Damaskus an Weihnachten 2024. Bab Touma, Altstadt, HTS-Sicherheitskämpfer der Syrischen Heilsregierung Idlib sorgt für Sicherheit am Bab Touma Tor. (Foto Karin Leukefeld)

Erkundungen vor Ort in Syrien

(Red.) In Syrien ist von einem Tag auf den anderen fast alles anders. Eine neue Ordnung? Wohl eher nur eine neue Situation. Jeder macht, was er kann und will. Vor allem aber sind viele Preise, vor allem auch für überlebenswichtige Lebensmittel, massiv gestiegen und für große Bevölkerungsschichten ist das Überleben nicht einfach – während clevere Firmen, auch ausländische, bereits mit völlig neuen Angeboten präsent sind. Karin Leukefeld hat uns aus Damaskus einen kleinen Stimmungsbericht zugemailt. (cm)

Der Grenzübergang Masnaa, über den man aus dem Libanon nach Syrien gelangt, ist belagert. Autos parken kreuz und quer, Menschenmassen strömen in das viel zu kleine Abfertigungsgebäude, in dem die Ausreise per Stempel dokumentiert wird. Für Inhaber eines ausländischen Passes verläuft die Abfertigung zügig, dann geht es zu Fuß über die Grenze, vorbei an den Fahrzeugkontrollen bis auf der anderen Seite der Fahrer aus Damaskus winkt und schnell das Gepäck an sich nimmt. Weiter geht es zu Fuß durch die Autoschlangen bis zu dem Auto, das der Fahrer hinter einem Laster geparkt hat. 

„Mabruk Syria – Herzlichen Glückwünsch Syrien“, strahlt der Fahrer, als er das Gepäck verstaut hat. Zügig fährt er an den langen Autoschlangen vorbei, die sich beidseitig der Straße stauen. Richtung Libanon stehen Lastwagen Stoßstange an Stoßstange und warten auf die Abfertigung. Richtung Syrien stehen Autos mit syrischen und libanesischen Nummernschildern. Hier wechselt Schmuggelware den Besitzer: Kartons mit Kaffee, Milchpulver, Schokolade, Plastikflaschen mit Benzin gefüllt, leere Gasflaschen werden gegen gefüllte Gaszylinder getauscht. Viel Geld wechselt innerhalb kürzester Zeit den Besitzer, dann fahren tiefliegende, vollbepackte Fahrzeuge Richtung Syrien und die libanesischen Fahrzeuge kehren um in den Libanon. „Alles ist zu haben“, versichert der Fahrer und sagt, das Leben sei schlagartig besser geworden mit dem Abgang von Assad und „seinen Leuten“, die Hals über Kopf geflohen seien. „Alles wird besser.“

Der Mangel in Syrien war seit der Corona-Sperre (2020/21) und dem Inkrafttreten US-amerikanischer Finanzsanktionen immer größer geworden. Das so genannte „Caesar-Gesetz“ des US-Finanzministeriums drohte jedem mit finanziellen Strafen, der mit Syrien Geschäfte machen und in dem Land investieren wollte. Das galt für Einzelpersonen, für Unternehmen und für Staaten. Die Besetzung der syrischen Ölfelder im Osten des Landes durch US- und kurdische Truppen trieb Strom-, Heiz- und Transportkosten in die Höhe, was sich auf den Preis bis zu jeder einzelnen Tomate niederschlug. 

Die ständig steigenden Steuern, die von den Finanzbehörden mit harter Hand eingetrieben wurden, sorgten für massenhafte Geschäftsschließungen und trieben die Arbeitslosigkeit in die Höhe. Die Bürger erhielten im Gegenzug nichts für die gezahlten Steuern. Die Assad-Regierung hatte nicht nur Taschen von Profiteuren zu füllen, für militärische Unterstützung und geliefertes Öl waren Schulden an Russland und Iran zurückzuzahlen. Bis auf die Grenzen zu Jordanien und Libanon konnte Syrien keine seiner Grenzen souverän kontrollieren. Während die von der Türkei und den USA kontrollierten Teile des Landes im Nordosten und Nordwesten florierten, wurde die Wirtschaft des souveränen Syriens erstickt.

„Wir haben jetzt KitKat“

Nun wird das Land mit Menschen und Waren geflutet. Zehntausende von Syrern nutzen täglich die Chance, ohne jegliche Kontrolle auf syrischer Seite in ihre Heimat zurückzukehren: junge Männer, die dem Militärdienst entkommen waren, Familien, die nach ihren Häusern sehen wollen, junge Leute, die sich nach vielen Jahren auf ein Wiedersehen mit Verwandten und Freunden freuen.

