Kinder, Kinder, Kinder. Sie haben ihre eigenen Spiele, die noch nichts mit Politik zu tun haben. (Symbolbild)

Entführte ukrainische Kinder in Russland

(Red.) Viele Russen und Russinnen wissen sehr wohl, was im Westen über Russland gesagt wird. Und viele kennen also den Vorwurf der Kindsentführung. Es ist deshalb auch in Russland ein Gesprächsthema. Der Herausgeber von Globalbridge.ch, Christian Müller, der schon im Jahr 1986 erstmals in Russland war, dort persönliche Freunde hat und zum Beispiel auch selber mehr als einmal auf der Krim war, sieht sich veranlasst, ausnahmsweise unten an Stefano di Lorenzos Beitrag eine persönliche Bemerkung anzubringen. (cm)

In einer Rede vor dem UN-Sicherheitsrat sagte kürzlich die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock, indem sie sich an den (abwesenden) Botschafter der Russischen Föderation wandte: „Der stärkste Mann Ihres Landes kann sich hinter den von ihm entführten Mädchen verstecken“. Bei diesen Worten, die wie ein starker Vorwurf wirkten, nahm das Gesicht der deutschen Diplomatin einen Ausdruck wütender Empörung an, sie rümpfte die Nase demonstrativ. Es war ein Ausdruck, den in der Regel nur diejenigen annehmen können, die von ihrer moralischen Überlegenheit vollkommen überzeugt sind. Der russische Präsident, der als starker Mann gelten möchte, sei in Wirklichkeit gar keiner, denn er würde sich hinter jungen Mädchen verstecken. Das ist sicherlich ein starkes Bild. Ein solches Bild muss dem Konzept des absolut Bösen in der Vorstellung einer Politikerin, die sich zur Verfechterin einer „feministischen Außenpolitik“ machen wollte, vielleicht am nächsten kommen.

Annalena Baerbock sind solche Ausbrüche in ziemlich undiplomatischem Stil nicht fremd. Einige schätzen sie dafür. Andere nicht besonders. In Russland gilt Baerbock als eines der Beispiele für ein exhibitionistisches Moralisieren, für eine rechthaberische und heuchlerische Haltung, die die Russen für das Europa von heute typisch finden. In Deutschland behaupten die Verteidiger der deutschen Außenministerin, dass sie übermäßig kritisiert werde, nur weil sie eine Frau sei und als Frau diskriminiert werde. Heutzutage gibt es natürlich nichts moralisch Verwerflicheres als die Diskriminierung von Frauen, insbesondere von sehr erfolgreichen Frauen wie im Falle der deutschen Politikerin. Baerbock sei deshalb das Opfer einer Desinformationskampagne Russlands. Und natürlich kann eine Desinformationskampagne, vor allem wenn sie aus Russland kommt, nur bösartig, verlogen und ungerecht sein.

Die Anschuldigung gegen Russland, „Kinder zu entführen“, gehört zu den stärksten, die je gegen das Land erhoben wurden. Gibt es ein schlimmeres Verbrechen als die Entführung von Kindern? Ein Land, das Kinder entführt, kann nur die Verkörperung des Bösen sein. Die Ukraine schätzt, dass fast 20.000 Minderjährige „gewaltsam“ aus den von Russland kontrollierten Gebieten weiter ins Innere des Landes gebracht worden sind. Einige Kinder hätten sogar die russische Staatsbürgerschaft erhalten und seien von russischen Familien adoptiert worden. Die Verfahren für ihre Wiedereingliederung bei ihren Eltern sollen behindert worden sein. In anderen Berichten ist von sogar noch höheren Zahlen von Kindern die Rede.

Aufgrund dieser Anschuldigungen erließ der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag Haftbefehle gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und Maria Lwowa-Belowa, die Beauftragte des Präsidenten für die Rechte der Kinder in Russland. Den Anklägern zufolge würden die Kinder dann einem Prozess der Umerziehung und Zwangsrussifizierung unterzogen, der unter Umständen sogar als Ethnozid eingestuft werden könnte. So titelte beispielsweise die amerikanische Nachrichtenagentur Associated Press in einem Artikel: „Wie Moskau ukrainische Kinder stiehlt und sie zu Russen macht“. Wenn die Russen sagen, sie wollten einfach die Zivilbevölkerung evakuieren, sei das selbstverständlich eine Lüge. Die Russen seien auf keinen Fall daran interessiert, die Zivilbevölkerung aus Kriegsgebieten in Sicherheit zu bringen, sondern hätten nur die böse Absicht, aus kleinen Ukrainern Russen zu machen und sie einer Art Gehirnwäsche zu unterziehen.

