso, gar nicht auf die Idee, einmal nach Moskau zu fliegen, vielleicht begleitet von zwei Außenministern, und mit der russischen Regierung zu reden. Manches, was zu Beginn der Krise aus Moskau zu hören war, klang daher wie ein Weckruf: »Hallo, liebe Leute, es gibt uns noch!«

Putin reagierte spontan, es war keine langjährige Strategie

Gegenüber dem ukrainischen Präsidenten Janukowytsch versuchte es Putin nicht mit Drohungen, sondern mit attraktiven Angeboten, etwa beim Ölpreis. Das wirkte, versammelte aber auf dem Maidan die unterschiedlichsten Demonstranten, von linken Demokraten bis zu fanatischen, teilweise faschistischen Nationalisten. Erst als der Vermittlungsversuch der Außenminister Frankreichs, Polens und Deutschlands gescheitert war und der – noch in Kiew verbliebene – harte Kern der Maidanbewegung die Regierung Jazenjuk erzwungen hatte, schaltete Moskau auf Konflikt. Das spricht nicht für eine ausgefeilte, langfristige Offensivstrategie.

Soll die Ukraine in die NATO aufgenommen werden, müssen alle NATO-Staaten zustimmen. In jedem einzelnen, ganz besonders in den wichtigsten NATO-Staaten auf dem europäischen Kontinent, Deutschland und Frankreich, wohl auch in Italien, wird es darüber harte Diskussionen geben. Sie werden nicht darüber geführt werden, ob die Ukraine, wenn sie will und kann, eine Demokratie nach europäischem Muster aufbauen darf – dafür gibt es auch andere Wege als die NATO-Mitgliedschaft. Die Frage wird vielmehr sein: Kann es im 21. Jahrhundert, wenn sich neue Machtblöcke bilden, europäische Sicherheit ohne oder gar gegen Russland geben? Kann Europa es sich leisten, Russland in ein – offenbar gar nicht gewünschtes – Bündnis mit China abzudrängen, so dass die polnische Ostgrenze die Grenze zu Eurasien wird? Oder wollen wir uns daran erinnern, wie gerade wir Deutschen Beifall klatschten, als Michail Gorbatschow – ohne den wir die Einheit nicht bekommen hätten – vom Europäischen Haus redete? War uns da nicht klar, dass der Russe Gorbatschow damit ein Haus meinte, in dem auch Platz sein sollte für sein Volk? Tatsächlich haben wir, nachdem wir hatten, was wir wollten, daran wenig oder gar nicht gedacht. Wenn es um den NATO-Beitritt der Ukraine geht, sind auch die deutschen und die amerikanischen Interessen nicht identisch. Die USA haben nichts dagegen, wenn die Europäische Union sich – aus Furcht vor Russland – an die Vereinigten Staaten klammern muss. Europa – und in seiner Mitte Deutschland – muss ein Interesse daran haben, dass die Grenze der künftigen Blöcke nicht am Bug, sondern irgendwo in Sibirien verläuft.

»Putin-Versteher» zu sein ist keine Schande

Wenn ich Wert darauf lege, dass die russische Politik des Jahres 2014 nicht als Ausdruck einer ausgefeilten Strategie der Eroberung verstanden werden sollte, sondern eher als defensive Antwort auf den erkennbaren Versuch der NATO, sich bis nach Zentralrussland auszudehnen und damit die rote Linie Russlands zu ignorieren, dann geht es mir nicht darum, einen Politiker reinzuwaschen, der immerhin lange Zeit als rational und bedächtig agierender Außenpolitiker gegolten hat. Dass Wladimir Putin, zumal wenn er sich in die Ecke gedrängt fühlt, einen Durchsetzungswillen entwickelt, den andere für Rücksichtslosigkeit halten müssen, sei gerne zugegeben. Aber ich möchte eine Dämonisierung dieses Politikers verhindern. Dämonen – und in diese Kategorie gehört Hitler – kann man nur bekämpfen und, wenn man Glück hat, niederringen. Mit ihnen zu verhandeln, wie das in München 1938 geschah, verbietet sich. Das ist also der Grund, warum der Titel »Putinversteher« nicht zu dem gehört, worüber ich mich schäme. 

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Verantwortliche Politik besteht zu einem beträchtlichen Teil aus dem Bemühen, die Leute zu verstehen, die anders denken und handeln als ich. Wo schon das Verstehenwollen und das Verstehen – das übrigens nicht gleichzusetzen ist mit Verständnis – als Delikt abgehandelt werden, ist dies ein Zeichen politischer Unkultur, das in der deutschen Demokratie des 21. Jahrhunderts keinen Platz haben dürfte. Wer nicht verstehen will, kann nur hassen. Und dass in der deutschen Öffentlichkeit der Hass wieder Einzug hält, überrascht und beunruhigt mich. 

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Soll sich Europa auf Dauer an die Rockschöße der USA hängen?

Jetzt geht es um nichts weniger als darum, das europäische Haus so fertigzustellen, dass es den Gefahren des 21. Jahrhunderts gewachsen ist. Behandelten die Europäer Russland als einen Delinquenten, der erst zu Kreuze kriechen muss, wäre sogar dann alles verloren, wenn Wladimir Putin tatsächlich zu Kreuze kröche. Das so gedemütigte Volk der Russen würde wohl so unberechenbar wie das Volk der Deutschen, das sich von Versailles gedemütigt fühlte. Der nächste Präsident könnte wirklich dem Bild entsprechen, das heute von Putin gemalt wird.