Die Abwesenheit von Grenze und Zoll ist ein Fest für einen völlig unkontrollierten Markt. Die alte Autorität ist verschwunden und die neuen Machthaber haben ein neues Ordnungs- und Sicherheitssystem noch nicht etabliert. Der ausgehungerte syrische Markt ist wie ein Schwamm und saugt alles auf, was über die unbewachten Grenzen hineinkommt. „Wir haben jetzt KitKat“, grinst J., der die Autorin seit Jahren in Syrien begleitet. Bei einem Rundgang durch Bab Touma in der Altstadt von Damaskus bleibt er vor zahlreichen Marktständen stehen, die mit Süssigkeiten überfüllt sind. „Alles, was auf diesen Ständen liegt, kommt aus der Türkei“, sagt er und hebt Kekse und Schokolade in die Höhe. „Wir haben hier in Syrien leckere Kekse, gute Schokolade und Süßigkeiten. Aber selbst wenn unsere Produkte billiger sind, kaufen die Leute jetzt die Sachen aus der Türkei. KitKat, Hurriya, Freiheit! Jeder kann machen, was er will.“

Brot ist um ein vielfaches teurer geworden. Bisher erhielten Familien je nach Größe täglich mindestens zwei Rapta „Chubus“, wie das Fladenbrot heißt, das in Syrien als Grundnahrungsmittel gilt. Ein Rapta besteht aus sieben Fladenbroten. Die Bäckereien werden derzeit nur mit einer bestimmten Menge Mehl versorgt. Wenn das aufgebraucht ist, wird die Bäckerei für den Rest des Tages geschlossen. Lange Schlangen bilden sich schon früh am Morgen, um Brot zu erhalten, für das nun 4000 Syrische Pfund pro Rapta bezahlt werden muss. Bisher kostete ein Rapta 500 Syrische Pfund.

Hohe Preise, unsichere Versorgung

Die neuen Machthaber haben die bisherigen staatlichen Subventionen auch für Benzin, Gas und Heizöl gestoppt. Geschmuggeltes Benzin aus dem Libanon wird von Verkäufern, die vermutlich für Unternehmer arbeiten, in großen Mengen angeboten. Der belebte, zentrale Abassiyeenplatz im Osten der Stadt ist zu einem Umschlagplatz für alle Sorten von Energieträgern geworden. Vollkommen ungeschützt wird aus einem Tankwagen Gas in Gasflaschen umgefüllt, das die Syrer zum Kochen und Heizen brauchen. Daneben steht ein kleinerer Tankwagen, der „Masud“ – Heizöl – abfüllt, das die Syrer im Winter für Öfen oder zum Betrieb von Generatoren brauchen. Daneben sitzt ein Mann mit seinem Sohn, der Dutzende Plastikflaschen mit Benzin anbietet, und schließlich gibt es einen großen Gemüsestand.

Die Preise für viele Lebensmittel schwanken von Tag zu Tag, ebenso der Umtauschkurs für einen US-Dollar. Jede Währung solle fortan in Syrien akzeptiert werden, heißt es. Aus Aleppo berichtet ein Bekannter, dass die Bevölkerung aufgefordert worden sei, ihre syrischen Pfund in US-Dollar oder in Türkische Lira umzutauschen, weil die syrische Währung bald nicht mehr akzeptiert werde. 

Kurz vor Weihnachten tauchen auf den Straßen von Damaskus neue Sicherheitskräfte auf. Es gibt vermummte Kämpfer von Hay’at Tahrir al-Sham (HTS), der „Allianz zur Befreiung von Al-Sham“ (Levante), die von der „Syrischen Heilsregierung“ in Idlib geschickt wurden, einer von HTS eingesetzten Regierung. Es gibt Straßenpolizisten in hellvioletten Hemden und Freiwillige, die eine gelbe Sicherheitsweste tragen und versuchen, Ordnung herzustellen. Doch nichts kann den dichten Verkehr auf den Straßen von Damaskus besser regeln, als die Syrer selber. Sie schaffen das mit Hupen und waghalsigen Fahrmanövern im Zickzack zwischen Fußgängern, Mopeds, Lieferwagen, Taxis und Verkaufsständen, die hin und her geschoben werden. Der sichtbare Alltag der Menschen geht weiter seinen gewohnten, unübersichtlichen Gang. Doch vieles und viele sieht man nicht.