Sind diese Anschuldigungen begründet?

In den letzten zwei Jahren wurde natürlich viel über dieses Thema gesprochen. Die Vorwürfe werden von den „Qualitätsmedien“ wie der ZEIT, der BBC, der Associated Press und vielen anderen unkritisch wiederholt. Die Berichterstattung in Kriegszeiten ist aber bedauerlicherweise immer ein wenig zu einseitig. Auch die „freien“ und nichtstaatlichen Medien spielen in einem Krieg eine wichtige Rolle. In dieser Hinsicht ist die These, die die amerikanischen Wissenschaftler Noam Chomsky und Edward S. Herman in ihrem 1988 erstmals erschienenen Buch „Manufacturing Consent: The Political Economy of the Mass Media“ vertreten, berühmt. 

Während eines Krieges besteht die Aufgabe der großen Medien darin, den Wählern den Krieg zu „verkaufen“. Ein zu großer Teil der Wählerschaft wolle einfach nur ein bequemes Leben führen und sei daher auch gegenüber „gerechten Kriegen“, wie es der Krieg in der Ukraine zweifellos sei, eher abgeneigt. Für welche Sache könnte man besser kämpfen als für entführte Kinder? Was für ein Unmensch müsste man sein, um die Entführung von Kindern zu rechtfertigen? 

Doch bei näherer Betrachtung erweist sich auch die Frage der von Russland „entführten Kinder“ als weitaus komplizierter, als es zunächst scheint.

Zunächst einmal ist festzustellen, dass die vom Krieg in der Ukraine betroffenen Gebiete im Süden und Osten des Landes zu den am dichtesten besiedelten Gebieten des Landes gehören. Charkiw, Donezk, Dnipro, Saporischschja, hier wird jetzt täglich geschossen, in den Stadtgebieten jeder dieser Städte wohnen mehr als eine Million Menschen. 20.000 Kinder unter mehreren Millionen Menschen: Über ein Ethnozid zu sprechen, scheint doch etwas übertrieben. Russland seinerseits behauptet, dass die Kinder aus Sorge um ihre Sicherheit aus dem Kriegsgebiet evakuiert wurden und dass die Kinder von ihren ukrainischen Eltern oder Erziehungsberechtigten persönlich mit den entsprechenden Unterlagen zurückbekommen werden können. 

Auch bei den Zahlen gibt es selbstverständlich Streit: Während die Ukraine von etwa 20.000 Kindern spricht, sagt Russland, dass sich höchstens 600 ukrainische Minderjährige in der Obhut des russischen Staates befinden. 

Bereits im Jahr 2023 hatte die Frage der ukrainischen Kinder in Russland die Aufmerksamkeit vieler, auch eines potenziellen Wohltäters, auf sich gezogen. Dieser Wohltäter hat leider in Deutschland und im Rest-Europa — man erinnere sich an die Polemik um die WM 2022 — nicht gerade einen guten Ruf, wenn es um Menschenrechte und humanitäre Hilfe geht: denn er heißt Katar. Aber die Kataris haben zumindest etwas Konkretes versucht (im Gegensatz zu Europa), um den ukrainischen Kindern zu helfen. Das Emirat hatte damals Millionen von Dollar und diplomatische Unterstützung versprochen, um ukrainische Kinder mit ihren Eltern und Erziehungsberechtigten wieder zusammenzuführen. Ein Jahr später ist es Katar gelungen, rund 70 Kinder mit ihren Familien wieder zu vereinigen. Der ukrainische Präsident Zelensky dankte Katar für sein Engagement. 

Aber genau hier wird die Angelegenheit kompliziert. Katar stieß auf zahlreiche Schwierigkeiten, aber nicht von der Art, die man sich hätte vorstellen können. Es ging nicht nur darum, dass Russland die Kinder gestohlen hatte und sie nicht zurückgeben wollte. Erstens waren die meisten der Kinder, die zum Beispiel in Russland landeten, Waisen. Oder Kinder, die von armen Eltern vor Kriegsbeginn in Heimen untergebracht worden waren. Aus bürokratischer Sicht sei Russland nicht bereit gewesen, ein Kind ohne ordnungsgemäße Papiere zurückzuschicken, nur weil jemand in der Ukraine Anspruch auf ein bestimmtes Kind erhob. Es sind auch Fälle bekannt, in denen Adoptiveltern in der Ukraine das Sorgerecht für ihre adoptierten Kinder nicht zurückhaben wollten.