Wer Putin vor die Wahl stellt, entweder um Verzeihung bittend nach Brüssel oder Berlin zu pilgern oder sich widerwillig mit China zusammenzutun, bereitet eine europäische Zukunft vor, in die ich meine Enkel und Urenkel nicht hineinwachsen lassen möchte. Ein Europa, das sich einem übermächtigen eurasischen Block konfrontiert sieht, müsste sich dauerhaft an die Rockschöße der Vereinigten Staaten klammern, die im Laufe des Jahrhunderts wahrscheinlich von ganz anderen Sorgen in Anspruch genommen sein werden als den unseren.

Konstruktive Gespräche über ein europäisches Haus, das Russen – und natürlich auch Ukrainer – mitbewohnen, werden möglicherweise nicht so sehr da scheitern, wo heute noch geschossen wird, sondern da, wo nie geschossen wurde: auf der Krim. 

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Auch eine völkerrechtlich korrekte Abstimmung hätte die Krim zu Russland gebracht

Als der sowjetische Diktator Chruschtschow, selbst Ukrainer, die Krim der Ukraine schenkte, hat man das in Deutschland kaum zur Kenntnis genommen. Und wenn man die Deutschen heute fragen würde, wohin die Krim gehört, würde wohl eine Mehrheit sagen: Das ist mir egal. Das sollen die Leute dort entscheiden. Die haben das sogar getan. Sie haben, in einem Taumel nationaler Begeisterung, mit 97 Prozent für den Anschluss an Russland gestimmt. Das klingt verdächtig, ist es auch. Die Krimtartaren haben zum Beispiel nicht mit abgestimmt. Aber niemand behauptet, unter internationaler Kontrolle wären es weniger als 50 Prozent gewesen.

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Weil im 21. Jahrhundert die Privatisierung der Gewalt zumindest bisher weiter um sich greift – von unten durch Banden und Milizen aller Art, von oben durch private Sicherheitsdienste –, werden die Stärke, die Solidarität und die Verlässlichkeit eines Staates immer weniger an der Zahl seiner Divisionen, immer mehr am Zustand seiner Gesellschaft gemessen werden. Eine politisch und sozial polarisierte, von Gewaltexzessen durchgeschüttelte Gesellschaft wird an Einfluss verlieren. Eine Gesellschaft , deren Staat, gegründet auf einen belastbaren Grundkonsens, nicht nur die Rechtsgleichheit garantiert, sondern auch dem sozialen Ausgleich dient und über ein leistungsfähiges Bildungssystem das kulturelle Niveau anhebt, kann, auch wenn sie nur wenige Millionen Menschen umfasst, einflussreich werden. Der Staat des 21. Jahrhunderts wird in dem Maß stark sein, in dem seine Bürgerinnen und Bürger sich dort zu Hause fühlen.

Für Frieden auf der Welt sind starke Staaten notwendig

Konventionelle Kriege werden seltener werden, ganz einfach, weil am Ende auch die Sieger einer privatisierten Gewalt ziemlich hilflos gegenüberstehen. Insofern war der Irakkrieg ein Lehrstück. Auch im Ukrainekonflikt sind der russische wie der ukrainische Präsident am Ende weit weniger mächtig, als sie gerne wären. Nicht alle, die ihnen gehorchen sollten, sind dazu bereit. Deshalb hält ja auch kein Waffenstillstand. Wenn die nationalistischen Milizen der Ukrainer oder die eine oder andere Kompanie der Separatisten schießen wollen, lassen sie sich von niemandem daran hindern. Sie schießen.

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* Dass von westlicher Seite mündliche Versprechen abgegeben worden sind, die Nato nicht weiter nach Osten zu erweitern, bestätigt auch die US-amerikanische Historikerin Mary Elise Sarotte aufgrund der von ihr eingesehenen diplomatischen Dokumente in ihrem Buch: 1989; The Struggle to Create Post-Cold War Europe (Princeton University Press). Aus einem Artikel von Sarotte in der deutschen Wochenzeitung Die Zeit vom 1.10.2014 seien hier ein paar Zeilen zitiert: «Laut Unterlagen aus dem Kanzleramt entschied sich Kohl für die weichere Linie, denn sie, so hoffte er, würde vermutlich eher zum angestrebten Ergebnis führen — der Erlaubnis Moskaus, mit der Wiedervereinigung Deutschlands zu beginnen. Deshalb beteuerte Kohl gegenüber Gorbatschow, dass die Nato ihr Territorium natürlich nicht auf das derzeitige Territorium der DDR ausdehnen könne. In parallel stattfindenden Gesprächen vermittelte Genscher seinem russischen Amtskollegen Eduard Schewardnadse eine ähnliche Botschaft: ‹Für uns stehe aber fest: Die Nato werde sich nicht nach Osten ausdehnen.› Ähnlich wie bei Bakers Treffen mit Gorbatschow gab es keine schriftliche Vereinbarung. Nachdem er wiederholt diese Beteuerungen gehört hatte, gab Gorbatschow der Bundesrepublik ‹grünes Licht›, wie Kohl es später nannte, eine Wirtschafts- und Währungsunion zwischen Ost- und Westdeutschland vorzubereiten — der erste Schritt hin zur Wiedervereinigung. Kohl hielt sofort eine Pressekonferenz ab, um sich seinen Erfolg nicht mehr nehmen zu lassen. In seinem Buch Ich wollte Deutschlands Einheit schreibt er, vor Freude habe er in jener Nacht nicht schlafen können, der klirrenden Februarkälte zum Trotz habe er noch einen langen Spaziergang über den Roten Platz zum Lenin-Mausoleum gemacht.»

Siehe zur gleichen Thematik auch: «Die Mitverantwortung der USA und der NATO: Vor der Osterweiterung der NATO wurde mehrfach gewarnt.» (von Christian Müller)