
Eine neue Weltordnung nach dem SCO-Gipfeltreffen?
(Red.) Hat der Westen eigentlich begriffen, was das Gipfel-Treffen in Tianjin in China bedeutet? Was heißt es, wenn China, Indien und Russland am gleichen Tisch sitzen? Stefano di Lorenzo, unser Korrespondent in Russland, hat sich dazu Gedanken gemacht. (cm)
Als im Spätsommer die Aufmerksamkeit Europas weiterhin auf die Dramen in Washington, Brüssel und Kiew gerichtet war, wurde in Tianjin eine andere Bühne aufgebaut. Dort veranstaltete China unter dem vergoldeten Banner der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) das, wie es selbst sagte, „größte Gipfeltreffen aller Zeiten“ des eurasischen Blocks. Für westliche Ohren klang die SCO lange Zeit wie Hintergrundgeräusche, ein halbwegs bekanntes Akronym, das mit BRICS und anderen Organisationen in einen Topf geworfen wurde. Doch in Tianjin versuchten die führenden Mitglieder des Blocks — China, Russland und Indien — etwas Ehrgeiziges: die Umrisse einer neuen Weltordnung zu skizzieren, die weder in Englisch verfasst noch von der NATO durchgesetzt wird.
Jahrzehntelang schien das von den USA geführte System dauerhaft, ja sogar selbstverständlich zu sein. Es präsentierte sich nicht nur als Macht, sondern auch als Gesetz und Moral. Die Vorstellung, dass das „Ende der Geschichte“ durch den liberalen Kapitalismus bereits erreicht worden sei, wurde zum Allgemeinwissen. Aber um sich nach einem Ende der Geschichte zu sehnen, muss man entweder überzeugter Christ oder Marxist sein. Für die anderen geht die Geschichte weiter, auch für das kommunistische China. Der Gipfel in Tianjin war einer jener Momente, in denen sich die tektonischen Platten der Weltpolitik verschoben haben — subtil, aber nicht weniger entscheidend.
In den letzten Jahren gab es zahlreiche Ankündigungen, dass sich der Schwerpunkt der Welt vom westlich geprägten Weltordnungssystem nach Osten verlagern würde. Für die meisten Europäer und Amerikaner ist dies nach wie vor schwer zu begreifen: Die von den USA angeführte Weltordnung schien eine Selbstverständlichkeit zu sein, nicht nur offensichtlich, sondern auch gerecht und moralisch. Aber die Welt verändert sich wesentlich schneller als die Vorstellungen, die Menschen von ihr haben.
China: Vom Sicherheitsclub zum Institutionenbildner
Von der Eröffnungssitzung an hatte China das Sagen. Der chinesische Staatschef Xi Jinping sprach nicht von der SCO als einem losen Gesprächskreis oder einem Club zur Terrorismusbekämpfung, sondern als einer aufstrebenden Säule der globalen Governance. Seine Rhetorik war weitreichend: Frieden, Entwicklung, Sicherheit, digitale Infrastruktur. Peking griff seine Idee einer eigenen SCO-Entwicklungsbank wieder auf und signalisierte damit, dass es nun an der Zeit sei, nicht nur Erklärungen abzugeben, sondern auch Geld auf den Tisch zu legen. Was aber noch wichtiger ist: Im Osten spricht man heute von Frieden, im Westen fast nur noch vom Krieg. Was soll als Entwicklungsszenario für die Menschheit attraktiver wirken?
Für China war die SCO ein Mittel, um zu beweisen, dass regionale Organisationen globale Leistungen liefern können. Wenn die Weltbank und der IWF einst als Instrumente einer von den USA geführten Ordnung angesehen wurden, möchte Peking, dass der künftige Finanzarm der SCO als eurasisches Gegenstück dazu fungiert. Dabei geht es nicht nur um Kredite und Korridore, sondern um die Institutionalisierung von Macht.
Russland: Selbstbewusstsein in schwierigen Zeiten
Während Peking die Rolle des Architekten spielte, wollte Moskau vor allem Diplomatie führen. Wladimir Putins Terminkalender in China war voll mit bilateralen Treffen — Indien, Türkei, Iran, Vietnam, Nepal. Die russische Berichterstattung konzentrierte sich auf Händeschütteln, kulturelle Einladungen und die Symbolik von Nebenveranstaltungen. Die Botschaft war bewusst gewählt: Russland ist trotz Sanktionen nicht isoliert.
Putins Sprache in Tianjin kehrte zu den bekannten Themen einer „gerechteren Weltordnung“ und „Multipolarität“ zurück. Aber es gab auch einen taktischen Aspekt. Durch die Einbindung in die Prozesse der SCO zeigte Russland, dass seine Partnerschaften nicht auf einen schrumpfenden Kreis von Verbündeten beschränkt sind, sondern in ein expandierendes eurasisches Gefüge eingebunden sind.
Indien: Der Balanceakt
Indiens Rolle war subtiler, aber nicht weniger wichtig. Premierminister Narendra Modi kam mit seiner bekannten Dreierkombination von Prioritäten: Sicherheit, Konnektivität, Chancen. In seiner Rede ging er scharf auf den Terrorismus ein — „entschlossenes und entschiedenes Handeln” war der Ausdruck, der nachhallte — und spiegelte damit Indiens langjährige Anschuldigung wider, dass staatlich geförderter Militarismus die Region destabilisiert. Gleichzeitig sprach Modi über wirtschaftliche Verbindungen, formulierte diese jedoch im Hinblick auf Transparenz und Nachhaltigkeit.