Auf dem Qassioun

Nach dem Umbruch fehlt eine übersichtliche Ordnung in der Millionenstadt Damaskus. Behörden wie das Einwohnermeldeamt Zablatani, das gerade neu eröffnet und mit neuesten Computersystemen ausgestattet worden war, wurde zerstört, geplündert und in Brand gesetzt. Die Versorgung mit Strom ist weiter unzureichend, im Umland von Damaskus erhalten Haushalte täglich nur alle fünf bis sechs Stunden für eine Stunde Strom. Millionen Angestellte und Rentner wissen nicht, ob sie am Ende des Monats noch ihr Gehalt oder ihre Rente bekommen werden. Unklar ist auch, wie es mit Schulen und Universitäten nach den Ferien weitergehen wird.

Dennoch nutzen viele die Wege, die nicht mehr für sie versperrt sind. Ein Weg führt die Menschen auf den Qassioun, den Hausberg, der sich mehr als 1100 Meter über der syrischen Hauptstadt erhebt. Vor dem Krieg (seit 2011) war der Berg ein beliebter Ausflugsort. Entlang einer Straße, die unterhalb des Gipfels rund um den Berg herumführt, waren kleine Cafés, Restaurants und Aussichtsplätze, wo die Bevölkerung an Sommerabenden, an Feiertagen und am Wochenende gern die Aussicht über die Stadt und die frische Luft genoss. Während des Fastenmonats Ramadan zogen viele in der Nacht auf den Berg, um dort ihr Frühstück einzunehmen, bevor das tägliche Fasten begann. Mit Beginn des Krieges wurde die Straße gesperrt. Der Qassioun wurde militärische Sperrzone, Cafés und Restaurants verwaisten. Die Basis der Syrischen Armee an der Rückseite des Berges wurde erweitert, Radar- und Telekommunikationstürme wurden gebaut. In den Jahren nach 2012, als bewaffnete Gruppen Damaskus aus den Vororten der östlichen Ghouta beschossen und von dort in die Stadt eindringen wollten, feuerte die Armee vom Qassioun auf deren Stellungen in Jobar, Harasta, Douma und Arbeen.

Nun ist der Weg auf den Qassioun frei und Menschenmassen strömen mit Autos, Motorrädern oder auch zu Fuß die Straße zum Berg hinauf. Oben herrscht Chaos. Fahrzeuge parken kreuz und quer, Händler vermieten Tische und Stühle an die Besucher, andere haben bereits begonnen, das Fundament für neue Gebäude zu bauen. Mit Zement, Steinen, Holz, Blech und Plastik werden Hütten und Plattformen errichtet, um Getränke oder Speisen anzubieten, um neue Cafés zu bauen. Es gibt keine Regeln. Wer zuerst kommt, baut zuerst.

HTS-Sicherheitskräfte der Militärpolizei und des Innenministeriums beobachten das Geschehen. Die Militärpolizei trägt khakifarbene Uniformen, die Kräfte des Innenministeriums sind schwarz gekleidet. Nicht alle sind bewaffnet, meist bewegen sie sich in Vierergruppen und haben ihre Gesichter vermummt. 

 
HTS Militärpolizei auf dem Qassioun, dem Hausberg von Damaskus (Foto Karin Leukefeld)

Plötzlich gibt es Bewegung unter den Menschen. Einige der Sicherheitskräfte rennen zu einem großen Bagger, der angefangen hat, Erdreich auszuheben. Vermutlich will jemand an der Stelle ein Gebäude errichten, doch die HTS-Kräfte unterbinden das. Einige Männer, deren Herkunft unklar ist, kommen mit Hacken und Schaufeln und zerstören die frisch gebauten Plattformen und Mauern. Die Mehrheit der Leute sieht dem Geschehen teilnahmslos zu, einige unterstützen das Vorgehen der Sicherheitskräfte. „Richtig so“, sagt ein Mann. „Dieses wilde Bauen muss sofort gestoppt werden.“

Die Rückfahrt führt um den Gipfel des Qassioun hinunter zur Stadt. Die Militärbasis der syrischen Streitkräfte liegt verlassen. Die Autorin wirft einen Blick auf das Handy, um zu prüfen, ob Nachrichten eingegangen sind. Der syrische Anbieter MTN ist verschwunden, stattdessen gibt es einen neuen, unbekannten Anbieter namens „Cellcom“. Das SMS Signal kündigt eine neue Nachricht an. Darin weist der deutsche Vertragspartner darauf hin, dass man in einem neuen Land angekommen sei. „Willkommen in Israel“, steht in der Nachricht. „Um Daten nutzen zu können (z.B. Internet oder E-Mail), benötigst Du eines der folgenden Angebote ….“. Mitten in Syrien, mitten in Damaskus ist ein israelischer Mobilfunkanbieter aktiv. Hurriya, Freiheit, jubeln die Massen. Die Freiheit des Landes, die Souveränität Syriens, ist schon verkauft.

Siehe zum gleichen Thema auch «Imperiale Hybris» von Alastair Crooke.