Die meisten der Kinder, die in Russland gelandet sind, lebten also in Waisenhäusern, als der Krieg im Februar 2022 ausbrach. In ukrainischen Waisenhäusern gibt es auch Kinder, die einen lebenden Elternteil haben. In der Regel handelt es sich dabei um Kinder, die von Eltern in finanzieller Notlage in Waisenhäusern untergebracht wurden, oft in der Hoffnung, dass sie ihre Kinder irgendwann zurück haben können.

Seit Beginn des Krieges sind Millionen von ukrainischen Flüchtlingen über Russland in die EU-Länder gereist, ganze Familien mit Frauen, Kindern und älteren Menschen. Viele von diesen Ukrainern hegten nach dem Einmarsch der Russen keine Gefühle der Liebe zu ihrem Nachbarland. Trotzdem reisten Millionen von Ukrainern in relativer Sicherheit über Russland nach anderen Ländern weiter. Die Kontrollen an den Grenzen konnten manchmal Stunden dauern, aber es gab keine Massenverhaftungen oder Repressionen. Bei den unbegleiteten Minderjährigen war es aber in vielen Fällen unmöglich zu wissen, welche Kinder noch Eltern oder Familienangehörige in der Ukraine oder auch woanders hatten, die an der Rückkehr der Kinder interessiert sein konnten. 

Das Thema „von-Putin-entführte-junge-Mädchen“ ist also viel komplexer, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Hatte sich die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock gründlich mit diesem Thema befasst, bevor sie ihre wütende Anschuldigung voller Empörung vorbrachte? Es gibt Gründe, daran zu zweifeln. Und wahrscheinlich war es auch nicht nötig, die Angelegenheit gründlich zu untersuchen. Das „Framing“ des „von-Putin-entführte-junge-Mädchen“ ist rhetorisch zu stark, um es zugunsten nüchterner Bilder beiseite zu schieben. Es wäre töricht, auf ein moralisches Argument von solcher Kraft zu verzichten. 

Schließlich herrscht heute zwischen Russland und dem Westen ein Klima des Krieges, das vielleicht schlimmer ist als zu Zeiten des Kalten Krieges. Und die kalte Argumentation langweiliger Fakten hat noch niemandem geholfen, die moralische und emotionale Empörung zu erzeugen, die nötig ist, um so viele Menschen davon zu überzeugen, sich auf die Seite der „Guten“ gegen die „Bösen“ zu stellen. Man braucht Emotionen, man braucht inspirierende Bilder, man braucht eine einfache und effektive Rhetorik, man braucht eine klare moralische Botschaft. Und es ist nicht wirklich relevant, ob das Fundament dieser anklagenden Botschaft richtig oder ein wenig wackelig ist. Schließlich würde es niemand wagen, eine solche Botschaft in Frage zu stellen. Es sei denn, man würde sich als Vertreter des Bösen ausgeben. Es ist jedoch bedauerlich, dass einige es zu diesem Zweck für notwendig und angemessen halten, das Leben von Kindern zu instrumentalisieren. 

Anmerkung von Christian Müller: Das Thema Adoption von Kindern ohne die Zustimmung ihrer leiblichen Eltern ist kein spezifisches Russland-Thema. Gerade jetzt hat zum Beispiel eine Untersuchungskommission festgestellt, dass auch in der Schweiz in den letzten Jahren noch Dutzende von Kindern aus Indien zur Adoption freigegeben wurden, ohne dass geprüft wurde, ob die leiblichen Eltern ihre Kinder wirklich freiwillig weggegeben haben. Es geht dabei nicht selten auch um einen profitablen Menschenhandel der Vermittler. Dass ausgerechnet Russland in diesem Punkt besonders rücksichtslos sein soll, wie vor allem die Ukraine und nun eben auch die deutsche Außenministerin Annalena Baebock behauptet, ist abwegig. In Russland hat die Familie einen noch deutlich höheren Stellenwert als in vielen westlichen Ländern, weshalb ja auch die LGBTQ+-Bewegung dort nicht so willkommen ist. Und dass ausgerechnet aus der Ukraine in diesem Punkt Vorwürfe an Russland gerichtet werden, ist eh unangebracht, ist doch die Ukraine selbst eine Hochburg des Leihmutter-Geschäfts. Die daraus entstandenen Kinder für verheiratete schwule Männer, die dann statt Vater und Mutter eben zwei Mütter und zwei Väter haben, sie müssen ja dann vom zweiten Vater in den meisten Ländern auch noch adoptiert werden. Wie glücklich diese Kinder in dieser Konstellation dann aufwachsen, bleibe dahingestellt.