Hinter den offiziellen Formulierungen stachen zwei bilaterale Treffen hervor. Mit Xi einigte sich Modi auf neue Vereinbarungen zum Grenzmanagement – eine Grundlage für die Verbesserung einer Beziehung, die durch Auseinandersetzungen und Misstrauen erschüttert war. Mit Putin signalisierte er, dass die Beziehungen in den Bereichen Energie und Verteidigung trotz des Drucks der USA und Europas stabil bleiben. Die Optik – herzliche Händeschütteln, zurückhaltende Verlautbarungen – sprach für sich: Indien wird sich von niemandem in ein Lager drängen lassen. Es will die Regeln in Eurasien nach seinen eigenen Vorstellungen gestalten.
SCO-Plus: Der Raum erweitert sich
Wenn Tianjin anders wirkte, dann nicht nur wegen der Reden. In diesem Jahr öffnete die SCO ihre Türen weiter und nahm nicht nur Mitglieder, sondern auch Partnerorganisationen auf: die GUS (die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten aus der ehemaligen UdSSR), die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS, das russische Pendant zur NATO) und die Asiatische Infrastruktur-Investitionsbank. Der Begriff „SCO-Plus“ mag wie diplomatischer Fachjargon klingen, aber seine Auswirkungen sind gravierend. UN-Generalsekretär António Guterres war auch anwesend. Dadurch wurde die SCO von einem regionalen Block zu einem Treffpunkt, einem Knotenpunkt, um den mehrere Institutionen kreisen.
Für Peking ist dies ein Beweis dafür, dass Governance vielschichtig und vernetzt sein kann und nicht von einer einzigen Hegemonialmacht diktiert wird. Für Moskau zeigt es, dass es genügend eurasische Foren gibt, um die Zusammenarbeit auch unter Sanktionen aufrechtzuerhalten. Für Neu-Delhi schafft es neue Arenen, um die praktische Zusammenarbeit voranzutreiben, ohne in einem chinazentrierten System gefangen zu sein.
Von der Choreografie zu konkreten Ergebnissen
Kritiker tun Gipfeltreffen oft als Theater ab. Tianjin hatte seinen Anteil an Symbolik – Spaziergänge, Nebenveranstaltungen, choreografierte Fototermine –, aber es brachte auch konkrete Vorschläge hervor. Zwei neue Zentren, eines für Drogenbekämpfung und eines für grenzüberschreitende Bedrohungen, werden zeigen, ob die Sicherheitszusammenarbeit der SCO von Slogans zu konkreten Maßnahmen übergehen kann. Der Vorschlag zur Gründung einer Entwicklungsbank wird, wenn er umgesetzt wird, zeigen, ob der Block glaubwürdig Kapital mobilisieren kann oder ob er bei Pilotprojekten stecken bleibt.
Jede Macht hat ihre eigenen Maßstäbe für Erfolg. Für China ging es darum, ob die SCO sichtbare öffentliche Leistungen liefert. Für Russland ging es darum, ob sie eine echte wirtschaftliche Zusammenarbeit verankert, die vor westlichem Druck geschützt ist. Für Indien ging es darum, ob es seine Prioritäten im Bereich der Terrorismusbekämpfung mit nachhaltiger Konnektivität in Einklang bringen kann, ohne seine Autonomie aufzugeben.
Geopolitik: Eine Arbeitsteilung entsteht
Was Tianjin offenbart hat, ist weniger ein monolithischer Block als vielmehr eine Choreografie der Rollen. China bringt institutionelles Gewicht und Einberufungsmacht mit, Russland liefert das politische Theater und die Sprache der europäischen Zivilisation, Indien bringt pragmatische Beziehungen zu unterschiedlichen geopolitischen Akteuren ein. Es gibt viele Widersprüche innerhalb der SCO — die Rivalität zwischen China und Indien, die Präsenz Pakistans, divergierende Wirtschaftsmodelle —, aber die SCO will Wege finden, um Bedeutung zu erlangen.
Der allgemeine Wandel ist unbestreitbar: Die SCO wandelt sich von einem sicherheitsorientierten Club zu einer potenziellen Institution. Sie ist Teil eines größeren eurasischen Mosaiks, zu dem auch die BRICS-Staaten und die Eurasische Wirtschaftsunion gehören. Zusammen deuten sie auf eine Welt hin, in der die globale Governance nicht mehr von euro-atlantischen Gremien monopolisiert wird, sondern auf mehrere regionale Pole verteilt ist. (Auszeichnung durch die Redaktion)
Die wahre Bewährungsprobe wird nicht in den Plenarsälen von Tianjin stattfinden, sondern in den kommenden Jahren. Kann eine SCO-Bank mit glaubwürdigen Sicherheitsvorkehrungen gegründet werden, die Schuldenfallen vermeidet? Können Indien und China ihre Grenzkonflikte so weit bewältigen, dass sie in anderen Bereichen zusammenarbeiten können? Können die Sicherheitszentren tatsächlich den Drogenfluss eindämmen?
Bislang hat die SCO nur einen Entwurf für eine alternative Ordnung vorgelegt. Doch Entwürfe sind wichtig. Sie prägen Erwartungen, schaffen Institutionen und normalisieren neue Sprachen der Macht.In Tianjin konnte man die stille Überzeugung der Teilnehmer spüren: Die Geschichte ist nicht zu Ende, und der Osten wartet nicht darauf, dass der Westen seinen Aufstieg anerkennt. Ob dies zu einer kohärenten „neuen Weltordnung” oder lediglich zu einer weiteren Ebene globaler Komplexität führt, bleibt ungewiss.
(Red.) Siehe dazu auch «Nukleare Abschreckung als Basisfür eine strategische Stabilität genügt nicht mehr» von Dmitri Trenin.